März 2012 Fjodor Dostojewski - Die Dämonen

  • Dann eröffne ich mal diesen Thread, damit es losgehen kann. Ich hoffe, wir haben eine schöne gemeinsame Lesezeit mit Dostojewski. :winken:


    Ich werde hauptsächlich die kindle Gold Collektion übersetzt von Hermann Röhl lesen. Ansonsten habe ich noch als Buch die Übersetzung von Nora Urban vor mir liegen, diese ist allerdings ziemlich klein gedruckt.

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()

  • Hallo,


    als ich mir gestern den Roman bereitlegte, sah ich mit Überraschung, dass meine Erstlektüre 1981 stattfand, also mehr als 30 ! Jahre her ist. Kommt mir gar nicht so lange vor ... :zwinker:
    Ich lese eine preiswerte Parkland-Ausgabe aus meiner Studienzeit mit der Übersetzung von Marianne Kegel.


    Die ersten 20 Seiten lasen sich so runter, Dostojevskij schafft es, die notwendigen Informationen und Personencharakterisierung von Anfang an spannend zu gestalten. Stepan Trofimowitsch ist ein schillernder Charakter, der das Scheitern seiner gesellschaftskonformen Karriere mit angeblich subversiven Tätigkeiten erklärt, die aber sehr vage bleiben.
    Auch Warvara Stravogina hat schon innerhalb dieser ersten Seiten ein deutliches Bild abgegeben und passt sehr gut als Kontrapunkt zu Stepan Trovimowitsch.
    Nun muss ich erstmal einige Namen nachschlagen, um den kulturhistorischen Hintergrund zu verstehen.


    finsbury

  • Auch von mir ein "Hallo" an die Runde!


    Meine letzten Dostojewski-Leseerfahrungen liegen ebenfalls 30 Jahre zurück. Damals, mit Anfang 20, habe ich in seinen Romanen (wie z.B. auch in denen Hermann Hesses) Lebenshilfe und -weisheit gesucht. Seitdem habe ich ihm gegenüber Vorurteile gehegt. Auch jetzt lese ich hier vor allem aus 2 Gründen mit: 1. Aus Lust auf die Leserunde und 2. aus Interesse an der Übersetzerin Swetlana Geier. Damit ist auch die Frage beantwortet, welche Ausgabe ich benutze.


    Ich bin jetzt am Anfang des 2. Kapitels. Stepan Trofimowitsch und sein Zögling Nikolaj bilden ein schönes Gegensatzpaar. Stepan fühlt sich mehr verfolgt, als dass er es tatsächlich ist und gefällt sich in dieser Pose. Nikolaj kommt daher als Bürgerschreck und als "Raubtier" mit Krallen. Stepan dagegen, um in diesem Bild zu bleiben, spielt mehr den intellektuellen "Salonlöwen", dessen aufregende Jahre im Ausland lange zurückliegen . Ich finde die Personenschilderung sehr anschaulich, auch die von Nebenpersonen, wie Liputin oder Schatow. Das weckt Vorfreude auf die weitere Entwicklung.
    Überhaupt kam für mich das 1. Kapitel erst so richtig in Fahrt, nachdem diese Nebenfiguren eingeführt wurden und die ersten Dialoge sich entspannen.


    Noch nicht klar ist mir, wer der Ich-Erzähler ist. Als handelnde Person kommt er ja kaum vor, sondern eher als eine Art Chronist mit engen Beziehungen zu den handelnden Personen.


    Gruß
    Klaus

  • Hallo,


    bin nun bis II, 7 gekommen. Inzwischen ist auch die Söhne-Generation in Gestalt Nikolaj Stawrogins vor Ort eingetroffen und hat zunächst einmal durch rätselhaftes, neckischese und verletztendes Verhalten auf sich aufmerksam gemacht.
    Der Ich-Erzähler bleibt, wie du schon schreibst, klaus, zunächst ein Rätsel: Er gehört zum Umkreis von Stepan Trofimovitsch, hat sich bisher aber noch nicht vorgestellt. Die Erzählperspektive wird auch mehrfach durchbrochen, indem auktorial von Ereignissen berichtet wird, bei denen nicht deutlich wird, wie der Ich-Erzähler an die Informationen gelangen konnte.
    Ich erfreue mich nach den oben genannten Jahren daran, wie witzig Dostojevskij sein kann. Mit seinem Allslawentum und seiner religiösen Ausrichtung muss man heute nicht mehr was am Hut haben, aber seine Personenzeichnungen, seine Ironie und die Art, wie er Gespräche darstellt, haben mich schon damals begeistert und tun es heute noch.
    Übrigens fahnde ich immer noch nach dem mehrfach genannten "Fourier", dessen Schriften Stepan Trofimovitsch so begeistern, finde aber nur einen Mathematiker, allerdings aus dem "infektiösen" Zeitraum rund um die französische Revolution. Der hat aber nur irgendwelche wichtige Reihen und Wellen für die Mathematik und Physik? beschrieben. .... :rollen:


    finsbury


  • ... aber seine Personenzeichnungen, seine Ironie und die Art, wie er Gespräche darstellt, haben mich schon damals begeistert und tun es heute noch.


    Da ist was dran. Ich schließe nicht aus, dass ich meine Vorurteile am Ende revidiere.



    Übrigens fahnde ich immer noch nach dem mehrfach genannten "Fourier", dessen Schriften Stepan Trofimovitsch so begeistern, finde aber nur einen Mathematiker, allerdings aus dem "infektiösen" Zeitraum rund um die französische Revolution. Der hat aber nur irgendwelche wichtige Reihen und Wellen für die Mathematik und Physik? beschrieben. .... :rollen:


    Das ist Charles Fourier, ein früher Sozialist: http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Fourier


  • Das ist Charles Fourier, ein früher Sozialist: http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Fourier


    Danke für diesen Hinweis, Klaus. Komisch, dass dieser Philosoph mir bei meiner Google-Suche nicht aufgefallen ist.


    Nun habe ich die ersten hundert Seiten hinter mir und bin im dritten Kapitel angekommen.Noch immer nicht hat sich der Ich-Erzähler vorgestellt, obwohl er zu Ende von Kap. II und zu Beginn des darauffolgenden Kapitels oft im Vordergrund steht und selbst handelt und seine Gefühle schildert.
    Allerdings steht hinten in dem Personenverzeichnis meiner Ausgabe ein "Antón Lawréntjewitsch G-w., Staatsangestellter, sein (Stepan Trofimovitschs) Freund und Vertrauter" aufgeführt.
    In der Sekundärliteratur habe ich aber an einer Stelle von einem anonymen Erzähler gelesen ... . Nun, das wird sich sicher noch aufklären.
    Momentan stecke ich in der berühmt-berüchtigten Tirade gegen Turgenjev, der hier im Roman als Karmasinov
    auftritt.


    finsbury

  • Hallo!


    Dostojewski macht sich beinahe die ersten 5 Unterkapitel nur über Stepan Trofimovitsch und Warwara Stawrogina lustig, zumindest beschreibt er sie nicht gerade freundlich.



    Momentan stecke ich in der berühmt-berüchtigten Tirade gegen Turgenjev, der hier im Roman als Karmasinov
    auftritt.


    Jetzt würde mich mal interessieren: Wenn Turgenjev praktisch in der Rolle des Karmasinov steckt, befindet sich dann auch eine bestimmte Person in der des Trofimovitch, oder meint Dostojewski damit niemand bestimmten? Weiß das jemand?


  • Jetzt würde mich mal interessieren: Wenn Turgenjev praktisch in der Rolle des Karmasinov steckt, befindet sich dann auch eine bestimmte Person in der des Trofimovitch, oder meint Dostojewski damit niemand bestimmten? Weiß das jemand?


    Stepan Trofimowitsch hat ,glaube ich, keine 1:1 –Entsprechung in der Realität wie wohl der Roman auch kein Schlüsselroman ist. Es spiegelt aber die gesellschaftlichen Zustände der Zeit zwischen 1865 und 1875 ziemlich genau, vielleicht etwas satirisch überzeichnet, wider. Für Stepan werden wohl verschiedene Zeitgenossen und ,wie ich vermute, auch ein bisschen Dostojewskij selbst Pate gestanden haben.
    Wie finsbury bin ich erstaunt, wie witzig und ironisch Dostojewskij in diesem Roman ist. Die Beziehung zwischen Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch und dessen schriftstellerische und wissenschaftliche Bestrebungen bedenkt er mit geradezu ätzender Ironie. Das Versteckspiel mit dem Ich-Erzähler gefällt mir weniger. Ich bin ebenfalls im 3. Kapitel, er wurde bereits mehrmals Personen im Roman vorgestellt. Warum nicht dem Leser? Wir erfahren nur, dass er ein Vertrauter Stepan Trofimowitschs und jünger als dieser ist, und den Anfangs-und Endbuchstaben seines Nachnamens. Dabei ist der Ich-Erzähler mehr und mehr in die Handlung involviert und als Erzähler seltsam unhomogen. Während er zu Anfang mit quasi barocker Attitüde distanziert und souverän die Dinge vor dem Leser ausbreitet, nehmen wir ihn im Laufe der Erzählung immer mehr als Romanfigur wahr, die ähnlich nervös überdreht sich verhält wie die übrigen. Ich hoffe, wir werden noch über seine Identität aufgeklärt und das Im-Dunkeln-lassen ist kein „Trick“, um Spannung künstlich zu erzeugen und aufrecht zu erhalten.

  • Hallo,

    Stepan Trofimowitsch hat ,glaube ich, keine 1:1 –Entsprechung in der Realität wie wohl der Roman auch kein Schlüsselroman ist. Es spiegelt aber die gesellschaftlichen Zustände der Zeit zwischen 1865 und 1875 ziemlich genau, vielleicht etwas satirisch überzeichnet, wider. Für Stepan werden wohl verschiedene Zeitgenossen und ,wie ich vermute, auch ein bisschen Dostojewskij selbst Pate gestanden haben.


    Ich denke auch, dass Dostojevskij viel zu sehr an den Inhalten und der Bedeutung von Gesprächen und Handlungen interessiert war, um einen Schlüsselroman zu schreiben, wenn er auch für seinen Roman Anregungen aus der Realität erhielt.
    Dass er in Karmasinov Turgenjev ironisierte, ist bekannt. Die anderen Charaktere sind dagegen vielschichtiger angelegt. In Stepan Trofimovitsch findet sich D. meiner Meinung nach nicht wieder, erstens ist er als liberaler Westler das Gegenteil dessen, was der slavophile und zwangsgläubige D. in späteren Jahren vertritt, zweitens karikiert er ihn zu gnadenlos.
    Nach Janko Lavrin, der die romo-Bio zu D. schrieb, zeigen sich Züge von D. sowohl in Stawrogin selbst, da D. heimlich selbst an vielem zweifelt und bei Schátov, der sich später von den "Dämonen" distanziert und deshalb auch wohl ermordet wird.
    Ich bin inzwischen in III, 6: Einiges weitere Personal, Alexej Niljitsch, der Ingenieur, und der Falschmünzer Lebjadkin mit seiner Schwester werden in das Geschehen eingeführt. Die Spielarten des "Bösen" vor Ort werden langsam immer variantenreicher.
    Der schleimige Klatschonkel Líputin erhöht durch seine Indiskretionen die Schlagzahl der Entwicklung.


    finsbury

  • Hallo Zusammen.


    Ich habe gestern erst das erste Kapitel beendet, und obwohl es nüchtern, trocken vorgetragen wurde, gefiel es mir dennoch sehr gut. Dostojewski beginnt es langsam, und das tue ich dem Autor gleich. So wie ich das bis jetzt erkenne, symbolisieren die einzelnen Figuren im Roman eine bestimmte Denkrichtung, die dem Leser nun nahe gebracht werden. Dieser Stepan Trofimowitsch steht demnach dem Liberalismus gleich.


    So das ist meine bescheidene Ausbeute, da ich noch nicht weit vorgedrungen bin, aber ich wollte ein Lebenszeichen setzen :winken:


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich bin jetzt beim 5. Kapitel angekommen und ich merke schon, Anita, dass ich mich ein bißchen bremsen muß - was mir, ich muß es zugeben, schwer fällt.


    Ich bin beeindruckt von Dostojewskis sehr anschaulicher Figurenzeichnung. Nur ein paar Beispiele: Schatow, der immer wegrennt, wenn eine Situation ihn verlegen macht, der immer seinen Blick zum Boden richtet und von anderen als grundehrlich bezeichnet wird. Liputin ist ein Dummschwätzer und Intrigant, unterwürfig und hinterhältig. Kirillow, der Nihilist, der Liputins Geschwätz nicht ausstehen kann und selber in einem seltsamen Stakkato seine Gedanken ausbreitet.


    Dostojewski findet auch in den Dialogen für jede Figur einen eigenen Ton. Sehr schön fand ich z.B. die Szene mit Liputin, Kirillow und Stepan in den Kapiteln III,4-6. Seltsam auch wie es hier eigentlich nur um die Frage ging: ist Nikolaj nun verrückt oder nicht? Aber implizit und andeutungsweise kommt dann viel mehr zum Vorschein.


    Der Ich-Erzähler ist doch mehr in die Handlung involviert, als es für mich am Anfang schien. Aber es stimmt, dass er teilweise mehr schildert, als er wissen kann, z.B. die Szene vor der Kirche, mit der das 4. Kapitel endet und wo er nicht dabei war. So ganz nebenbei wird angedeutet, dass ihm die Szene wohl von Lisa erzählt wurde.


    Gruß
    Klaus

  • Hallo zusammen :winken:


    als ich mir gestern den Roman bereitlegte, sah ich mit Überraschung, dass meine Erstlektüre 1981 stattfand, also mehr als 30 ! Jahre her ist.


    Meine letzten Dostojewski-Leseerfahrungen liegen ebenfalls 30 Jahre zurück.


    "Böse Geister" habe ich vor 10 Jahren zum ersten Mal gelesen, damals schon in der Übersetzung von Swetlana Geier, freue mich aber über eine Wiederlektüre, da ich seit "Schuld und Sühne" ein begeisterter Dostojewskij-Fan bin. Momentan befinde ich mich gerade im dritten Kapitel.


    Die Erzählperspektive wird auch mehrfach durchbrochen, indem auktorial von Ereignissen berichtet wird, bei denen nicht deutlich wird, wie der Ich-Erzähler an die Informationen gelangen konnte.


    Das ist mir auch aufgefallen ... Dostojewskij scheint diesen 'Vorwurf' aber vorhergesehen zu haben und lässt den Erzähler recht schnippisch darauf antworten:


    Vielleicht wird man fragen: Wie konnte ich eine solch heikle Einzelheit in Erfahrung bringen? Und wenn ich gelegentlich Augenzeuge gewesen wäre?


    Nun, Augenzeuge wird er wohl nicht immer gewesen sein und ab und zu gibt er ja auch Einblick in die Gedanken der Figuren, womit er sein Wissen doch deutlich überschreitet. Aber Dostojewskij scheint es mit der Erzählperspektive nicht so genau zu nehmen. Jedenfalls erspart er sich solche Verrenkungen wie Emily Brontë in "Wuthering Heights", die es immer wieder so hinbiegt, dass die Erzählerin Nellie selbst bei den intimsten Geschehnissen immer in persona anwesend ist (Gruss an Klaus :winken:) Warum er nicht direkt einen auktorialen Erzähler gewählt hat, ist mir nicht klar. Vielleicht, weil "G-w" (wie er sich im Buch nennt) im Verlauf der Handlung noch eine wichtige Rolle spielen wird? Glaube zwar nicht, aber so genau habe ich es nicht mehr in Erinnerung.


    Ich halte Dostojewskij für einen grossen Humoristen, auch wenn Humor nicht gerade das Erste ist, was man mit ihm in Verbindung bringt. Seine Beschreibungen des "fünfzigjährigen Säuglings" Trofimowitsch und dessen Beziehung zu Warwara Petrowna finde ich jedenfalls köstlich. @ Theresa: Findest du wirklich, dass er sich über die beiden lustig macht? Überzeichnet sind die zwei Figuren schon, aber auf eine eher liebevoll mitfühlende und nicht abwertende Weise, wie ich finde.


    Freue mich schon aufs Weiterlesen ...


    Gruss


    riff-raff

  • Ich bin nun mit dem Ersten Teil durch und bin von dem abschließenden 5. Kapitel ganz hingerissen. Es erinnert mich an den Finalakt eines Theaterstücks oder einer Mozartoper, wo dann auch (fast) das ganze Personal konzentriert auftritt und ein Ereignis das andere jagt. Besonders eindrucksvoll fand ich den vermeintlichen Auftritt von Nikolaj Stawrogin, der sich dann (vorerst) als der von Stepans Sohn Pjotr erwies: zuerst hört man nur wieder irgendwelche Geräusche von Personen in Diele und Nebenzimmer. Dann nimmt Dostojewskij das Tempo raus und beschreibt den Ankommenden, bevor er ihn endlich zu erkennen gibt. Oder vorher der Auftritt des schwitzenden Lebjadkin. Zum Schluß jagt ein Höhepunkt den anderen ...


    Es gibt in diesem Kapitel sehr viel Erwähnenswertes: wie Warwara erstmal den Auftritt Lebjadkin ausbremst und ihn herumkommandiert wie ein Regisseur ("[...] und nehmen Sie dort Platz, auf jenem Stuhl") und dann doch nicht verhindern kann, dass er sein "Kakerlaken-Poem" vorträgt (da bringt sie nur noch ein verblüfftes "Wa-s-as?" zustande).


    Ich finde das macht den Eindruck als wäre man als Theaterzuschauer dabei, aber direkt auf der Bühne! Und ich möchte mal die Vermutung in den Raum stellen riff-raff (schön dass Du auch wieder mit von der Partie bist :winken:), dass dieser Eindruck durch den Ich-Erzähler entsteht. Vielleicht wäre diese Nähe durch einen auktorialen Erzähler nicht zu erzielen gewesen. "G-w" gibt eigentlich nur ganz selten die Innenperspektive der handelnden Personen wieder (ich hab es nur einmal wahrgenommen) und dies wäre ja auch eine Überschreitung seiner Kompetenz sozusagen. Aber "G-w" vermittelt uns, dass wir ganz nah bei den Personen - auf der Bühne - sind, so wie er selbst es ist.



    Freue mich schon aufs Weiterlesen ...


    Ich auch! :winken:

  • Hallo zusammen,


    ich habe das Kapitel I beendet und bin ebenso überrascht wie ihr über die ironische Art des Erzählens und die genaue Beschreibung der auftretenden Figuren. Die Gespräche dieses Zirkels oder Clubs ist recht entspannt, man versöhnt sich schnell wieder bei auftretenden Meinungsverschiedenheiten. Gefiel mir alles sehr gut.



    Danke für eure Hinweise:
    Trofimowitsch = Liberalismus
    Karmasinov = Turgenjev



    Zitat von "klaus"

    Ich bin beeindruckt von Dostojewskis sehr anschaulicher Figurenzeichnung. Nur ein paar Beispiele: Schatow, der immer wegrennt, wenn eine Situation ihn verlegen macht, der immer seinen Blick zum Boden richtet und von anderen als grundehrlich bezeichnet wird. Liputin ist ein Dummschwätzer und Intrigant, unterwürfig und hinterhältig. Kirillow, der Nihilist, der Liputins Geschwätz nicht ausstehen kann und selber in einem seltsamen Stakkato seine Gedanken ausbreitet.



    eine feine Zusammenfassung. Ich seh sie vor mir !



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    Es erinnert mich an den Finalakt eines Theaterstücks oder einer Mozartoper, wo dann auch (fast) das ganze Personal konzentriert auftritt und ein Ereignis das andere jagt. Besonders eindrucksvoll fand ich den vermeintlichen Auftritt von Nikolaj Stawrogin, der sich dann (vorerst) als der von Stepans Sohn Pjotr erwies: zuerst hört man nur wieder irgendwelche Geräusche von Personen in Diele und Nebenzimmer. Dann nimmt Dostojewskij das Tempo raus und beschreibt den Ankommenden, bevor er ihn endlich zu erkennen gibt. Oder vorher der Auftritt des schwitzenden Lebjadkin. Zum Schluß jagt ein Höhepunkt den anderen ...
    [...]
    Ich finde das macht den Eindruck als wäre man als Theaterzuschauer dabei, aber direkt auf der Bühne! Und ich möchte mal die Vermutung in den Raum stellen riff-raff (schön dass Du auch wieder mit von der Partie bist :winken:), dass dieser Eindruck durch den Ich-Erzähler entsteht. Vielleicht wäre diese Nähe durch einen auktorialen Erzähler nicht zu erzielen gewesen. "G-w" gibt eigentlich nur ganz selten die Innenperspektive der handelnden Personen wieder (ich hab es nur einmal wahrgenommen) und dies wäre ja auch eine Überschreitung seiner Kompetenz sozusagen. Aber "G-w" vermittelt uns, dass wir ganz nah bei den Personen - auf der Bühne - sind, so wie er selbst es ist.


    Ja, Klaus, das ist für mich auch das Entscheidende, was Dostojevskijs Qualität ausmacht: Seine Werke bauen sich als ein riesiger Dialog auf, selbst die spannendsten Handlungen werden meist, wie im antiken Theater, im "Botenbericht" geschildert, sodass man zu den Geschehnissen gleich auch noch die Gefühle der erzählenden Person und dann noch den Erzählerkommentar des Ich-Erzählers dazu bekommt. Das wirkt dann so temporeich, weil ständig die Gesprächspartner wechseln, immer ein bisschen mehr vom Vorgeschehen "entdeckt" wird und, wie du oben so schön schilderst, das Eintreffen neuer Gesprächspartner immer höchst dramatisch, mit begleitenden Geräuschen, kommentierenden Wahrnehmungen usw. geschildert wird. Und das gilt eigentlich für alle Dostojevskij-Romane und Erzählungen.
    Meine Eindrücke der russischen Kultur speisten sich in meiner Jugend und frühen Studienzeit aus der Lektüre Dostojevskijs, Tolstois und Turgenjevs, sodass ich den Eindruck erhielt, dass die Russen sich - je nach Gesellschaftsschicht - in allen Lebenslagen immer um den Samovar, die Wodka- oder die Champagnerflasche versammelten, um sich ausführlichst über alles auszutauschen.
    Ich bin jetzt in IV, 6 angelangt und die geheimnisvollen Ereignisse spitzen sich weiter zu: Marja Timofejevna Lebjadkina wird eingeführt und alles wispert und vermutet und deutet an ... .


    finsbury

  • Ich lese die Übersetzung Hermann Röhls und bin inzwischen bei II,3 angelangt. Persönlich mag ich, dass Dostojewskij umfangreich und Charakterzüge äußerst treffend beschreibt.
    Leider glaube ich in der Erzählung des Ich-Erzählers (in meinem Personenverzeichnis steht Anton Lawrentjewitsch G***w) eine unterschwellige Arroganz zu spüren. Die Person des Stefan Trofimowitsch finde ich offen gesagt höchst lächerlich. Das Ganze lässt mich im Moment der Geschichte und seinen Figuren als solche sehr feindlich gegenüber stehen. Genoß ich anfangs noch die humorvolle Beschreibung, so wünsche ich mir immer mehr einen wahrhaft vernünftigen Charakter in der Geschichte. Aber ich vermute, der Wunsch nach einem "Helden" ist hier nicht zu erfüllen ;)
    Dennoch, ich warte gespannt. Es liest sich in jedem Fall hervorragend und Dostojewskijs Herangehensweise an Handlung ist sehr, sehr beeindruckend.

  • Nach drei Kapiteln kann ich sagen, dass ich nun voll in die Lektüre eingestiegen bin. Dostojewski beschreibt sehr ausführlich seine Figuren, ihre Beziehungen untereinander und deren Stellungen. Dabei kommt der typische Tratsch nicht zu kurz, und bis man etwas klipp und klar, also schwarz auf weiß vor einem stehen hat, vergehen viele Seiten.
    Nun soll also unser guter Stepan Trofimowitsch Werchowenski Darja heiraten, die von Nikolai Stawrogin geschändet und schwanger ist. Aber das großzügige Angebot von Warwara Petrowna Stawrogina, Nikolais Mutter, kann er nicht ablehnen und wird wohl diese Ehe eingehen, obwohl er Warwara liebt. :zwinker:
    Die einzelnen Positionen unter den Figuren werden mittlerweile erkennbar, nur wer dieser Erzähler ist, lässt Dostojewski nicht durchblicken. Das erzeugt ein klein wenig Spannung, und insgesamt kann ich nicht behaupten, dass ich diesmal ein dickeres Buch vom Autor mit Widerwillen lesen würde. Nein ganz im Gegenteil!


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()


  • Nun soll also unser guter Stepan Trofimowitsch Werchowenski Darja heiraten, die von Nikolai Stawrogin geschändet und schwanger ist. Aber das großzügige Angebot von Warwara Petrowna Stawrogina, Nikolais Mutter, kann er nicht ablehnen und wird wohl diese Ehe eingehen, obwohl er Warwara liebt.


    :breitgrins:. Das möchte er jetzt, da Warwara das eigentlich nicht ganz abwegige Ansinnen an ihn stellt, Marja zu heiraten, um die „Sünden“ ihres Sohnes Nicolai „zu decken“, sich selbst und seine Umwelt glauben machen! Stepan ist ein Parasit, der auf Kosten Warwaras lebt, die dafür „sklavische Ergebenheit“(I, KapI,3) verlangt. Über die Art ihrer „Freundschaft“ lässt sich der Ich-Erzähler in herrlich ironischer Art in I,Kap1,3 aus: „Es gibt seltsame Freundschaften….“ Was aber wohl - jedenfalls von Seiten Stepans - nie im Spiel war, ist Liebe. Denn nie ist er zurückhaltender als zu dem Zeitpunkt, als er Grund zu der Annahme hat, Warwara wolle mehr … (nachzulesen in I,Kap 1,4).
    Kein Wunder, dass der Erzähler, dem Stepan diese „traumatischen Erlebnisse“ Jahrzehnte später anvertraut, sich nun ein Lachen kaum verkneifen kann:


    [quote= dostojewski, I,Kap3,10] ...Vingt ans! Und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden, oh, das ist grausam! Und glaubt sie denn wirklich, dass ich aus Angst, aus Not heirate? O Schmach ! Tante, Tante ich tue es nur deinetwegen…oh mag sie es erfahren, diese Tante, dass sie die einzige Frau ist , die ich zwanzig Jahre lang vergöttert habe. Sie muss das erfahren, es geht nicht anders , sonst wird man mich nur mit Gewalt zu dem schleppen, ce qu’on appelle Traualtar!“
    Zum ersten Mal hörte ich von ihm ein solches dazu so energisches Bekenntnis. Ich will nicht verhehlen, dass ich die größte Lust hatte, in Gelächter auszubrechen…[/quote]


    Stepan ist ein Meister im Verdrängen, Umdeuten, Rechtfertigen, Aufstellen von Schutzbehauptungen etc. Er ist ein Heuchler, der zu echten Gefühlen gar nicht fähig ist, höchstens zeitversetzt in Form von Schuldgefühlen und Reue, wie bei seinem Sohn, den er bei alten Tanten irgendwo in Russland aufwachsen lässt. Dostojewski ist mit diesem (modernen) Tartuffe eine unglaublich gute Charakterstudie gelungen …


  • Ich bin nun mit dem Ersten Teil durch und bin von dem abschließenden 5. Kapitel ganz hingerissen. Es erinnert mich an den Finalakt eines Theaterstücks [...]
    Ich finde das macht den Eindruck als wäre man als Theaterzuschauer dabei, aber direkt auf der Bühne! [...]


    Ja, Klaus, das ist für mich auch das Entscheidende, was Dostojevskijs Qualität ausmacht: Seine Werke bauen sich als ein riesiger Dialog auf, selbst die spannendsten Handlungen werden meist, wie im antiken Theater, im "Botenbericht" geschildert, [...]


    Dostojewski als verhinderter Dramatiker ... Vladimir Nabokov hat dazu Folgendes zu sagen:


    Es scheint, als sei er von der russischen Literatur schicksalhaft bestimmt gewesen, Russlands bedeutendster Dramatiker zu werden, aber er schlug einen falschen Weg ein und schrieb Romane.


    "aber er schlug einen falschen Weg ein" ... Nabokov, der bekanntlich nie ein Blatt vor dem Mund nahm, macht mehr als deutlich, dass er von Dostojewski, dem Prosaautor, nicht besonders viel hält. Ihrer literarischen Bedeutung nach ordnet er die russische Prosa folgendermassen ein: an erster Stelle steht Tolstoi, dann folgen Gogol, Tschechow und Turgenjew. Sein Urteil über Dostojewskij fällt vernichtend aus:


    Dostojewski [ist] kein bedeutender Autor, sondern eher mittelmässig mit dem gelegentlichen Aufblitzen brillanten Humors, aber, ach!, mit Wüsteneien literarischer Plattheiten dazwischen.


    Dostojewskis Mangel an Geschmack, die eintönige Art, mit der er immer wieder Menschen darstellt, die an präfreudianischen Komplexen leiden, die Art, mit der er sich in den tragischen Missgeschicken menschlicher Würde suhlt - all dies ist nur schwer zu bewundern.


    Wer eines seiner Werke [...] gründlich liest, erkennt, dass der natürliche Hintergrund und alles, was mit Wahrnehmungen der Sinne zu tun hat, kaum existiert. Was es an Landschaft gibt, ist eine Landschaft der Ideen, eine moralische Landschaft. Das Wetter gibt es in seiner Welt nicht, also spielt es auch keine Rolle, wie seine Gestalten sich kleiden. [...] Nachdem er seine Gestalt einleitend beschrieben hat, geht er in Szenen, in denen sie auftritt, nicht mehr auf deren körperliche Erscheinung ein - das ist eine altmodische Technik. Dies ist nicht die Art eines Künstlers wie beispielsweise Tolstoi, der seine Gestalten beständig vor Augen hat und genau weiss, welche Bewegung sie in diesem oder jenem Augenblick vollführen werden.


    Was er ihm hier ankreidet, ist aber genau das, was mir an Dostojewski so gefällt ... Keine ellenlangen Landschaftsbeschreibungen, keine minutiöse Darlegung wie die Charaktere aussehen oder sich kleiden ... Lauter Informationen, die Film oder Fotografie doch eh viel besser transportiern und in einem Roman oft regelrecht verschwendet sind - jedenfalls an einen Leser wie mich ... Als letztes habe ich z. B. Anna Karenina gelesen, wenn ihr mich aber fragt ob Lewin blond oder braun war, korpulent oder schmächtig, ob er einen Bart hatte oder nicht ... Keine Ahnung. Auch wenn ich überzeugt bin, dass Tolstoi darauf eingegangen ist ... Dabei habe ich aber trotzdem das Gefühl, ein ziemlich deutliches Bild dieser Figur im Kopf zu haben. Ein Bild, das sich weniger auf sein Äusseres bezieht als auf seine psychische Konstitution. Es würde mir schwer fallen, Lewin zu zeichnen (mal abgesehen von meinem Zeichentalent ...), aber ich könnte ein ziemlich deutliches Psychogramm des Mannes erstellen und das erscheint mir weitaus wichtiger.


    Schatow, der immer wegrennt, wenn eine Situation ihn verlegen macht, der immer seinen Blick zum Boden richtet und von anderen als grundehrlich bezeichnet wird. Liputin ist ein Dummschwätzer und Intrigant, unterwürfig und hinterhältig. Kirillow, der Nihilist, der Liputins Geschwätz nicht ausstehen kann und selber in einem seltsamen Stakkato seine Gedanken ausbreitet.


    Die Dinge, die Klaus hier beschreibt, dass sind genau die Dinge, die mir von einer Figur in Erinnerung bleiben. Körperliche Merkmale hingegen - ausser wenn sie besonders bezeichnend oder auffällig für eine Person sind, wie das Hinken und die grelle Schminke der Marja Timofejewna Lebjadkina - bleiben mir nicht lange haften. Und wenn zig Seiten nur aus Dialogen bestehen, dann mag das zwar an Theaterstil erinnern, aber man fühlt sich den Charakteren als Leser gleich viel näher und unmittelbarer in die Handlung involviert, als wenn das Ganze von einem Erzähler zusammengefasst und vermittelt wird. Ich persönlich steh jedenfalls auf sowas.


    Nabokov kritisiert ebenfalls, dass Dostojewskis Charaktere so statisch seien und keine innere Wandlung durchlebten:


    Das einzige, was sich entwickelt, hin- und hertaumelt, unerwartete Wendungen macht, [...] ist die Handlung. Wir wollen stets daran denken, dass Dostojewski letzten Endes ein Verfasser von Kriminalromanen ist, bei denen alle einmal eingeführten Gestalten bis zum bitteren Ende mit allen Merkmalen und persönlichen Gewohnheiten bleiben, wie sie sind [...]. Durch den spannenden Aufbau seiner Handlungen gelingt es Dostojewski, die Aufmerksamkeit des Lesers gefangen zu halten [...]. Wer aber eines seiner Bücher noch einmal liest, also mit den Überraschungen und der Kompliziertheit der Handlung vertraut ist, merkt sofort, dass die Spannung des ersten Lesens dahin ist.


    Ich lese Böse Geister nach ungefähr zehn Jahren zum zweiten Mal und habe bisher nichts von einem Spannungsverlust gemerkt, was aber auch gut an meinem schlechten Gedächtnis liegen mag, und dass die Handlung des vorliegenden Romans doch ziemlich vertrackt ist. Ob die Helden wirklich keine Entwicklung durchmachen, darauf muss ich mal genauer achten.


    Nabokov stört zudem, dass Dostojewski sich hauptsächlich für krankhafte und abnorme Charaktere, sprich "Psychopathen", zu interessieren scheint ... Er erstellt sogar eine Liste, in der er Dostojewskis Gestalten nach Geisteskrankheiten einstuft: Epilepsie (ist das überhaupt eine 'Geisteskrankheit?), Altersschwachsinn, Hysterie ...


    Und natürlich kommen auch Dostojewskis (zu recht kritisierbare) Glaubensbekenntnisse und Ideologieen zur Sprache, die so oft unangenehm in seine Romane überschwappen, wie z. B. sein "reaktonär politisches Slawophilentum" oder dass das Heil der Welt aus Russland und der orthodoxen Religion entspringen wird.


    Als einziges Meisterwerk, ja, als "vollkommenes Kunstwerk", lässt er Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger gelten, das ich bisher noch nicht gelesen, mir aber - dank Nabokov - bereits vorgemerkt habe.


    Enthalten sind Nabokovs Gedanken zu Dostojewski übrigens in: Die Kunst des Lesens [kaufen='3596902800'][/kaufen], in dem seine Vorlesungen zu verschiedenen Meisterwerken der europäischen und russischen Literatur versammelt sind.


    Gruss


    riff-raff