Februar 2011: A. Stifter: Der Nachsommer


  • Ich frage mich nach 4 Kapiteln, wie Stifter so eine zeitentrückte Sicht auf die Welt entwickeln konnte.


    Ja, und ich frage mich, warum der in den ersten beiden Kapiteln geschilderte Werdegang des Erzählers so absolut blutleer und kraftlos auf mich wirkt. Erschreckend wahllos häuft er Wissen unterschiedlichster Gebiete an – ohne einen irgendwie zugrunde gelegten oder erkennbaren Zusammenhang, quasi ein Wissen um des Wissens willen. Das ist nicht unbedingt zu verurteilen, zeugt aber letztlich von (noch) nicht vorhandenen Maßstäben für die Einordnung des Wissens in Kategorien wie Nützlichkeit, Ästhetik o.ä.. Möglicherweise wird die allmähliche Entwicklung dieser Kategorien eines der Hauptthemen des Buchs (das wäre zumindest im Sinne eines sog. Bildungsromans durchaus folgerichtig).


    LG


    Tom

  • Danke Gontscharow, das passt wirklich gut in das Bild, welches ich mir so nach und nach von Stifter mache.

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Müssiggang ist gerade das, was ich nicht erkenne, [...]


    Nein? Unser Erzähler verbringt einen Sommer lang damit, die Alpen kennezulernen, indem er mal kurz einen Ausflug dahin und ein bisschen hinein macht. Das war dann schon sein Sommer ... Kein Müssiggang? :)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Nein? Unser Erzähler verbringt einen Sommer lang damit, die Alpen kennezulernen, indem er mal kurz einen Ausflug dahin und ein bisschen hinein macht. Das war dann schon sein Sommer ... Kein Müssiggang? :)


    Wenn ich zwischen den Zeilen lese, dann war sein sein Ausflug mit wissenschaftlichen Studien verbunden. Aber meinetwegen soll es auch Müssiggang sein, was es dann immer ist, wenn jemand für sein Brot nicht arbeiten muss und seinen Neigungen nachgehen kann. Es ist überhaupt ein Charakteristikum der ersten Kapitel, dass man manchmal nur sehr allgemein erfährt, was ihn so beschäftigt und welche Gefühle er hegt. Auch wird nirgendwo erwähnt, welchen Handel der Vater treibt, obwohl vom Geschäft mehrmals die Rede ist. Mir scheint, als würde Stifter all seine eigenen Kenntnisse zusammenraffen um uns in diese einzuführen. Es mag viele Hebungen und Senkungen haben 8ich verstehe rein gar nichts davon), aber das fünfte Kapitel zum Beispiel ist lediglich ein Vademekum des ökologischen Landbaus und könnte heute auch im "Hausbüchlein des kleinen Biogärtners" stehen.

  • Kapitel 4


    ... noch nicht fertig gelesen, aber: Wie subtil Stifter die Weltesche Yggdrasil einbaut ... Selbst ein Raabe war da bedeutend weniger elegant ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Kapitel 4


    ... noch nicht fertig gelesen, aber: Wie subtil Stifter die Weltesche Yggdrasil einbaut ... Selbst ein Raabe war da bedeutend weniger elegant ...


    Ich verstehe so wenig davon, dass ich noch nicht ein Mal beurteilen kann, ob es Ernst oder ein Jux ist, was du schreibst. :sauer:


  • Kapitel 4


    ... noch nicht fertig gelesen, aber: Wie subtil Stifter die Weltesche Yggdrasil einbaut ... Selbst ein Raabe war da bedeutend weniger elegant ...


    Danke sandhofer :smile: Für weitere hilfreiche Anmerkungen wäre ich dir sehr verbunden, um so runder und grandioser wird die Lektüre.
    War eigentlich Stifter irgendwie so in der Art oder Richtung eines Pantheisten?

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich verstehe so wenig davon, dass ich noch nicht ein Mal beurteilen kann, ob es Ernst oder ein Jux ist, was du schreibst. :sauer:


    Nö, war schon mein Ernst: Die Esche, unter die sich (der noch nicht namentlich genannte) Risach und der (ebenfalls namenlose) Ich-Erzähler setzen im aufkommenden (oder eben nicht aufkommenden) Gewitter, von wo aus sie die Umgebung und alle Nachbarn beäugen - eben die Welt des Risach. Während Raabe mit der Weltesche namentlich kokettiert.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke Sandhofer für die Erläuterung.


    Entgegen meinen Gewohnheiten mich nicht durch Sekundärliteratur konditionieren zu lassen, werde ich nun, nachdem ich das Kapitel "Die Begegnung" beendet habe, den Aufsatz von W.G.Sebald über Stifter lesen.
    Bis jetzt habe ich den Eindruck einen Groschenroman zu lesen.


  • , den Aufsatz von W.G.Sebald über Stifter lesen.


    Falls du diesen Aufsatz als erleuchtend empfinden solltest, melde dich kurz, dann bestelle ich mir das Buch auch :zwinker:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Falls du diesen Aufsatz als erleuchtend empfinden solltest, melde dich kurz, dann bestelle ich mir das Buch auch :zwinker:


    Dar Aufsatz "Bis an den Rand der Natur, Versuch über Stifter", findet sich in: W.G. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks.


    Sebald sieht im "Nachsommer" einen utopischen Gegenentwurf zur zeitgenössischen Literatur. Anders als ich armer Leser, hat er natürlich die wissenschaftliche Distanz eines Pathologen und untersucht diesen Aspekt ohne zu werten. Den größten Teil seiner Betrachtungen über Stifter widmet er aber einem Psychogramm des Dichters, das er aus den Erzählungen entwickelt. Stifters Naturschilderungen werden zur "Portraitierung weiblicher Wesen", päderastische Neigungen werden Stifter unterstellt und von Fetischismus ist die Rede.


    Wenn ich dieses mit meinen Eindrücken aus den ersten 6 Kapiteln verbinde, so muss Stifter ein Mensch gewesen sein, der sich in jedem Detail unverstanden gefühlt hat, der seine Umwelt innerlich ablehnte, ihr mit Angst begegnete und in literarische Tagträume einer idealen Welt flüchtete.


    Die geologischen Betrachtungen haben mir übrigens gefallen, die Fragestellungen unseres Autodidakten lassen sich nachempfinden. Aufgefallen ist mir, dass Stifter in einigen Kapiteln die Himmelsrichtungen durch Tageszeiten benennt, im Kapitel, das zum Teil auf dem Sternenhof spielt, aber die direkten Bezeichnungen verwendet.
    Das hat bestimmt tiefe tiefenpsychlogische Gründe, die tiefsinnig zu analysieren sind. Dazu sein meine Kenntnisse allerdings nicht vertieft genug ;-)

  • Im Kapitel "Die Annäherung" liest man folgende Stelle, nachdem die Marmorstatute eines Mädchens begutachtet wurde:

    Zitat


    Wenn nun vollends schon eine schwache Abenddämmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberfläche des Marmors den Widerschein der Blitze, und während wir so auf und nieder gingen, war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und nur die hölzernen Türen standen dunkel in dem Feuer oder zeigten ihre düstere Fügung.



    Folgt man Sebald, so lassen sich diese Sätze in reine Pornographie übersetzen.

  • Sagen wir mal so, wo du das nun gerade so ansprichst aus Sebalds Mund, hier haben wir einen jungen Mann, namens Heinrich, der zwar ab und an eine gewisse Natascha anschaut, der Leser mitbekommt da könnten irgendwelche Gefühle aufkommen, aber von Verpaarungen im Menschengeschlecht ist nirgendwo Platz. Vögel verpaaren sich überall, aber noch nicht einmal der Alte geht andeutungsweise vielleicht so bisschen, so ein winziges bisschen mit Mathilde Händchen halten, nein nirgendwo ... :angst:


    So, wo du das sagst, eine sexuelle Anspielung bei dieser wunderschönen Marmorfigur eines Mädchen habe ich schon aus dieser Szene heraus gelesen, der Junge ist voll im Saft, er kann ja nicht nur in Wissenschaft und ab dem zweiten Band in Kunst leben, körperliche Ansprüche hat man doch auch ... oder?

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

    Einmal editiert, zuletzt von Anita ()

  • Tja Anita, die hormonelle Seite unseres Erzählers wird angedeutet bei seinen ersten Erwähnungen weiblicher Wesen. Was mich nun fragen lässt, nach Sebalds Aufsatz, ist: was steckt hinter den Umschreibungen was sich auf den Dichter Stifter selbst bezieht. Die ganze Erzählung ist ja ein Tagtraum, völlig undifferenziert, was die Beschreibung des Lebens angeht, erstaunlich differenziert, was Wissen und Erkenntnis betrifft.


  • Die ganze Erzählung ist ja ein Tagtraum, völlig undifferenziert, was die Beschreibung des Lebens angeht, erstaunlich differenziert, was Wissen und Erkenntnis betrifft.


    Okay, wenn dies dann wirklich so sei, dann ist vielleicht das Küken noch zu jung, warten wir der Jahre ab bis es zur Knospe erwacht und sich der Akt völlig undifferenziert ins Lebens anschmiegt :breitgrins:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Pythagoras, bzw. die Scholastik, war der Meinung, man könnte Gott intellektuell, v.a. über die Mathematik erfassen. "Gott muss Mathematiker sein." Erinnert mich irgendwie an den jungen Ich-Erzähler hier bei Stifter.
    [hr]


    Sebald ... ich war drauf und dran, mich für diesen Autor zu interessieren, aber, wenn er wirklich solchen Quatsch von sich gibt:


    Stifters Naturschilderungen werden zur "Portraitierung weiblicher Wesen", päderastische Neigungen werden Stifter unterstellt und von Fetischismus ist die Rede.


    Nö. Muss nicht sein.


    Billige Laienpyschologie. Da hat einer zu viel Freud gelesen. Nu hat er rhethorisches Bauchgrimmen und intellektuelle Diarrhoë. :grmpf:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Nicht abschrecken lassen. Sebalds Prosa (beim Nachsommer fand ich Stellen, die mir rhythmisch ähnlich klangen), hat einen eigenen Charakter.
    Eine Biographie über Stifter habe ich nicht gelesen, die kurzen Lebensbeschreibungen aus dem Internet haben bei mir aber auch den Eindruck geweckt, Stifter hätte auf die Ledercouch gehört.

  • die kurzen Lebensbeschreibungen aus dem Internet haben bei mir aber auch den Eindruck geweckt, Stifter hätte auf die Ledercouch gehört.


    Wie einer meiner Lieblinge, Zeit-, Religions- und Landsgenosse von Siegmund (nämlich Karl Kraus) einmal geschrieben hat: "Psychoanalyse ist die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält." ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Billige Laienpyschologie. Da hat einer zu viel Freud gelesen.


    Ich kann dieses Psychologisieren auch nur schwer bis garnicht ertragen. Wenn ich bedenke, wie viel Stuss in der Sekundärliteratur zu Kafka verfasst wurde, sollten wir Stifter vielleicht ein wenig verschonen ... :zwinker:


    Ich bin mittlerweile tief in den zweiten Band vorgestossen. Die Betrachtungen und Reflektionen über Literatur und Kunst gefallen mir ausgesprochen gut - jedenfalls besser als die naturwisschenschaftlichen Gedanken des ersten Bands. Ich muss meine Eindrücke noch ein wenig sortieren und komme ggf. später darauf zurück.


    Viele Grüße


    Tom

  • Stifters Kunstverständnis und -ästhetik


    Obwohl der sog. „Gastfreund“ das geschriebene Wort der Dichter in einem seiner langen Monologe als die höchste aller Künste preist und verehrt (und damit sicher die Meinung des Autors wiedergibt), verwendet er später ein Werk der bildenden Kunst, um seine ästhetischen Ansichten zu erläutern – und zwar die griechische Marmorstatue.


    «Das ist eben das Wesen der besten Werke der alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst überhaupt, dass man keine einzelnen Theile oder einzelnen Absichten findet, von denen man sagen kann, das ist das schönste, sondern das Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das schönste; die Theile sind blos natürlich.» Darin scheint mir so etwas wie des Pudels Kern zu liegen. In diesem Sinne hat Stifter vielleicht auch den „Nachsommer“ als Werk konzipiert, dessen Einzelteile nur in der Gesamtschau zur Wirkung gelangen.


    Mir ist übrigens aufgefallen, dass die Werke der griechischen Antike als Ausdruck heiterster Gemütsverfassung interpretiert werden. Hier fällt Stifter weit zurück in die Zeiten Winckelmanns, Schillers und Goethes. Auch wenn Nietzsches „Geburt der Tragödie ...“ erst 15 Jahre nach dem „Nachsommer“ erschien: War die Sichtweise der griechischen Antike („glücklich, unbefangen und heiter“) zu Stifters Zeiten nicht längst einer realistischen Betrachtung gewichen? Ich bin nicht sicher und wüsste auch nicht, wo man das einmal nachschlagen könnte.


    LG


    Tom