Scholem Alejchem: "Tewje, der Milchmann".

  • Hallo,


    immer noch glaube ich, dass es um Pogrome zu Beginn der Achtziger Jahre geht: Leider findet man im Internet keine genaue Auflistung der Orte, aber es heißt z.B.

    Zitat von http://www.gra.ch/lang-de/gra-glossar/181

    Ab Ostern 1881 flammten in ganz Südrussland antijüdische Ausschreitungen auf, die sich bis 1882 hinzogen und sich auf die nördlichen und baltischen Teile Russlands ausdehnten.


    Das erscheint mir wahrscheinlicher, als dass Scholem Alejchem noche einmal viele Kapitel überarbeitet haben sollte.
    Ich lese ab heute Nacht nun auch zu Ende, habe aber nicht viel Zeit.


    finsbury

  • Zuerst erfahren wir, dass und wie Golde gestorben ist – dann taucht der Heiratsvermittler wieder auf (im Musical war’s imo eine Heiratsvermittlerin): Pedozur ein reicher Mann hat ein Auge auf Tewjes jüngste Tochter, Bejlke, geworfen. Es dauert etwas, aber dann wird die Chuppe (Traubaldachin) gestellt. Als das junge Paar von der Hochzeitsreise aus Italien zurückkehrt, wird Tewje von seinem Schwiegersohn „vorgeladen“. Pedozur gibt Tewje eine „recht hübsche Summe“ aus seiner Brieftasche damit dieser mit dem Zug nach Odessa und von dort mit dem Schiff nach Jaffa fahren kann. Der Schwiegervater wird also ins Heilige Land abgeschoben.


    Hallo finsbury,


    im Materialordner habe ich nochmals zwei Links hinterlegt. Der zweite Link führt zu einem Dokument in dem es u.a. heißt, dass Scholem Alejchem den Roman zwischen 1894 und 1916 schrieb, die einzelnen Kapitel zunächst aber nur unabhängig voneinander in jiddischen Zeitungen erschienen (das klingt dann doch so, als ob zwischen dem Schreiben der einzelnen Episoden längere Zeiträume gelegen hätten) und die erste Buchausgabe auf Jiddisch erst 1924 in New York erschien. Wem soll man glauben?

  • Hallo Hubert und alle,


    nun habe ich die Lektüre - doch später als gedacht - beendet.
    Zu unseren Datierungsproblemen und der Schlampigkeit einiger Internet - auch Wikipediaseiten:

    Zitat von Hubert

    Auch den Erscheinungstermin 1894 habe ich inzwischen gefunden. Bei Wikipedia heißt es, allerdings zu Anatevka: „Die Geschichte spielt im Russischen Reich, im ukrainischen Dörfchen Anatevka, in der vorrevolutionären Zeit um 1905.“ Und auch auf der folgenden Seite, hier zum Roman, heißt es: „Die Handlung des Romans spielt um das Jahr1905 , kurz vor der Russischen Revolution, in den kleinen Dörfern Masepowka, Jehupez, Bojberik und Anatevka.“
    http://www.judentum-projekt.de…liter/alejchem/index.html



    Der Wikipediaautor zählt hier Jehupez, also Kiew, zu den kleinen Dörfern.


    Weiterhin: Das Musical heißt Anatevka, aber Tewje wohnt gar nicht dort, sondern der avisierte Ehemann für Zeitel, der wohlhabende Schlachter. Der Ort spielt im Roman kaum eine Rolle. Ich nehme an, dass er als Titel für das Musical genommen wurde, weil er aufgrund der Vokalkombination recht wohllautend ist.


    Trotz allem glaube ich weiterhin, dass der Roman in den Achtziger Jahren spielt. Ein weiterer Hinweis ist, dass im achten Kapitel Tewje aus seinem Dorf vertrieben wird, und diese Anweisung, die Juden vom Land zu vertreiben, erging, wie weiter oben (17. Juli) ausgeführt, von der Regierung 1882.


    In der einen deiner neu verlinkten Quellen heißt es:

    Zitat von http://www.litde.com/autoren/scholem-alejchen.php

    Sprinze ist ohne Mann, aber schwanger, und nimmt sich das Leben


    Hast du das mit der Schwangerschaft auch so herausgelesen, oder meint der Autor hier einen Topos, dass alle Mädchen, die unglücklich liebten und ins Wasser gingen, schwanger gewesen sein mussten.


    Aber das mit dem Erscheinungsdatum irritiert mich wirklich: Ich weiß nicht mehr, was da richtig sein soll. Kischinau und Hodels Revolutionär verweisen auf ein späteres Erscheinungsdatum. Allerdings gab es auch im 19. Jahrhundert in Russland zahlreiche revolutionäre Bewegungen, wie zum Beispiel den Dekabristenaufstand.


    Nun aber zum letzten Kapitel. Tewje wird nun unmittelbar vom Antisemitismus bedroht, allerdings auf eine tölpelhafte Weise und rettet sich durch seinen Glauben und seine Wortgewandtheit. Er versöhnt sich mit Chawe, so dass auch dieser Handlungsfaden abgeschlossen ist.


    Hinweise in diesem letzten und dem vorhergehenden Kapitel zeigen auch, dass der immer wieder erwähnte Brodskij ein reicher jüdischer Industrieller ist, denn Pedozur erhofft sich seinen Besuch, er wird mehrfach mit Rothschild in Zusammenhang gebracht und einmal wird ein Zeremonialgegenstand im Zusammenhang mit Brodskij kerwähnt, aber ich finde gerade die Stelle nicht.


    So, nun muss ich erstmal aufhören. Morgen noch eine Schlusstellungnahme.


    finsbury

  • Tewje und Scholem-Alejchem haben sich lange Zeit nicht gesehen. Wir erfahren, dass Tewje gar nicht ins Heilige Land gefahren ist, - der Grund: sein ältester Schwiegersohn, der Flickschneider Motel Kamisol fing zu hüsteln an, keine Ziegenmilch und keine Schokolade mit Honig half, er hüstelte bis er das letzte bisschen Lunge ausspie und Tewje musste sich nun um Zeitel und deren unmündige Kinder kümmern. Wir erfahren weiter, dass Pedozur, der Mann von Bejlke, sein Vermögen verlor und die Beiden inzwischen nach Amerika ausgewandert sind, wo sie Socken auf einer Maschine stricken und „ein Leben machen“.
    Inzwischen hat sich die Lage der Juden extrem verschlechtert und die Dorfbewohner überlegen, wie der Bürgermeister Tewje mitteilt, ob sie ihm nur die Scheiben einschlagen, weil sie ja eigentlich nichts gegen ihn persönlich haben oder doch seine Kate, samt Stall und Hausrat verbrennen, wie das jetzt wohl üblich ist. Bevor Tewje sein Dorf verlässt gibt es noch eine, von Zeitel eingefädelte, rührende Versöhnung mit Chawe, die zu ihren Leuten zurückkehrt.



    Das Musical heißt Anatevka, aber Tewje wohnt gar nicht dort, sondern der avisierte Ehemann für Zeitel, der wohlhabende Schlachter. Der Ort spielt im Roman kaum eine Rolle. Ich nehme an, dass er als Titel für das Musical genommen wurde, weil er aufgrund der Vokalkombination recht wohllautend ist.


    Hallo finsbury,


    im Roman wohnt Tewje nicht in Anatevka, im Musical schon. Wenn man eine epische Erzählung dramatisiert, muss man zwangsweise vereinfachen und so werden die verschiedenen Orte aus dem Roman im Musical zu Anatevka zusammen gefasst, sicher wie Du vermutest wegen des wohllautenden Namens im Unterschied zu z.B. Bojberik.


    Sprinzes Schwangerschaft, da hast Du Recht, steht nicht im Text und ich habe mir das Kapitel noch mal angesehen, imo gibt das der Text auch nicht her. Natürlich ist wikipedia noch nicht fehlerfrei, aber ich ziehe wikipedia inzwischen dem Kindler Literaturlexikon vor.


    Das Erscheinungsdatum, bzw. die – bleiben im Moment ein Rätsel, ich hoffe ja noch, dass meine Manesse-Ausgabe noch mal auftaucht, da gab es mehr Anmerkungen und auch ein Nachwort – vielleicht findet sich da des Rätsels Lösung.


    Grüße


    Hubert

  • Hallo Hubert und alle,


    nun, wie ist dein Gesamteindruck des Buches?
    Es hat mich aufgrund seiner Menschenfreundlichkeit und der traurigen Lebensschicksale vieler seiner Personen schon angerührt, aber wirklich mitgerissen hat es mich nicht.


    Der Text ist eine merkwürdige Mischung aus Idyll und Sozialkritik, Demut vor Gott und Humoreske.
    Ich habe im Umkreis der Lektüre einiges über die osteuropäisch-jüdische Kultur erfahren, ans Herz gewachsen sind mir die Personen, selbst Tewje, aber nicht. Vielleicht lese ich später noch einmal etwas von Scholem Alejchem, aber es drängt mich nicht unmittelbar dazu.


    Vielen Dank für die muntere Diskussionspartnerschaft und die vielen hilfreichen Anmerkungen


    finsbury

  • Der tschechische Autor und Übersetzer Peter Ambros hat Scholem Alejchems „Der Milchmann Tewje“ ins Deutsche übersetzt, eingelesen und als Hörbuch herausgeben. MDR FIGARO sendet vom 3. Sept. bis 31. Okt. 2012 eine Lesung mit Peter Ambros in 42 Teilen (tgl. montags bis freitags von 15:10 bis 15:25 Uhr). Die einzelnen Folgen kann man hier je zwei Wochen lang nachhören und herunterladen:


    http://www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/tewje102.html