Nov. 2011, Johann G. Herder - Journal meiner Reise im Jahr 1769

  • Vermutlich fange ich erst am Mittwoch an zu lesen, ich bin jedenfalls dabei. Einfach wird es für mich nicht mit dem Stürmern und Dränglern, so mein Eindruck nachdem ich die ersten Seiten überflogen habe.


  • Einfach wird es für mich nicht mit den Stürmern und Dränglern, so mein Eindruck nachdem ich die ersten Seiten überflogen habe.


    Naja, es ist keine wirklich schwere, aber dennoch alles andere als einfache Lektüre, dieses Journal. Ein wilder, aber nicht ungeordneter Gedankensturm lässt den Leser oft ratlos, manchmal auch fassungslos zurück. Die Sprache des Journals ist nicht die eines ordentlichen Tagebuchs, sondern eines in Hetze entstandenen Notizbuchs. Möglicherweise ist das Notieren von Gedanken exakt die Intention, die Herder mit dem Journal verfolgt. Wir werden sehen.


    Da es nicht für die Veröffentlichung zu Lebzeiten konzipiert wurde, geht der 25jährige Herder im Journal ehrlich und hart mit sich zu Gericht, lamentiert über nicht genutzte Möglichkeiten, stellt sowohl sein Bücherwissen als auch sein Dasein an Katheder und Kanzel in Frage und weiß nicht so recht, wohin die Reise ihn eigentlich führen wird.


    Im Nachwort meiner Ausgabe wurde kurz darauf hingewiesen, dass der Autor des Journals Goethe durchaus als Vorbild für seinen Doktor Faust gedient haben könnte – wenn, ja wenn Goethe dieses Schriftstück je gelesen hätte. Hat er aber nachweislich nicht (denn es wurde erst nach seinem Tod publiziert) und deshalb ist es umso erstaunlicher, wie Faust die Züge des jungen Herder annahm. Goethe war gut bekannt mit dem fünf Jahre älteren Geistesgenossen; vielleicht hat er ihm im „Faust“ ein unsterbliches Denkmal gebaut. Denkbar ist es allemal.


    Auf schwankenden Schiffsplanken philosophiert Herder über die „philologische Ausbeutung“ der von einfachen Seeleuten gesponnenen Reise- und Horrormärchen sowie über die großen antiken Griechenepen, die seiner Meinung nach einen maritimen Hintergrund haben, was ein durchaus interessanter Gedanke ist. Von der sonnigen Welt der Griechen kommt er auf die nebelverhangenen nordischen Mythen, und nun fällt erstmals der Name Ossian, der für die ab 1760 in England veröffentlichten und als authetisch angenommenen „keltischen Sagen aus der Frühzeit Britanniens“ steht – alles reine Erfindung, wie schon Herders Zeitgenossen zunächst ahnten und später tatsächlich herausfanden. Goethe hat diese Kelten-Schwärmerei abgelehnt und sogleich in seinen „Werther“ gepackt als Symptom für die kranke Seele des Helden. Herder war indessen schier begeistert von der schottisch-gälischen Nebelwelt, was der Verfasser des Nachworts auf eine grundsätzliche Veranlagung zu Melancholie und Schwermut zurückführt. Herder als Depressiver?


    Ich bin gespannt, wie es weitergeht und wie Ihr die Lektüre empfindet.



  • Darf ich fragen, von wem das stammt? Ich schüttle gerade bei jedem Teil, den Du daraus zitierst, den Kopf ... :rollen:


    Der Autor wird namentlich nicht genannt. Ich lese die handelsübliche historisch-kritische Reclam-Ausgabe. Herausgeberin ist Katharina Mommsen, Mitarbeiter sind Georg Wackerl und Momme Mommsen. Eine der genannten Personen wird wohl für das Nachwort verantwortlich zeichnen.


    Worüber im Detail schüttelst Du Dein weises Haupt?

  • Worüber im Detail schüttelst Du Dein weises Haupt?


    Da fehlt ein "s" ... :breitgrins:


    Zum einen war das Verhältnis zwischen Goethe und Herder immer wieder von vielen Verstimmungen getrübt; ich denke nicht, dass Herder es akzeptiert hätte, wenn er auch nur einen leisen Verdacht gehabt hätte in dieser Richtung, von Goethe als Verführer und Schwängerer unschuldiger Mädchen hingestellt zu werden.


    Zum andern war Herder alles andere als ein Melancholiker. Eher ein cholerischer Giftzwerg. (In dieser Hinsicht nur noch von seiner ihm treu ergebenen Gattin übertroffen ...) Er litt an einer Augen-Zyste, wenn ich das recht in Erinnerung habe, was sehr schmerzhaft gewesen sein muss und Herders Laune wohl nicht verbessert hat. Was er an "Ossian" bewunderte, war die vermeintliche Ursprünglichkeit, die er ähnlich auch an Homer oder den Minnesängern bewunderte. Und Goethe hat diese "Kelten-Schwärmerei" sehr wohl mitgemacht, auch wenn er sich vor Herder wieder davon distanzierte.


    :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hey,


    ich habe die Stelle des Nachwortes auch gelesen: Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, so geht es ihm beim Vergleich mit Faust einzig um den Aspekt, dass Herder im Journal klagt, er habe zu viel studiert und zu wenig gelebt. Was diesen Aspekt (und vermutlich nur diesen, kenne mich da nicht näher aus) betrifft, scheint der Vergleich durchaus zutreffend (vgl Ich habe nun ach Magisterei ...).


    Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass es zwischen den Werken irgendeine bewusste Verbindung gab. Weder dass Goethe es gelesen hätte (bereits von Sir Thomas widerlegt) noch dass Herder im Entferntesten daran gedacht hätte, Portrait für Goethes Werk zu stehen.


    Gruß Milan

  • Ein Zitat aus dem Nachwort:


    "In den Anfangsszenen des Faust stellte Goethe, wie die Forschung allgemein richtig gesehen hat, einen Gelehrten dar nach Art Herders, Faust, ursprünglich etwa als Dreißigjähriger gedacht, erwarb mit unermütlichem Fleiß die Kenntnisse aller Disziplinen. Er versäumt darüber das Leben, veraltet früh. Seine Gelehrsamkeit ist ihm suspekt, da sie ihm nur als ein "in Worten kramen" erscheint."


    Nach den ersten Seiten des Journals kommt mir das auch plausibel vor. Allerdings solche platten Floskeln: "...wie die Forschung allegmein richtig gesehen hat...", machen mich auch wieder misstrauig. Jedenfalls ist dieser Enthusiasmus und die Verzweiflung des Fausts am Anfang des Schauspiels im Journal bei Herder auch zu finden. Goethe musst sich ja nicht direkt auf das Journal beziehen, er hat Herder ja kurz nach der Reise kennen gelernt. Und wie das Leben allgemein richtig lehrt, ist der erste Eindruck.... :zwinker:


    Die Goetheforscher sind um Belegstellen gebeten. :winken:


  • Zum einen war das Verhältnis zwischen Goethe und Herder immer wieder von vielen Verstimmungen getrübt ...


    Ja, aber wohl erst in der gemeinsamen Weimarer Zeit. Die erste Begegnung in Straßburg (1770? Ich müsste es nachlesen) beschreibt Goethe ausführlich in "Dichtung und Wahrheit". Soweit ich mich erinnere, war der spätere Geheimrat fasziniert von der Gelehrtheit des fünf Jahre älteren Herder. Auch Arno Schmidt äussert sich ähnlich in seinem Herder-Essay.



    ... ich habe die Stelle des Nachwortes auch gelesen: Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, so geht es ihm beim Vergleich mit Faust einzig um den Aspekt, dass Herder im Journal klagt, er habe zu viel studiert und zu wenig gelebt.



    Nach den ersten Seiten des Journals kommt mir das auch plausibel vor.


    Belassen wir es dabei.


    Ich bin noch nicht weiter vorangekommen, weil ich erst noch Kellers "Grünen Heinrich" beendet habe.


    Da fehlt ein "s" ... :breitgrins:


    Das eine schließt das andere nicht generell aus ... :zwinker:

  • Hallo,


    hab nun die ersten 30 Seiten gelesen und muss zugeben, dass ich was anderes erwartet habe. Ich dachte eher, dass es eine Reisebschreibung ist und keine philosophische Abhandlung. Dennoch muss ich sagen, dass ich es sehr interessant finde.


    Vor allem die Sache mit dem Meer fand ich sehr faszinierend. Ich freue mich schon aufs Weiterlesen.


    Katrin

  • Es ist schon ein Elend! Wenn man einmal anfängt, bestimmte Stellen in einem Werk nachzulesen, liest man sich mehr oder weniger automatisch fest – und zwar grundsätzlich in Kapiteln, die mit der ursprünglichen Leseabsicht nichts mehr zu tun haben. So erging es mir gestern mit Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Eigentlich wollte ich die im 10. Buch festgehaltene erste Begegnung mit Herder noch einmal Revue passieren lassen in der Hoffnung, etwas Klarheit in die Beziehung der beiden jungen Denker zu bringen. Stattdessen blieb ich im 7. Buch hängen, wo Goethe mit der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts Schlitten fährt. Recht interessant das Ganze: viele Namen, die mir nichts sagen und die heute vermutlich zurecht vergessen sind; aber auch solche, die einen zweiten Blick evtl. lohnen. Wer, wie ich, das 18. Jahrhundert mehr oder weniger über die französischen Aufklärer Montesquieu, Voltaire, Rosseau, Diderot kennenlernte, staunt jedenfalls nicht schlecht über die Vielfalt der deutschen Literatur in der Vorgoethezeit, die aus mehr bestand als Klopstock und Lessing.


    Zurück zu unserem Freund J.G. Herder. Ich bin das bisher Gelesene (bis S. 31) noch einmal mit dem Bleistift durchgegangen. Dabei stieß ich auf die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich der junge Stürmer und Dränger bezüglich seiner selbst macht. Mal wünscht er als Reformator wirken zu können, als zweiter Zwingli, Calvin oder Luther die Barbarei zu zerstören; dann möchte er Lehrer und Prediger einer verbesserten evangelischen Religion sein („... ein Prediger der Tugend deines Zeitalters!“); kurz zuvor sah er sich als Sammler europäischer Mythen, um daraus eine philosophische Theorie zu ziehen; eng damit verknüpft ist seine Vorstellung, als Geschichtsschreiber „ein Werk über das menschliche Geschlecht! den menschlichen Geist! die Cultur der Erde!“ zu verfassen. Ein buntes Projektgemisch, von dem wir heute wissen, welchen Weg es nahm.


    Wie weit seid Ihr, liebe MitstreiterInnen?

  • Hallo,


    ich bin circa genau so weit wie du, Thomas.


    Zumindest bin ich extrem fasziniert von dem was Herder alles gerne wäre und was er gerne verwirklichen würde. Aber wer kennt das nicht, dieses: Wenn ich doch nur dieses und jenes tun könnte oder dieses oder jenes bewerkstelligen könnte.


    Mir geht es auf alle Fälle so und ich bin dann oft enttäuscht weil sich nicht alles ausgeht. Von daher kann ich Herder gut verstehen.
    So wie ich das sehe werde ich die ganze Reise noch einmal lesen und mir Stellen anmerken und diese weiterverfolgen.


    Katrin

  • Mittlerweil bin ich doch in die Nähe von Seite 50 vorgedrungen und noch immer in den ausufernden Plänen Herders, sehr detailiet vorgetragen was seine Verstellung von Schule betrifft und sehr ehrgeizig was seine Pläne zu Russland betreffen. Sein Denken hat sich wohl auf dem Schiff durch seine Gedanken über die Seefahrt und das Meer beeinflusen lassen. Es taucht aus dem Seemannsgarn, das ihm wohl gesponnen wurde, eine Theorie über Mythologie und Volksweisheit hervor-vielleicht schon die Keimzelle seiner späteren Arbeiten.
    Mir fällt es etwas schwer zum Journal zu greifen und weiter zu lesen, die Einzelheiten sind mir nicht so wichtig und so surfe ich mehr über Herders Gedankenwellen hinweg, als dass ich darin versinke.

  • Mit Herders Schulkonzept bin ich durch. So einen Idealismus lass ich mir gefallen-da ist noch nichts vom späteren Geniekult zu spüren, da geht es um die Breite. Ob seine stürmenden Kollegen über sowas Gedanken gemacht haben, oder haben sie ihn belächelt, so wie heute Reformer belächelt werden, denen Inhalte mehr bedeuten als Kosten?
    Mir ist aufgefallen, dass er zwar öfters auf Newton und Hume zu sprechen kommt, die englische Sprache bedeutet für seine Bildungspläne aber wenig.


    Er übernimmt sich natürlich in jefder Beziehung. Auch dann wenn er auf die Politik zu sprechen kommt, in der Art: "Wenn ich was zu sagen hätte". Da ist er ein reiner Aufklärer, denn wie anders als mit dem Glauben an den reinen Vernunftmenschen kann man solche Projekte für realisierbar halten.
    Die meisten Einzelheiten in den politischen Bemerkungen, die er anspricht, sagen mit wenig bis nichts.


  • Mit Herders Schulkonzept bin ich durch. So einen Idealismus lass ich mir gefallen-da ist noch nichts vom späteren Geniekult zu spüren, da geht es um die Breite.


    Vielleicht schmücken sich deshalb so viele deutsche Schulen mit dem Namen Herder ...


    Aufgefallen ist mir, dass Herder immer wieder den praktischen und lebendigen Nutzen betont, den die Schule für das spätere Leben haben soll: Das wird ihn [den jungen Menschen] zu keinem Fremdling in der Welt machen. Die besondere Betonung des Sprachunterrichts ist wenig überraschend, und wenn er das Englische nicht erwähnt, dann wohl deshalb, weil es damals noch nicht so sehr in Mode gekommen war und England sich gerade erst auf den Weg machte, die halbe Welt in das Empire einzuladen. Der gebildete Deutsche sprach französisch, seine eigene Sprache galt ihm als unkultiviert. Herder bricht eine Lanze für das Deutsche, allerdings zulasten der lateinischen Sprache, was man evtl. als Angriff auf die (katholische) Kirche deuten kann.


    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass Herder die sprachliche Vermittlung vom Katheder herab als untauglich ablehnt. Er nennt es mit Sprache und Gewohnheit lernen. Einige Zeilen später: Man müsse lehren, das zu finden, was die Sprache als Vorurteil einprägte. Diese Sprachskepsis hat mich überrascht.



    Ob seine stürmenden Kollegen über sowas Gedanken gemacht haben, oder haben sie ihn belächelt, so wie heute Reformer belächelt werden, denen Inhalte mehr bedeuten als Kosten?


    Mir fällt im Augenblick nur Schiller ein, der sich auch über Fragen der geistig-moralischen Erziehung ergossen hat, wenn auch auf einem sehr intellektuellen und elitären Niveau.



    Die meisten Einzelheiten in den politischen Bemerkungen, die er anspricht, sagen mit wenig bis nichts.


    Da bin ich noch nicht.


    LG


    Tom

  • Herder bricht eine Lanze für das Deutsche, allerdings zulasten der lateinischen Sprache, was man evtl. als Angriff auf die (katholische) Kirche deuten kann.


    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass Herder die sprachliche Vermittlung vom Katheder herab als untauglich ablehnt. Er nennt es mit Sprache und Gewohnheit lernen. Einige Zeilen später: Man müsse lehren, das zu finden, was die Sprache als Vorurteil einprägte. Diese Sprachskepsis hat mich überrascht.



    Herder hält immer wieder das protestantische Fähnlein hoch.


    Herder hat sich ja mit der Herkunft der Sprache später beschäftigt (auf meinem EReader habe ich einen Text von ihm) aber was er mit "Sprache als Vorurteil" meint verstehe ich nicht - da bin ich wohl auch achtlos drüber gesurft.


    Das Journal entpuppt sich als Lebensprogramm in solchem Umfang, dass es kein Wunder ist, wenn aus Herder nichts geworden ist, er hat wohl doch nur andere was werden lassen.