Jänner 2011: Franz Kafka - Amerika (Der Verschollene)

  • Hallo,


    nachdem ich das erste Kapitel gelesen habe, stellen sich gleich mehrere Fragen:



    [li]Hat Karl den Heizer im Stich gelassen? War er denn überhaupt für dessen "Verteidigung" verantwortlich?[/li]
    [li]Wer lügt? Ein Beispiel: Kann wirklich der Brief an den Onkel "lange Irrfahrten" erlebt haben, nachdem die Überfahrt wohl nur fünf Nächte gedauert hat? Oder wusste das Dienstmädchen schon so viel früher, mit welchem Schiff Karl reisen wird?[/li]
    [li]Sind die andauernden Unterstellungen von Karl angemessen? Schubals Erscheinen interpretiert Karl ausschließlich nachteilig und vermutet hinter jedem Umstand "Gaunerei" - wofür doch zunächst nicht mehr spricht, als etwa dagegen, oder?[/li]


    Eine subjektive, fast manipulative Schilderung, wie mir scheint.

    Schöne Grüße, Niclas

    "Das Ganze ist das Unwahre" - Theodor W. Adorno - Minima Moralia


  • nachdem ich das erste Kapitel gelesen habe, stellen sich gleich mehrere Fragen:


    Hallo Niclas,
    hallo zusammen,


    auch ich habe heute mit Kafkas „Verschollenem“ begonnen, aber da wieder einmal
    „Zu viel Zeit mit lesefernen Ablenkungen verplempert“ um mal Markus zu zitieren, habe ich das erste Kapitel nicht geschafft und will deshalb auf Deine Fragen auch erst eingehen, wenn ich lesetechnisch dazu in der Lage bin. Aber auch der erste Absatz hat es ja schon in sich:


    „Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.“


    Wie immer bei Kafka ein starker Anfang, kompakt aber mit sehr viel Information.


    Ist der Protagonist des Romans Karl Rossmann am Ende gar kein Verschollener, sondern ein Vertriebener oder zu mindest Verstoßener? Ein ungeliebter Sohn? – oder haben seine armen Eltern keine andere Wahl (ein Märchenmotiv der Grimm-Brothers), weil sie die Alimenten an das Dienstmädchen nicht bezahlen können?


    Die, mit Sockel 93 Meter hohe, Freiheitsstatue „Liberty Enlightening the World“, ein Geschenk Frankreichs an die USA auf Liberty Island im New Yorker Hafen begrüßt wie auch das folgende Bild zeigt, Einwanderer mit einer in der erhobenen rechten Hand gehaltenen Fackel mit goldbeschichteter Flamme:


    http://static.rp-online.de/lay…-0529_Freiheitsstatue.jpg


    Warum beschreibt sie Kafka statt mit einer Fackel mit einem Schwert in der Hand? Soll das heißen für Karl Rossmann beginnt in Amerika nicht die Freiheit sondern der Kampf ums Überleben oder ist das schon im ersten Absatz eine Amerikakritik, weil die USA ja ein Land der Unterdrückung (Indianerkriege, Negersklaven usw.) und nicht der Freiheit sind. In diesem Zusammenhang ein Zitat des irischen Literaturnobelpreisträgers George Bernard Shaw: „Man nennt mich allenthalben einen Meister der Ironie, aber auf die Idee, ausgerechnet im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten, wäre nicht einmal ich gekommen.“


    Fragen über Fragen?

  • Hallo,


    ich habe auch begonnen. Vier Seiten trennen mich noch vom Ende des ersten Kapitels, aber ich will trotzdem schon mal meinen Senf dazu abgeben.




    War er denn überhaupt für dessen "Verteidigung" verantwortlich?


    Das ist eine gute Frage und ich würde sie mit nein beantworten. Mich hat der Anfang gleich mal verwirrt. Unser Karl scheint überhaupt ein Mensch zu sein, der sich leicht beeinflussen lässt. Immerhin kennt er nur eine Seite der Geschichte, nämlich die des Heizers und schon bildet er sich ein Urteil. Mehr noch, er verurteilt den anderen gleich mal dazu schlechte Absichten zu haben und das kann ich nicht verstehen. Warum ist ihm das so wichtig? Warum übernimmt er dessen Verteidigung überhaupt und wieso mischt er sich mit so viel Engagement in diese Geschichte, die ihn nichts angeht?




    Sind die andauernden Unterstellungen von Karl angemessen? Schubals Erscheinen interpretiert Karl ausschließlich nachteilig und vermutet hinter jedem Umstand "Gaunerei" - wofür doch zunächst nicht mehr spricht, als etwa dagegen, oder?


    Genau das meinte ich. Karls Unterstellungen sind meiner Ansicht nach nicht angemessen. Immerhin kennt er nur eine Seite der Medaille und nicht beide. Ich denke, er lässt sich vom Heizer manipulieren und ergreift so Partei. Die Frage ist nur: Was hat der andere davon? Und glauben beide, dass sie den Kapitän so einfach überrumpeln können?


    Dass dann auch noch der Onkel auftaucht ist echt Zufall und typisch für Kafka, gleich am Anfang unvorhergesehenes geschehen zu lassen.


    Ansonsten merke ich beim Lesen, dass ich mich an die Geschichte nicht mehr wirklich erinnern kann. Vielleicht kommt das noch, wenn ich mehr gelesen habe.


    Katrin

  • Hallo zusammen,
    ich habe ebenfalls das erste Kapitel erfolgreich beendet. In meiner Ausgabe (in der Fassung der Handschrift) wirken einige Satzstrukturen auf mich ungewohnt und die mir bekannte Rechtschreibung wird auch nicht immer eingehalten, doch nach einiger Zeit gewöhnt man sich an "Kafkas Sprache".



    Hat Karl den Heizer im Stich gelassen? War er denn überhaupt für dessen "Verteidigung" verantwortlich?



    Ich denke, dass sich Karl bewusst in die Verteidigerrolle gedrängt hat. Durch seine gezeigte Interesse an dem Konflikt zwischen dem Heizer und Schubal erkennt man - meiner Meinung nach - bereits seinen Kampf gegen das vermeintlich Ungerechte. Doch steht seine Einschätzung von Schubal im Gegensatz zu jeglicher Objektivität.Somit zieht er durch sein Einmischen Verantwortung auf sich, die er regulär nicht bewältigen braucht.

    Miguel de Cervantes Saavedra:&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &quot;Don Quixote von la Mancha&quot;&nbsp; <br />- Tieck Übersetzung -

  • Ich selbst werde langsamer vorankommen. Seit Weihnachten habe ich nur ganz wenig gelesen, mir gehen andere Dinge durch den Kopf. Also werde ich auch wenig zu meiner Lektüre schreiben, die erst heute mit nur ein paar Seiten begonnen habe.


    Kafka traue ich übrigens zu, dass er nicht wusste, oder sich nicht mehr erinnerte was die Freiheitsstatue in den Himmel hält. Die Fackel ist sowieso ein mehrdeutiges Symbol.

  • Ich bin sehr froh, mal wieder Kafka zu lesen. Vielen Dank schon mal dafür. :-) Nachdem ich das erste Kapitel begonnen habe, konnte ich nicht aufhören, bis ich es auch zu Ende gelesen hatte.


    Nun zur Diskussion: Ich denke, sobald wir anfangen, Kafka naturalistisch zu lesen, machen wir etwas falsch. Kafka schreibt gerne in Paralbeln und beispielhaften Bildern. Auf diese Weise sollten der Heizer und sein Verfahren gelesen werden. Bestimmt gibt es nicht wenige Parallelen zu "Der Prozess".


    Warum heißt Karl eigentlich Karl? Hat es mit Schillers Räubern zu tun? Mit Kafkas Nachnamen? Wer weiß mehr?


    Zu der Deutung des Bildes mit der Freiheitsstatue und dem Schwert: die Idee mit dem Überleben finde ich gut. Wobei ich Amerika nicht einseitig als "Unterdrückerland" sehen würde, sondern auch als Land der Moderne und Industrialisierung. Das Schiff, die Innereien des Schiffs und dann auch noch mit dem Heizer ein Mann, der die Maschinen bedient, die den jungen Karl Roßmann nach Amerika bringen, sind gute Bilder für die Kraft der Moderne (Fortschritt, neue Räume entdecken) und zugleich für die Gefahr (man kann sich darin verlieren).


    Interessant zu wissen, finde ich, ob Kafka wusste, dass die Freiheitsstatue eine Fackel trägt oder ob er es ca. 1915 noch gar nicht gewusst hat.


    Nun, das soll es für den ersten Eintrag und das erste Kapitel gewesen sein.


  • Hat Karl den Heizer im Stich gelassen? War er denn überhaupt für dessen "Verteidigung" verantwortlich?


    Karl ist sehr naiv, z.B. gibt er seinen Koffer einem quasi Fremden um seinen Regenschirm zu retten. Genau so naiv ist es wenn er sich für den ihm eigentlich fremden Heizer einsetzt; hätte er zuerst Schubal kennen gelernt, wäre er wahrscheinlich für diesen als Zeuge aufgetreten, Trotzdem, obwohl er natürlich nicht für die Verteidigung des Heizers verantwortlich ist, kann man sagen, dass er ihn letztendlich im Stich lässt, als sich ihm mit dem Senator als Onkel eine unerwartete Chance auftut – obwohl er sich dann wieder nicht sicher ist, „ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können.“ Nun ja, ich will nicht zu hart urteilen: Karl ist Sechzehn.



    Wer lügt? Ein Beispiel: Kann wirklich der Brief an den Onkel "lange Irrfahrten" erlebt haben, nachdem die Überfahrt wohl nur fünf Nächte gedauert hat? Oder wusste das Dienstmädchen schon so viel früher, mit welchem Schiff Karl reisen wird?


    Ich denke, dass so eine Schiffspassage nach Amerika 1-2 Monate im voraus zu buchen war und wenn das Mädchen gleich nach der Buchung geschrieben hat, - der Brief dürfte ja auch nicht länger brauchen als die Personenüberfahrt, hat aber den Onkel erst zwei Tage vor Karls Ankunft erreicht. Für mich ist das stimmig.


    Gruß


    Hubert


  • Kafka traue ich übrigens zu, dass er nicht wusste, oder sich nicht mehr erinnerte was die Freiheitsstatue in den Himmel hält. Die Fackel ist sowieso ein mehrdeutiges Symbol.


    Hallo Lost,
    hallo zusammen,


    da Kafka ja nie in Amerika war, konnte er sich natürlich nicht an die Freiheitsstatue erinnern, aber genau aus diesem Grund, hat er zu diesem Roman im Gegensatz zu allen anderen seiner Werke sehr viel recherchiert. D.h. er wusste genau was die Freiheitsstatue in Wirklichkeit in den Himmel hält.


    Natürlich ist die Fackel ein mehrdeutiges Symbol. Siehe hier:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Fackel


    Auch das Schwert ist als Symbol mehrdeutig. In der Form wie es z.B. der Cheruskerfürst Arminius beim Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald in die Höhe regt, kann es durchaus auch als Phallussymbol gedeutet werden:
    http://de.academic.ru/pictures…ermannsdenkmal_statue.jpg

  • Hallo busbian,


    zunächst herzlich willkommen im Klassikerforum und in der Leserunde zu Kafkas Verschollenem :blume:



    Ich denke, sobald wir anfangen, Kafka naturalistisch zu lesen, machen wir etwas falsch.


    Da stimme ich Dir zu!



    Warum heißt Karl eigentlich Karl? Hat es mit Schillers Räubern zu tun? Mit Kafkas Nachnamen?


    Guter Ansatz!



    Interessant zu wissen, finde ich, ob Kafka wusste, dass die Freiheitsstatue eine Fackel trägt oder ob er es ca. 1915 noch gar nicht gewusst hat.


    Die Freiheitsstatue, sollte zur Hundertjahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), also 1876 vollendet werden. Natürlich gab es Verzögerungen und so wurde sie in der heutigen Form und Weise 1886 eingeweiht. Da Kafka für seinen Roman lange und ausreichend recherchiert hat, ist davon auszugehen, dass er genau wusste, dass sie eine Fackel trägt.

  • Das Schwert könnte auch auf Justitia hindeuten. Schließlich wirkt das Treffen beim Kapitän durchaus wie eine Art Gerichtsverhandlung. Dass Karl als "Verteidiger" alles im Sinne seines Mandanten zu deuten versucht, wäre dann für mich auch einigermaßen plausibel.


    Schöne Grüße, Niclas

    &quot;Das Ganze ist das Unwahre&quot; - Theodor W. Adorno - Minima Moralia

  • Hallo,


    mittlerweile habe ich den Onkel hinter mir gelassen und werde mich demnächst zum Landhaus begeben.
    Dieser Onkel scheint mir sehr suspekt zu sein, anders kann ich mir sein Verhalten nicht vorstellen. Einerseits drängt er darauf, dass Karl die englische Sprache lernt um sich mit anderen zu unterhalten und wenn dieser dann eingeladen wird, reagiert er so schroff, dass ich mir nicht erklären kann warum.


    Ich hatte den Eindruck, dass er nicht will, dass Karl diesen Herrn Pollunder begleitet. Stellt sich nur die Frage, warum nicht?


    Nun bin ich schon gespannt auf das Zusammentreffen von Klara und Karl.


    Katrin

  • Ich finde den Gedanken, Karl als "Verteidiger" zu sehen, sehr reizvoll. Allerdings ist er ein sehr naiver und wehrloser Verteidiger, da er sich weder auf dem Schiff, noch bei seinem Onkel wirklich durchsetzen kann.


    Gerade im Haus des Onkels zeigt sich, dass die Welt viel größer ist, als Karl sie verstehen kann. Ich finde, Kafka porträtiert eine Welt, in deren Komplexität man sich erst einarbeiten muss, bevor man sich darin bewegen kann. Deswegen lernt Karl Englisch und darf sich trotzdem nicht an allen Gesprächen beteiligen, geschweige denn Entscheidungen treffen. Darum will der Onkel auch nicht, dass Karl mit aufs Land fährt - denn Karl ist nicht bereit für die ihn erwartende Komplexität.


    Darum möchte ich nochmal auf die These hinweisen, dass der Roman die aufkommende Moderne nachzeichnet und somit reflektiert.

  • Ich hatte den Eindruck, dass er nicht will, dass Karl diesen Herrn Pollunder begleitet. Stellt sich nur die Frage, warum nicht?


    Nun bin ich schon gespannt auf das Zusammentreffen von Klara und Karl.



    Ich hatte diesen Eindruck auch ziemlich stark,schließlich äußert der Onkel stetig seine Bedenken...
    Überhaupt muss ich sagen,war es schon ein bisschen skurril,wenn man gemerkt hat,wie die beiden Parteien (Pollunder und Jakob) hin- und hergerissen waren zwischen Höflichkeit und Entschlossenheit.Die Entschlossenheit Karl mitzunehmen in Pollunders Fall und in des Onkels Fall Karl aufzuhalten.


    Meint ihr,dass Karl und Klara schon versprochen sind?


    kk


  • Meint ihr,dass Karl und Klara schon versprochen sind?


    Jedenfalls nicht einander. Mitte des nächsten Kapitels ("Ein Landhaus bei New York") sagt ein Diener zu Karl, dass Herr Mack der Bräutigam - also wohl der Verlobte - von Klara ist. Aber ob er wirklich die Wahrheit sagt?


    Niclas

    &quot;Das Ganze ist das Unwahre&quot; - Theodor W. Adorno - Minima Moralia

  • Habe nun Kapitel 3 abgeschlossen und war über den Brief des Onkels an Karl sehr überrascht. Ich habe vielmehr damit gerechnet, dass der Onkel seinem Neffen einen guten Job besorgt oder ihm irgendwie anders entgegen kommt. Doch Karls "indirekter Rausschmiss" kam für mich völlig unerwartet und erinnert stark an Kapitel 1, in welchem der Onkel ebenso plötzlich auf der Bildfläche erscheint. Zudem stellen sich mir folgende Fragen:


    1. Sind diese nicht zu erwartenden Textpassagen typisch für Kafka?
    (Der Verschollene ist mein erstes Buch von Kafka, daher bin ich ziemlich ahnungslos)


    2. Warum wird Karl von Herrn Green gehindert seinen Onkel rechtzeitig zu erreichen und somit seinen Rauswurf zu vermeiden?



    Gruß André

    Miguel de Cervantes Saavedra:&nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &nbsp; &quot;Don Quixote von la Mancha&quot;&nbsp; <br />- Tieck Übersetzung -


  • Das Schwert könnte auch auf Justitia hindeuten. Schließlich wirkt das Treffen beim Kapitän durchaus wie eine Art Gerichtsverhandlung. Dass Karl als "Verteidiger" alles im Sinne seines Mandanten zu deuten versucht, wäre dann für mich auch einigermaßen plausibel.


    Schöne Grüße, Niclas


    Hallo Niclas,
    hallo zusammen,


    Natürlich ist das auch möglich, - zuerst wollte ich antworten aber Justitia wird ja nicht nur mit dem Schwert sondern zusätzlich mit Waage und Augenbinde dargestellt. Aber die Waage bedeutet ja, dass nach sorgfältiger Abwägung des Falles und ohne Ansehen der Person (Augenbinde) das Recht durchgesetzt wird (Schwert) und Karl kämpft ja für den Heizer ohne Abwägung des Falles und mit Ansehen der Person also konnte Kafka auf die Attribute, Waage und Augenbinde verzichten. Sehr guter Hinweis!