Februar 2011: A. Stifter: Der Nachsommer


  • Könnte es sein, dass Stifter den Nachsommer eigentlich als eine Art Lehrbuch konzipiert hat und das pädagogische Anliegen des Werkes völlig verkannt worden ist? Mir kommt das Ganze wie eine Sammlung von Lehreinheiten vor ...


    Hallo Fee,


    "Pädagogisches Anliegen" trifft es mMn. nicht so ganz. Ich würde eher von einer positiven Utopie sprechen: "Seht her, so könnte es laufen, wenn, ja wenn der Mensch nur über ein wenig Bildung verfügte ..."


    Mittlerweile habe ich als Ergänzung zum "Nachsommer" die kleine Erzählung "Nachkommenschaften" begonnen. Sie gehört zu Stifters Spätwerk und ist beinahe so etwas wie ein "Nachsommer" en miniature. Mit einem Unterschied: Die dort auftretenden Menschen sind weniger eindimensional. Außerdem enthalten die Ausführungen des Ich-Erzählers eine Prise feinen Humors - etwas, was dem "Nachsommer" vollständig fehlte.


    Viele Grüße


    Tom


  • Ich verstehe immer noch nicht ganz, tut mir leid.


    Meinst Du den Plot? Du hast Recht: der ist Unsinn, aber der ist auch Nebensache. Es geht um die Stufenfolge menschlichen Wesens, Denkens: Naturerkenntnis, Kunsterkenntnis. Die Love Story? Erst recht Nebensache. Wichtig ist die Form, nicht der Inhalt.


    Den Plot selbst meine ich nicht. Der zyklische Aufbau (was Orte und themen betrifft) hat sogar was. Es fehlt die Differenzierung, FeeVerte charakterisiert es recht gut.


    Die Form mag das Wichtigste sein, allein damit wird das noch nicht zu einer Erzählung , eher zu einer Metaerzählung, also nicht nur ein "Lehrbuch" im Sinne von FeeVerte, sondern auch im Sinne der literarischen Form. " Eine neue Erzählstruktur am Beispiel einer unerträglisch seichten HAndlung" wäre der geeignete Titel. ;-) Erzählerisch ist das eher ein Leerbuch.


    Sir Thomas sieht eine positive Utopie in der Erzählung, was auch meiner Meinung nach zutrifft, allerdings nicht in einer Auseinandersetzung der Relalität, sondern in der Ignoranz zur Wirklichkeit.

  • Als soziale Utopie kann man das Buch auf jeden Fall auch lesen, das liegt ja nahe. Ich würde zwar eher trivialliterarische (etwa analog zu denen der Gartenlaube) als sozialkritische Tendenzen vermuten, aber letztendlich schließt sich ja beides nicht aus. Die eigentliche Stärke des Buches sehe ich jedenfalls in der durchaus unterhaltsamen Art der Wissensvermittlung, oder wie die Gartenlaube es ausgedrückt hätte, in der Belehrung und Unterhaltung. Wäre ich Durchschnittsleser von 1860, ich hätte den Nachsommer wegen seiner hochinstruktiven Ausführungen über Mistbeete und Zimmergymnastik gekauft und nicht wegen des tollen Plots und dem atemberaubend radikalen Gesellschaftsentwurf.


    Vielleicht ist der Nachsommer auch eine Art privates eskapistisches Projekt, mit dem Stifter sein Scheitern zu bewältigen versuchte. Er war ja möglicherweise Studienabbrecher genug, um der Überlegung nachzuhängen, was aus ihm alles hätte werden können, wäre er unter günstigen Bedingungen - wie den im Buch geschilderten - erzogen und ausgebildet worden.


    Oder es ist eine den einsitzenden 48ern gewidmete Satire, wer weiß das schon so genau. :breitgrins:

    Einmal editiert, zuletzt von FeeVerte ()

  • So, jetzt funke ich auch noch dazwischen:



    Sebalds Stifter-Essay in Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke habe ich jetzt gelesen und muss hier vehement widersprechen. Es ist das beste, was ich bislang über Stifter gelesen habe! Vieles, was in der Leserunde angesprochen wurde und z. T. als Frage offen blieb, kommt hier zur Sprache. Kostprobe:


    Stifter nennt zwar den Nachsommer eine Erzählung, in Wirklichkeit aber handelt es sich hier um einen utopischen Entwurf, um ein jenseits der Zeit ... bis ins Detail harmonisiertes Modell …
    Nirgends im Nachsommer begegnet man einem Wesen, das nicht im Gesamtplan dieses orbis pictus seine präordinierte Form hätte … auf der Insel der Seligen, die Stifter für die Gestalten des Nachsommer geschaffen hat, lebt das Leben nicht mehr. Die reine Idealität kann sich nur in einem hermetischen Stil übertragen, der geeignet ist, den schönen Entwurf eines homöostatischen Gleichgewichts in den menschlichen Beziehungen sowie im Verhältnis von Mensch und Natur … ein für allemal zu fixieren. Das spezifische Stiläquivalent dieses Programms ist das Stilleben, also die nature morte, in der die Abbildungstechnik Stifters ihren Inbegriff hat.


    Ja, und das hat für Sebald nichts mit Affirmation, Apologie oder restaurativem Eskapismus zu tun. Er spürt im Werk Stifters vielmehr einen profunden Agnostizismus, einen ins Komische ausgeweiteten Pessimismus und speziell eine bislang so noch nicht dagewesene Skepsis in Anbetracht der Ausbreitung der Zivilisation auf, gegen die Stifter anschreibe. In der Stifterschen Idylle sieht Sebald die gesellschaftliche und individuelle Realität quasi gegenbildlich gespiegelt. Zum Beispiel so:
    Die skrupulöse Registrierung winzigster Details, die schier endlosen Aufzählungen dessen, was – seltsamerweise- tatsächlich da ist, tragen alle Anzeichen des Unglaubens … Der eigenartige Objektivismus der Stifterschen Prosa … verschreibt sich den Dingen in der Hoffnung auf Dauer und macht doch gerade durch solche Identifikation in ihnen den Zerfall der Zeit sichtbar.
    Also kein biedermeierlicher Käfer- und Blumenpoet!


    Der aus einer Habilitationsschrift Sebalds hervorgegangene Essay, von dem ich hier naturgemäß nur Bruchstückhaftes vermitteln konnte, ist gerade für Stifter-Liebhaber äußerst lesenswert! Denn er ist mit profunder Sachkenntnis, besonders auch was die Stifter-Rezeption betrifft, und mit großer Empathie für den Dichter und Menschen Stifter und die schwierige Schönheit seines Werkes geschrieben. The anatomist of Melancholy heißt ein englischer Gedenkband für W.G. Sebald.

    Einziger „Nachteil“ des Essays: Er ist so brillant, geistreich und verdichtet, dass er seinerseits stellenweise schon wieder der Interpretation bedarf. Ein Essay eben.
    Übrigens geht es nicht nur um den Nachsommer, sondern auch um andere Werke Stifters.

  • Hallo Gontscharoww, vielleicht fehlt es mir an Phantasie und bestimmt an Sachkenntnis, aber einen raffinierten agnostizistischen Wurf erkenne ich in diesem 731seitigen Schulmädchenaufsatz nun wirklich nicht. Vielleicht ist er da von ehrgeizigen Habilitanden doch etwas überinterpretiert worden. :smile:


  • Der eigenartige Objektivismus der Stifterschen Prosa … verschreibt sich den Dingen in der Hoffnung auf Dauer und macht doch gerade durch solche Identifikation in ihnen den Zerfall der Zeit sichtbar.


    Gefällt mir äußerst gut. Deshalb sehe ich auch Stifter im Heute gespiegelt, denn meine eher pessimistische Haltung gegenüber der Menschheit und der Welt ist ähnlich.


    LG
    Anita

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"


  • Du solltest ihr aufhelfen, indem du den Artikel liest. Es lohnt sich!


    Wie (fast) alles von diesem wunderbaren, in Deutschland viel zu wenig bekannten Schriftsteller!


    Ja! Ich bin nun durchaus kein "Nachsommer-Fan" (und werde - eingedenk Losts Zurückhaltung und anderer eigener Erfahrungen - dies nicht genauer spezifizieren), aber Sebalds Essay ist sehr lesbar (egal ob man seinen Schlussfolgerungen zustimmt oder nicht). Wenn man ihn "nur" referiert mag manches abgehoben klingen, tatsächlich aber hat sich da jemand wirklich klug und gar nicht verstiegen geäußert. (Der schönste Essay aus dieser Sammlung ist m. E. jener über Peter Altenberg, ein ganz außergewöhnliches Stück Literatur.)


    Grüße


    s.

  • Ja! Ich bin nun durchaus kein "Nachsommer-Fan" (und werde - eingedenk Losts Zurückhaltung und anderer eigener Erfahrungen - dies nicht genauer spezifizieren), aber Sebalds Essay ist sehr lesbar (egal ob man seinen Schlussfolgerungen zustimmt oder nicht). Wenn man ihn "nur" referiert mag manches abgehoben klingen, tatsächlich aber hat sich da jemand wirklich klug und gar nicht verstiegen geäußert. (Der schönste Essay aus dieser Sammlung ist m. E. jener über Peter Altenberg, ein ganz außergewöhnliches Stück Literatur.)


    Dann werde ich wohl nicht drumrumkommen um den Sebald.

  • Gut, vielleicht habe ich Sebald Unrecht getan. Ich werde aber seine Essays in naher Zukunft dennoch nicht lesen. ;)


    Lost: Ich denke, wir meinen schon dasselbe. Die nackte Handlung, inkl. Motivation und Gestaltung der Figuren sind - bis auf den kleinen Riss, den der junge Risach zeigt - tatsächlich "unerträglich" und "seicht".


    "Melancholie" halte ich für ein gutes Stichwort. Die dunkle Seite der Macht ... ähm ... im Wesen eines Menschen, die ihn zu Höchstleistungen anspornt. Und sei es nur im Nachgestalten und im Sammeln. Die Nachsommer'schen Figuren sind ja alles Nachempfinder, Nachgestalter und Sammler. Sie sammeln im Bewusstsein dessen, dass, was sie sammeln, im Grunde genommen dem Untergang geweiht ist. Ob Gemälde oder Fassungen für Juwelen und Perlen: Ihr Geschmack ist veraltet, geschult an einer Zeit, die schon längst vorbei ist. Der Vater des Erzählers liest die griechischen Klassiker im Original, weil mit dem Einbruch des Christentums ein radikaler Bruch in sämtlichen Sprachen erfolgt sei, und nur so dem Original Genüge getan werden kann. Ergo: Utopie ja. Aber eigentlich rückwärts gewandt, gestaltet im Bewusstsein dessen, dass sie nur inselartig und post festum errichtet werden kann.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • "Melancholie" halte ich für ein gutes Stichwort. Die dunkle Seite der Macht ... ähm ... im Wesen eines Menschen, die ihn zu Höchstleistungen anspornt. Und sei es nur im Nachgestalten und im Sammeln. Die Nachsommer'schen Figuren sind ja alles Nachempfinder, Nachgestalter und Sammler. Sie sammeln im Bewusstsein dessen, dass, was sie sammeln, im Grunde genommen dem Untergang geweiht ist.


    Nee, finde ich gar nicht. Weil:


    »Ich glaube,« entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus.«


    Sammeln als Investition in die Zukunft und in den wissenschaftlichen Fortschritt. Erstmal die empirische Grundlage schaffen, ehe es an die Theorienbildung geht. Also wenn das kein Erkenntnisoptimismus in bester aufklärerischer Tradition ist.


  • Der Vater des Erzählers liest die griechischen Klassiker im Original, weil mit dem Einbruch des Christentums ein radikaler Bruch in sämtlichen Sprachen erfolgt sei, und nur so dem Original Genüge getan werden kann. Ergo: Utopie ja. Aber eigentlich rückwärts gewandt, gestaltet im Bewusstsein dessen, dass sie nur inselartig und post festum errichtet werden kann.


    Hattest du nicht schon ein Mal darauf hingewiesen, dass Utopien fast(?) immer rückwärts gerichtet sind? Nach meinen bescheidenen Erfahrungen mit utopischen Werken würde ich dem zustimmen, ausgenommen bei den technischen Utopien, die letztlich auch Gesellschaftsentwürfe sind.
    Mir erschien auch die Lebenserzählung von Heinrichs Mentor, soweit sie Kindheit und Jugend betrifft, dicht an Stifters Leben angelehnt, um dann, vermute ich, tatsächlich in einen melancholischen, biographischen Traum Stifters hinüberzuwechseln. Sebald erwähnt auch die pädagogische Begabung Stifters, was Tom bestimmt im Auge für seine Thesen hat. Der Bildungsprozess in der Erzählung bleibt aber im geschlossenen Rahmen und wirkt nicht ins Umfeld, außer in gönnerhaften Attitüden, was den Nachsommer von echten utopischen Entwürfen unterscheidet, die allgemein beglückend sind. Was noch bei Sebald hervorsticht ist der Hinweis auf den Materialismus der Erzählung. Tatsächlich werden die häufig die geistigen Bezüge zwischen den Hauptfiguren an materiellen Gegenständen ausgearbeitet.
    Heinrichs Dasein lässt sich am Schluss eigentlich nur parallel, aber ohne Umweg, zu dem seines Mentors vorstellen. Damit wird eine selbstreferierende Utopie einer abgeschotteten Kaste entworfen, wenn man die Erzählung weiter denkt.

  • Zum Thema Melancholie:


    Robert Burton: The Anatomy of Melancholy
    [kaufen='0940322668'][/kaufen]


    und:


    Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie: Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst
    [kaufen='3518286102'][/kaufen]


    :winken:

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  • Hattest du nicht schon ein Mal darauf hingewiesen, dass Utopien fast(?) immer rückwärts gerichtet sind? Nach meinen bescheidenen Erfahrungen mit utopischen Werken würde ich dem zustimmen, ausgenommen bei den technischen Utopien, die letztlich auch Gesellschaftsentwürfe sind.


    Ja. Technische Utopien ... hm ... selbst da wäre ich zurückhaltend. Sie sind eigentlich nur in der Chronologie vorwärts gerichtet. Im Grunde genommen nehmen sie, was sie aktuell an "Technik" vorfinden und vergrössern es ins Unermessliche. Technische Utopien, die wirklich etwas Neues hervorbringen, sind selten. Technische Utopien, die eine spätere Entwicklung auch nur annähernd vorhersagen, gibt es praktisch keine. Lem in seinen Schriften zur Futurologie hält das schon fest.


    Heinrichs Dasein lässt sich am Schluss eigentlich nur parallel, aber ohne Umweg, zu dem seines Mentors vorstellen. Damit wird eine selbstreferierende Utopie einer abgeschotteten Kaste entworfen, wenn man die Erzählung weiter denkt.


    Sie lebt in der Tradition der von ihr so verehrten griechischen Antike, die so nur existieren konnte, weil Athens Staatswesen auf dem Müssiggang einer dünnen herrschenden Schicht und der Arbeit von vielen, vielen Sklaven aufgebaut war. Und "Menschen" waren natürlich nur die Herrscher. Selbst Utopia bedient sich der Sklaven und lässt fremde Völker für sich Krieg führen. Wieviele - nicht wirklich ernst genommene - Arbeiter und Dienstboten wuseln im Nachsommer herum?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • "Melancholie" halte ich für ein gutes Stichwort. ... Die Nachsommer'schen Figuren sind ja alles Nachempfinder, Nachgestalter und Sammler. Sie sammeln im Bewusstsein dessen, dass, was sie sammeln, im Grunde genommen dem Untergang geweiht ist.


    Das habe ich ebenso empfunden. Hast Du deshalb Robert Burtons "Anatomy of melancholy" in die Materialsammlung aufgenommen?



    »Ich glaube,« entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus.«


    Sammeln als Investition in die Zukunft und in den wissenschaftlichen Fortschritt. Erstmal die empirische Grundlage schaffen, ehe es an die Theorienbildung geht. Also wenn das kein Erkenntnisoptimismus in bester aufklärerischer Tradition ist.


    Über diese Stelle bin ich auch gestolpert. Aber ist in dem Verweis auf "entfernte" Zeiten nicht auch so etwas wie Resignation in Bezug auf die Gegenwart enthalten? Echter Optimismus klingt jedenfalls anders.


    LG


    Tom

  • Wenn ihr gestattet, werde ich mich nun aus der Diskussion zurück ziehen.


    Ich glaube nichts mehr Sinnvolles beitragen zu können und irgendwie denke ich ständig an Themen, die mit dem Buch und euren Bemerkungen zusammenhängen, möchte mich aber jetzt Pepys widmen.


    Von euch habe ich einiges gelernt, was mir bei den nächsten Lektüren vielleicht über Verständnishürden hinweg hilft.


    Insgesamt hat sich damit die Lektüre gelohnt und dient nicht nur zur Angeberei. :zwinker:


    Großen Dank an die ganze Bande, die hier mit diskutiert und mir Verständnis entgegen gebracht hat. :winken:

  • Wenn ihr gestattet, werde ich mich nun aus der Diskussion zurück ziehen.


    Und wenn wir's nicht gestatten? :breitgrins:


    und irgendwie denke ich ständig an Themen, die mit dem Buch und euren Bemerkungen zusammenhängen, möchte mich aber jetzt Pepys widmen.


    Damit wäre wohl das Ziel einer Leserunde erreicht. Und wohl auch das des Nachsommers. Übrigens: Pepys wäre da sicher sehr tolerant gewesen und aktzeptierte es, dass Du bei seiner Lektüre auch noch an was anderes denkst. (Zugegeben: Wenn Du jetzt gesagt hättest, dass Du an Deiner Nachbarin schöne Brüstlein denkst, hätte er sicher noch mehr Verständnis aufgebracht. Ich habe gerade drei oder vier der schwächsten Seiten des Nachsommer gelesen: Die im Dritten Buch, wo sich Natalie und der Erzähler ihre Liebe gestehen. So was von edel und unsinnlich gibt's nicht mal bei Walt Disney ...)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Das habe ich ebenso empfunden. Hast Du deshalb Robert Burtons "Anatomy of melancholy" in die Materialsammlung aufgenommen?



    Über diese Stelle bin ich auch gestolpert. Aber ist in dem Verweis auf "entfernte" Zeiten nicht auch so etwas wie Resignation in Bezug auf die Gegenwart enthalten? Echter Optimismus klingt jedenfalls anders.


    Naja, Erkenntnisoptimismus als epistemischer Wert hat ja nicht unbedingt was mit "echtem" Optimismus zu tun. Was die Resignation in Bezug auf die Gegenwart angeht, so ist Stifter da aber irgendwie auch nicht ganz eindeutig. Bin grade bei dem kleinen geschichtsphilosophischen Exkurs in "Das Fest". Die Gegenwart ist eine (offenbar ziemlich mittelmäßige) Übergangszeit zwischen der großartigen Antike und einer nicht minder großartigen Zukunft. Man stehe zwar noch "ganz am Anfange des Anfangs", aber "es wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nie dagewesen ist". Immerhin.

  • Ich lese - allen Hindernissen zum Trotz - noch immer schön langsam weiter und bin jetzt dort, wo Gustav von Risach seine Love-Story erzählt. Welche Blauäugigkeit der Eltern Mathildens, das pubertierende Mädel tagelang praktisch unbeaufsichtigt in der Nähe eines jungen Mannes (ich schätze, Risach war damals maximal 25) zu lassen. Und dazu noch in einer Einsamkeit, wie wir sie uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Das musste ja zu einer Katastrophe führen.

    Im übrigen fand ich, dass sich die Lebensläufe der beiden Vaterfiguren, Risach und "der Vater", doch sehr ähneln. Während der Vater Mathildens dann der reiche und unbekümmerte Amateur ist, den wir im Erzähler wiederfinden.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • So, aufgelesen. Ob der Nachsommer ein Schundroman für Höhere Töchter oder ein in seiner radikalen Artifizialität richtungweisender präpostmoderner Geniestreich ist, ist sicherlich eine Frage der Interpretation. Für mich jedenfalls war der Punkt, an dem das Erhabene endgültig ins Lächerliche kippte, bei den Dialogen Heinrich-Natalie und Risach-Mathilde erreicht.


    Interessant war die Lektüre aber trotzdem, und der Sebald ist vorgemerkt.


    Na dann... :winken:

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