Nov. 2011 Joseph Conrad - Lord Jim


  • Heißt es in der englischen Ausgabe auch immer "Mädchen"? Ich finde das etwas verniedlichend und unpassend zu ihrer schwermütigen Persönlichkeit.


    Ja, da steht "girl".
    Aber das muss nicht unbedingt "Mädchen" bedeuten, wie es übersetzt wurde.
    Der englische Begriff ist vielseitiger.
    Sieh mal hier.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)


  • In einem Buch habe ich übrigens gelesen, dass es für Jim ein reales Vorbild gab:


    Der Schiffbruch, der JC als Vorlage diente, wird auch in der Biographie von Frederick R. Karl erwähnt.
    Ich hab die Stelle aber, trotz Werkregister, eben nicht wiedergefunden.
    Und es gab ein Vorbild für Jim, namens Jim Lingard.
    Aber so weit bin ich noch nicht.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Hallo,


    nun bin ich auch durch und das Ende hat sich wirklich nochmal richtig gelohnt! Wie Jim dann schließlich abdankt, das ist äußerst konsequent und gerade deshalb bitter: Weil er die Schuld für Browns 2. Überfall, bie dem sein Freund Dain Waris getötet wird, auf sich nimmt, lässt er sich von dem trauerblinden Doramin hinrichten und gerade damit lässt er wieder ihm anvertraute Menschen im Stich. Eine wegen seines Charakters und Vorlebens ausweglose Situation, ein tragischer Konflikt, ein romantischer Held: Hier hat Conrad alle Register gezogen.
    Auch von der Motivik her ist der Roman stark strukuriert: Dreimal springt Jim, und dreimal scheitert er: vom Pilgerschiff, aus dem Boot nach Patusan, wo er zunächst reüssiert, aber gerade dadurch das letzte Scheitern vorausbestimmt: Er springt zum dritten Mal aus dem Boot auf die Sandbank am Priel gegenüber Brown und lässt sich aufgrund seines "weißen" Ehrenkodexes von dem Piraten verschaukeln, womit er unbewusst den Tod der ihm Anvertrauten vorausbestimmt.
    Alles in allem ein toller Roman, dem das Streichen von 50 Seiten Redundanzen moralischer Ergüsse noch mehr Wucht verliehen hätten.
    Vielen Dank für die vielen schönen Beobachtungen und Anmerkungen, Maria und Leibgeber!


    finsbury


  • Auch von der Motivik her ist der Roman stark strukuriert: Dreimal springt Jim, und dreimal scheitert er:


    Also, das ist mal eine großartige Beobachtung, darauf war ich ja gar nicht gekommen.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Also, das ist mal eine großartige Beobachtung, darauf war ich ja gar nicht gekommen.


    dem schließe ich mich an. Stark beobachtet, finsbury.
    ich danke euch auch für eure Eindrücke, vieles wäre mir entgangen.


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • danke für die Lorbeeren und Rückgabe derselben an euch: die Bedeutung der Farbe Weiß an Jim hätte ich ohne dich, Maria, überlesen, und du, Leibgeber, hast unsere Runde durch deine Lektüreerinnerungen und Recherchen sehr bereichert.
    Das ist ja das Schöne an diesen Leserunden, dass man erstens zu mehreren viel mehr erkennt und dass man zweitens selber auch intensiver liest, weil man sich darüber austauscht.


    finsbruy


  • Alles in allem ein toller Roman, dem das Streichen von 50 Seiten Redundanzen moralischer Ergüsse noch mehr Wucht verliehen hätten.


    Jeder liest ein Buch anders.
    Ich hab's nicht als Moralisiererei empfunden.


    Ich wäre interessiert, zu wissen, auf welche Passagen ihr euch bezieht.


    Ich hab mich selten so oft, wie bei JC, selber drauf gestoßen, dass es gilt, einen Unterschied zu machen zwischen dem Autor, und den Personen, denen er seine Geschichte in den Mund legt.
    Hier ja ganz wörtlich – Marlow erzählt sie (den größten Teil davon) einem Kreis von Zuhörern.


    Und mag sein, dass, was wir als Weitschweifigkeit und Moralisiererei empfinden, so sein MUSS.
    Weil Marlow so ist.
    Ein in seiner Gesetztheit (wie alt ist der eigentlich?) manchmal etwas nervender Typ.


    Wir haben zwei, die moralisieren. Marlow, und, durch seine Erzählung, Stein.
    Und wir haben Jim.
    Mag sein, Jim + Marlow + Stein = ich (Conrad) ?


    Was mich eher gestört hat, ist das Ungleichgewicht der beiden Teile, überhaupt die sehr offenkundige Zweiteilung. Wenn es so ist, dass ursprünglich nur die Pilgerschiff-Episode da war, dann mag es JC nicht gelungen sein, beides richtig miteinander zu verstricken.


    Wie es am Anfang der "Author's Note" steht

    Zitat


    When this novel first appeared in book form a notion got about that I had been bolted away with.


    Fritz Lorch übersetzt: der Roman sei mit ihm durchgegangen


    Und wie JC es so fast 20 Jahre später aufschreibt, finde ich nicht unwitzig.


    Also, meiner Ansicht nach ist er mit ihm durchgegangen.
    Das Werk ist nicht so geschlossen, wie der (umgangreichere) "Nostromo" oder "Sieg."


    Ich halte JC aber zugute, dass "Lord Jim" ein frühes Werk ist.
    Die vorherigen "Almayers Wahn" und "Herz der Finsternis" sind vielleicht kompositorisch besser, aber ja auch kürzer.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Wir haben zwei, die moralisieren. Marlow, und, durch seine Erzählung, Stein.
    Und wir haben Jim.
    Mag sein, Jim + Marlow + Stein = ich (Conrad) ?



    durch die verschiedenen Erzähler gibt es doch auch oft Wiederholungen, des gleichen gesagten. Dadurch bekam ich einen Eindruck des Moralisierens, getrennt genommen ist es vielleicht garnicht so oft vorgekommen.


    Es drehte sich um das Ergründen des "Geheimnisses", dass dann ja doch "nur" des Rätsels Lösung in der Romantik des Helden lag (?). Dieses Kreisen hatte seine Längen.



    Zitat von "Leibgeber"


    Was mich eher gestört hat, ist das Ungleichgewicht der beiden Teile, überhaupt die sehr offenkundige Zweiteilung. Wenn es so ist, dass ursprünglich nur die Pilgerschiff-Episode da war, dann mag es JC nicht gelungen sein, beides richtig miteinander zu verstricken.



    ja, ich finde auch man merkt der Geschichte an, dass Marlow erst im Nachhinein als Erzähler eingefügt wurde. Es wirkt etwas wie ein Flickwerk, obwohl es immer noch eine starke Geschichte ist.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Jeder liest ein Buch anders.
    Ich hab's nicht als Moralisiererei empfunden.


    Ich wäre interessiert, zu wissen, auf welche Passagen ihr euch bezieht.


    Das ist nur meine Meinung. Maria hat sich dazu meines Wissens nicht geäußert*.



    Natürlich ist es der Erzähler, nicht der Autor, der moralisiert, aber dazu hätten ja auch ein paar Beispiele gereicht und nicht solche langen redundanten Passagen.
    Das erinnert mich an eine weibliche Nebenperson in Dickens "Nicolas Nickleby", die auf naiv-dreiste Art von sich selbst überzeugt ist. Auch das ist am Anfang interesant (und lustig), aber auf die Dauer nervt es.
    Steins Moralisierungen finde ich oka, eben dadurch, dass die Moral durch die Handlung deutlich wird.



    Ich auch. Das hat mir das Lesen nicht getrübt. Übrigens halte ich, wie ich schon sagte, die Lektüre dieses Romans trotz meines "Meckerns" für einen der wichtigsten und großartigsten Lektüre diesen Jahres.


    finsbury


    * Während ich dies hier schrieb, dann doch! :winken:


  • Das erinnert mich an eine weibliche Nebenperson in Dickens "Nicolas Nickleby", die auf naiv-dreiste Art von sich selbst überzeugt ist. Auch das ist am Anfang interesant (und lustig), aber auf die Dauer nervt es.


    Stimmt.
    Aber Dickens kommt einem da besonders in den Kopf, weil es bei dem so auffällig ist.
    Denn er verwendet immer dieselben paar Verhaltensweisen bzw. Redewendungen, um eine Person zu charakterisieren.
    Klassisch bei Mr. Micawber mit seiner Redewendung von den "Einkommen 20 Pfund ...."
    Was dann werweißwieoft immer wieder vorkommt.



    Es drehte sich um das Ergründen des "Geheimnisses", dass dann ja doch "nur" des Rätsels Lösung in der Romantik des Helden lain Flickwerk, obwohl es immer noch eine starke Geschichte ist.


    Zustimmung.


    Aber über Jims Charakter grübele ich immer noch ......


    Waren Marlow und Stein "auch mal Jim" und haben ihren Weg da raus gefunden?
    So wie Brierly "auch mal Jim war" und den Weg nicht fand ?


    Der Roman bleibt auf dem Schreibtisch, bis ich in der Biographie von F. Karl die darauf bezüglichen Passagen gelesen hab.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)


  • Aber über Jims Charakter grübele ich immer noch ......


    Waren Marlow und Stein "auch mal Jim" und haben ihren Weg da raus gefunden?
    So wie Brierly "auch mal Jim war" und den Weg nicht fand ?


    Der Roman bleibt auf dem Schreibtisch, bis ich in der Biographie von F. Karl die darauf bezüglichen Passagen gelesen hab.


    ich glaube das Problem bei Jim liegt darin, dass er eine Entscheidung nicht vorher durchdenken kann... was passiert wenn ich so handele .... jedoch sich den Konsequenzen stellt ! Mir ist nur nicht klar, ob er sich den Konsequenzen stellte, weil er ein Ehrgefühl in sich hat oder ob es zu seinem Heldenbild dazugehört. Wenn er es schon nicht schafft ein Held zu sein, so doch im Nachhinein... (oder so ähnlich). Ein schwer zufassendes Ich.



    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo Leibgeber und Maria,


    Dass Marlow und Stein auch mal wie Jim waren - als auctoriale Annahme, glaube ich nicht: Marlow stellt ja immer wieder heraus, dass er Jim als ganz singulär empfindet, eben durch diese seelische Katastrophe, dass er als geborener Held im Selbstbild in die Welt einstieg als ein Feigling. Das fängt ja schon als Junge auf dem Schulschiff an. Schon da findet er nicht schnell genug den Weg, um sich in einer Rettungssituation zu bewähren. Und so geht es immer weiter, bis die "Lord"-Existenz die scheinbare Wende bringt, aber nur als sogenanntes Retardierendes Moment, als verzögernder 4.Akt, bevor es schließlich in die finale Katastrophe geht.


    finsbury


  • Und so geht es immer weiter, bis die "Lord"-Existenz die scheinbare Wende bringt, aber nur als sogenanntes Retardierendes Moment, als verzögernder 4.Akt, bevor es schließlich in die finale Katastrophe geht.


    finsbury


    ein interessanter Gedanke, finsbury, und sehr breit verwendbar, wenn ich es mir im nachhinein überlege.
    Könnte man nicht auch sagen, dass J.C. im gesamten Roman eine Retardierung einbringt durch die Erzähleinschübe, desweiteren das Leben des "Tuan" Jim, mit einem scheinbaren glücklichen Leben, was dem aber nicht so ist, wie du oben schon schreibst, aber auch die Person Jim selbst ist in einer Retardierung verhangen, als er nicht über die pubertäre Heldenphase hinausgekommen ist.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,



    ein interessanter Gedanke, finsbury, und sehr breit verwendbar, wenn ich es mir im nachhinein überlege.
    Könnte man nicht auch sagen, dass J.C. im gesamten Roman eine Retardierung einbringt durch die Erzähleinschübe, desweiteren das Leben des "Tuan" Jim, mit einem scheinbaren glücklichen Leben, was dem aber nicht so ist, wie du oben schon schreibst, aber auch die Person Jim selbst ist in einer Retardierung verhangen, als er nicht über die pubertäre Heldenphase hinausgekommen ist.


    Ja, so könnte man das auch sehen. Ich habe mich hier allerdings auf das klassische griechische Drama bezogen, wo der 4. Akt, in diesem Übertrag der Aufenthalt in Patusan, eine scheinbare Hoffnung auf Wende bringt, bevor dann im 5. Akt die Katastrophe alle diese Hoffnungen und Pläne davonspült.


    finsbury