Juli 2012: Theodor Fontane: L’Adultera

  • Wenn ich kurz darf:


    Frage: Ist es für den Leser wichtig in welche Schublade ein Werk gesteckt wird?


    Im Grunde genommen natürlich nicht. (Obwohl mir der Ich-lese-keine-Kurzgeschichten-Leser immer mal wieder übern Weg läuft. Und selbst gestandene Kritiker der Schublade "Genre" nicht widerstehen können und so Blödsinn formulieren wie "Fantasy ist keine richtige Literatur!")


    Im vorliegenden Fall wäre allenfalls für den Leser interessant, was Fontane zu einer aktiven oder passiven Umetikettierung veranlasst haben könnte.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Im vorliegenden Fall wäre allenfalls für den Leser interessant, was Fontane zu einer aktiven oder passiven Umetikettierung veranlasst haben könnte.


    Darüber lässt sich mangels gesicherter Quellenlage allerdings nur spekulieren. Zunächst ist gar nicht sicher ob die Bezeichnung Novelle bei der Erstauflage von Fontane war, möglicherweise hat das der Verleger so benannt, der hatte sogar gegen den Willen von Fontane den Titel eigenmächtig vorgegeben. Sicher ist m.M. nach, dass Fontane bei der Zweitauflage im Verlag seines Sohnes die Umbenennung in Roman veranlasst hat. Viele Gründe kann es dafür geben: z.B. Fontane wollte als Romancier und nicht als Novellist in die Literaturgeschichte eingehen? Meine eigene Vermutung habe ich weiter oben schon formuliert. Welche der beiden Theorien wäre für dich eher wahrscheinlich? Oder hast du eine eigene dritte Theorie?


    Gruß
    montaigne

  • Um ehrlich zu sein, vermute ich grosszügige Nachlässigkeit des Autors gegenüber Gattungsbestimmungen. Und vielleicht der Wunsch, dem relativ engen Korsett der Novelle mit ihrem Falken zu entrinnen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Frage: Ist es für den Leser wichtig in welche Schublade ein Werk gesteckt wird?


    Für mich zumindest nicht.
    Ich habe mich nie um so Schubladen gekümmert. Wenn mir ein Buch gefällt, ist es mir vollkommen egal ob da nun Roman, Novelle, Drama, Kurzgeschichte oder was anderes drauf steht.


    Katrin

  • Hallo, all,


    nachdem seit den letzten Beiträgen zu dieser Leserunde einige Zeit vergangen ist und "Stine" debattiert wird, möchte ich hier doch noch einmal etwas zu "L'Adultera" ansprechen.


    Das hat mir nach der Lektüre seinerzeit im nachhinein am meisten zu schaffen gemacht. Melanie verlässt auch ihre beiden Kinder.


    Hier ist ein Unterschied zu "Effi Briest" festzuhalten: Nachdem Instetten den einstigen Liebhaber Effis im Duell getötet und seine Frau verstoßen hatte, wird der Mutter auch noch die Tochter Annie weggenommen. Instetten glaubt so handeln zu müssen, obwohl sechs Jahre seit der Affäre vergangen waren. Er hätte auf die Maßnahmen verzichten können, denn sollte es einst einen Anflug von Gerede gegeben haben, so war es inzwischen längst verstummt.
    Die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter war eine Folge der Entscheidung Instettens. Das Leben Effis war gerade dadurch zerstört worden, und wenn auch Instetten sein Leben als zerstört ansah, so überlebte er doch und konnte sich auf seine alten Tage Rechtfertigungsargumente für sein Handeln zurechtlegen, wie es ihm beliebte, das wissen wir nicht.
    Er war der "Bösewicht" des Romans, seine Maßnahmen gegen Effi begründete er zwar mit seinen Rechten als "verletzter und beleidigter" Ehemann, doch konnten sie auch als Rache gedeutet werden.


    Aufgrund dieser Umstände, die die Unmenschlichkeit des adligen Ehrbegriffs vor Augen führten, wurde der Roman auch zur Schullektüre in der DDR (Kritik der scheinbar überwundenen "Ausbeutergesellschaft"). Dass die Lektüre bei vielen Schülern nicht die von den Deutschlehrern erwünschten Antworten hervorrief und der Roman manche auch überforderte (weil es sich um eine vergangene, fremde Welt handelte) oder langweilte, wäre ein eigenes Thema.



    Aber bei "L'Adultera" liegen die Dinge doch anders. Melanie fasst einen Entschluss, wenn er ihr auch sehr schwergefallen sein mochte, und verlässt von selbst sowohl den Mann als auch die beiden Kinder. Es war nicht klar, für welche Zeit, es konnte für immer sein. Dabei hatte sie keine Garantie, dass ihre Liebe zu Rubehn ewig währen würde. "Ruben, mein Einziger, soll ich auch dich verlieren?" (Einundzwanzigstes Kapitel).
    Die Kinder wurden ihr ebenfalls mit Dauer der Abwesenheit entfremdet.
    Hier wurde in der Diskussion bemerkt, dass zu jener Zeit andere Maßstäbe galten und bei einer Trennung vom Ehemann auch der Abschied der Mutter von den Kindern vorgesehen war.


    Hier wurde mit Ibsens "Nora" verglichen, die zeitlich (1879) nahe zu der Entstehung der "L'Adultera" anzusetzen ist.
    Ich musste noch an ein anderes Stück denken, das 1789 unter großer Anteilnahme des Berliner Publikums gleichzeitig mit Schillers "Don Carlos" am Königlichen Theater aufgeführt wurde: Kotzebues Rührstück "Menschenhaß und Reue". Da wurde im Publikum geschluchzt.
    Die Baronin Meinau war ähnlich früh wie Effi Briest, mit fünfzehn Jahren, verheiratet worden, alle entscheidenden Figuren der Handlung sind adlig.. Ein Verführer tritt auf, sie verläßt ihren Mann und ihre beiden Kinder (ob vielleicht Fontane auch daran gedacht hat? man weiß es nicht). Der verlassene Ehemann wird von "Menschenhaß" erfasst und zieht sich als Einsiedler zurück, die "Ehebrecherin" empfindet tiefe "Reue" und alles wird in dieser "Komödie" gut. Gerade der Anblick der beiden Kinder trägt dazu bei, dass sich die Eheleute wiederfinden und verzeihen.


    Drei literarische und dramatische Werke: Eines endet mit einem tragischen Schluss, bei dem anderen wird das harmoniebedürftige Publikum wenige Wochen vor dem Sturm auf die Bastille mit einem Happy End belohnt (während in dem zur gleichen Zeit aufgeführten Stück Schillers der Sohn des düsteren Königs zugrunde ging).


    "L'Adultera" endet versöhnlich, aber nicht jeder Leser legt es versöhnt wieder aus der Hand. Er kann zufrieden sein, dass wenigstens Rubehn treu geblieben war. Wie sich das Verhältnis Melanies zu ihren Töchtern in Zukunft gestalten würde, die auf jeden Fall traumatisiert waren, weiß man nicht.