Lieblingsgedichte

  • Hallo, nimue hat mich mit der Aufzählung von Klassikern auf Erich Fried aufmerksam gemacht und damit an eines meiner Lieblingsgedichte erinnert. Es heißt


    Meer



    Wenn man ans Meer kommt
    soll man zu schweigen beginnen
    bei den letzten Grashalmen
    soll man den Faden verlieren


    und den Salzschaum
    und das scharfe Zischen des Windes
    einatmen
    und ausatmen
    und wieder einatmen


    Wenn man den Sand sägen hört
    und das Schlurfen der kleinen Steine
    in langen Wellen
    soll man aufhören zu sollen
    und nicht mehr wollen wollen
    nur Meer


    Nur Meer


    Erich Fried


    Ich könnte mir denken, dass viele von euch auch ein Lieblingsgedicht haben. Möchtet ihr es nicht auch vorstellen? :zwinker:


    Liebe Grüsse
    Ingrid

    Ich träume, also bin ich...

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  • TODESFUGE von Paul Celan


    Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
    wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
    wir trinken und trinken
    wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
    Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
    er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
    er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
    er befiehlt uns spielt nun zum Tanz



    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
    wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
    wir trinken und trinken
    Ein Mann wohnt im Haus und spielt mit den Schlangen der schreibt
    der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
    Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
    Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt
    er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
    stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf



    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
    wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
    wir trinken und trinken
    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
    dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen




    Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
    er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
    dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
    Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
    wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
    wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
    der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
    er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
    ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
    er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
    er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland


    dein goldenes Haar Margarete
    dein aschenes Haar Sulamith

  • Hallo Ingrid,


    nein, ich habe kein Lieblingsgedicht, eher viele, zumindest von jedem Lieblingsdichter eines. Aber was soll man nach Celan's Todesfuge noch schreiben?


    Da ich es erst vor kurzem wieder einmal hörte, wollte ich zuerst "Abel, steh auf" von Hilde Domin posten, aber jetzt krieg ich es nicht mehr ganz zusammen und so poste ich den Anfang von Goethes Römischen Elegien. Mit Goethe kann man ja nicht viel falsch machen, aber der eigentliche Grund ist, dass hier das gleiche Pauluswort angesprochen ist, das uns schon bei "Effi Briest" beschäftigte:


    Johann Wolfgang Goethe
    Römische Elegien


    Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste!
    Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
    Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern,
    Ewige Roma; nur mir schweiget noch alles so still.
    O wer flüstert mir zu, an welchem Fenster erblick ich
    Einst das holde Geschöpf, das mich versengend erquickt?
    Ahn ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer
    Zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit?
    Noch betracht ich Kirch und Palast, Ruinen und Säulen,
    Wie ein bedächtiger Mann schicklich die Reise benutzt.
    Doch bald ist es vorbei: dann wird ein einziger Tempel
    Amors Tempel nur sein, der den Geweihten empfängt.
    Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe
    Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom



    Liebe Grüße


    Hubert

  • hallo Ingrid, Elfenkönigin und Hubert,
    eigentlich ist es nicht mein Lieblingsgedicht (da würde mir auch eine ultimative wahl schwerfallen, es gibt so viele wertvolle gedichte, vielleicht 'das wort' von hilde domin, 'warum' von erich fried oder 'orpheus, eurydike, hermes' von rainer maria rilke), aber ich beschäftige mich gerade damit und habe es daher bei mir. ein tolles gedicht, wie ich finde:


    The Enquiry von Katherine Philips


    If we no old historian's name
    Authentique will admitt,
    And thinke all said of friendship's fame
    But poetry and wit:
    Yet what's revered by minds so pure
    Must be abright Idea, sure.


    But as our immortalitie
    By inward sense we find,
    Judging that if it could not be,
    It would not be design'd:
    So heare how could such copyes fall,
    If there were no originall?


    But if truth be in auncient song,
    Or story we beleive,
    If the inspir'd and greater throng
    Have scorned to deceive;
    There have been hearts whose friendship gave
    Them thoughts at once both soft and brave.


    Among that consecrated few,
    Some more seraphic shade
    Lend me a favourable clew,
    Now mists my eyes invade,
    Why, having fill'd the world with fame,
    Left you so little of your flame?


    Why is't so difficult to see
    Two bodyes and one minde?
    And why are those who else agree
    So differently kind?
    Hath nature so fantastique art,
    That she can vary every heart?


    Why are the bonds of friendship tied
    With so remisse a knot,
    That by the most it is defyed,
    And by the rest forgot?
    Why do we step with so slight sense
    From friendship to indifference?


    If friendship sympathy impart,
    Why this ill shuffled game,
    That heart can never meet with heart,
    Or flame encounter flame?
    What doth this crueltie create?
    Is it th'intrigue of love or fate?


    Had friendship nere been known to men,
    (The ghost at last confest)
    The world had been a stranger then
    To all that Heav'n possess'd.
    But could it all be heare acquir'd,
    Not heaven it selfe would be desir'd.



    lg, adia

  • auch ich habe keine eigentlichen lieblingsgedichte. Ich hätte hier jetzt etwas von bachmann, huchel oder kaschnitz usw. wählen können. Stattdessen verlängere ich den zeitpfeil weiter nach hinten ins mittelalter:
    barthold hinrich brockes
    Gedanken bey dem Fall Der Blätter im Herbst


    In einem angenhmen herbst, bey ganz entwölktem
    heiterem Wetter,
    Indem ich im verdünnten Schatten, bald Blätter-loser
    Bäume geh',
    Und den so schön gefärbten Laubes annoch vorhandnen
    Rest beseh',
    Befällt mich schnell ein sanfter Regen, von selbst
    herabgesunkner Blätter.
    Ein regen Schweben füllt die Luft. Es zirkelt, schwärmt'
    und drehte sich,
    Ihr bunt, sanft abwärts sinkend Heer, doch selten im
    geraden Strich.
    Es schien die Luft, sich zu bemühn, den Schmuck,
    der sie bisher gezieret,
    So lang wie möglich, zu behalten, und hindert' ihren
    schnellen Fall.
    Hierdurch ward die leichte last, im weiten Luft-Kreis
    überall,
    In kleinen Zirkelchen bewegt, in sanften Wirbeln
    umgeführet,
    Bevor ein jedes seinen Zweck, und seiner Mutter Schooß
    berühret;
    Um sie, bevor sie aufgelöst, uns sich dem Sichtlichen
    entrücken,
    Mit Decken, die weit schöner noch, als persianische,
    zu schmücken.
    Ich hatte diesem sanften Sinken, der Blätter lieblichen
    Gewühl,
    Und dem dadurch, in heitrer Luft, erregten angenehmen
    Spiel,
    Der bunten Tropfen schwebenden, in lindem Fall
    formiertem, Drehn,
    Mit offnem Aug', und ernstem Denken, eine zeitlang
    zugesehn;
    Als ihr von dem geliebtem Baum freywilligs Scheiden
    (da durch Wind,
    Durch Regen, durch den scharfen Nord, sie nicht herabgestreifet sind;
    Nein, willig ihren Sitz verlassen, in ihrem ungezwungenem
    Fällen)
    Nach ernstem Denken, mich bewog, sie mir zum bilde
    vorzustellen,
    Von einem wohlgeführtem Alter, und sanftem Sterben;
    Die hingegen,
    Die, durch der Stürme strengen Hauch, durch scharfen
    Frost, durch schweren Regen,
    Von ihren Zweigen abgestreift und abgerissen,
    kommen mir,
    Wie menschen, die durch Krieg und Brand und Stahl
    gewaltsam fallen, für.
    Wie glücklich, dacht' ich, sind die Mennschen, die den
    freywilligen Blättern gleichen,
    Und, wenn sie ihres Lebens Ziel, in sanfter Ruh'' und
    Fried' erreichen;
    Der Ordnung der Natur zufolge, gelassen scheiden, und erbleichen!
    gruß hafis


  • Bettina von Arnim


    Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
    Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
    Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
    Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
    Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt?



    Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
    Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
    Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
    Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
    Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.



    Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
    Und könnt ich Paradiese überschauen,
    Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
    Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
    Denn der allein umgrenzet meine Welt.


    Der Gedanke, daß jeder seinen eigenen persönlichen Hügel besitzt um die Welt zu sehen, läßt die Welt m.E. noch größer erscheinen, wenn man es erkennt! Deswegen berührt mich dieses Gedicht.


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • hi all


    mein lieblings gedicht stammt von PETER LAUSTER



    Ich will dich treffen
    und dann nicht hingehen,
    ich will mit dir reden
    und doch lieber schweigen,
    will dich haben,
    aber was dann?


    Gib mir deine Hand,
    damit ich sie loslassen kann.


    lg enderlin

    mein lieblingsbuch deutscher sprache: mein name sei gantenbein
    <br />mein nicht deutsches lieblingsbuch: der englische patient

  • Moin, Moin!


    Das kürzlich durch Liisa gepostete Gedicht <a href="http://www.charmingquark.de/?p=2542">Ödnis</a> von Ricarda Huch gefiel mir so sehr und bewegt mich auch weiterhin, daß ich es ausdruckte und an die Pinnwand auf Arbeit hängte. Einen Tag danach hatte jemand drunter gekritzelt: "Braucht jemand Hilfe?" Wenig später las man ein "Ja." Lyrik am Arbeitsplatz mit Wirkung eben nicht nur bei mir. Ich bin erstaunt und berührt.

  • Als Einstandsmorgengabe ein (eines von furchtbar vielen) Lieblingsgedicht.


    Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
    wir kommen ungefragt und müssen weichen.
    Doch daß wir sprechen und uns nicht verstehen
    und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,


    zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
    Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
    und das Verlangen, tief uns anzusehen,
    durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.


    Ingeborg Bachmann

  • Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
    wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
    und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
    und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
    Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
    mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
    halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
    und wirfst du in mein Hirn den Brand,
    so werd ich dich auf meinem Blute tragen.


    (Rainer Maria Rilke)

    &quot;Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve.&quot;

  • Hallo zusammen,


    heute ist nicht nur Frühlingsanfang, sondern auch Tag der Poesie. Grund genug (und weil die Lyrik im Klassikerforum eh zu kurz kommt) mal unseren alten Lyrik-Thread auszugraben und an Eduard Mörikes schönes Frühlings-Gedicht zu erinnern:


    Frühling läßt sein blaues Band
    Wieder flattern durch die Lüfte
    Süße, wohlbekannte Düfte
    Streifen ahnungsvoll das Land
    Veilchen träumen schon,
    Wollen balde kommen
    Horch, von fern ein leiser Harfenton!
    Frühling, ja du bist's!
    Dich hab ich vernommen!


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Allegria di naufragi
    Giuseppe Ungaretti

    E subito riprende
    il viaggio
    come
    dopo il naufragio
    un superstite
    lupo di mare



    Freude der Schiffbrüche
    Giuseppe Ungaretti


    Und plötzlich nimmst du
    die Fahrt wieder auf
    wie
    nach dem Schiffbruch
    ein überlebender
    Seebär

  • Zitat von Autor: FeeVerte« am: 25. März 2011

    Allegria di naufragi
    Giuseppe Ungaretti


    Guiseppe Ungaretti! Das war auch mal mein Lieblingspoet! Schön, wenn durch Forumsbeiträge solche fast vergessenen Vorlieben wieder noch oben gespült werden!
    Ist die Übersetzung des Gedichts von Ingeborg Bachmann? Ich wusste bis dato gar nicht, dass sie Ungaretti auch so gemocht und seine Gedichte übersetzt hat, habe das jetzt erst beim Stöbern im Internet erfahren.

    Da ich mich durch ein Buch gerade gedanklich an der Dolomitenfront im 1.Weltkrieg befinde, hier ein Gedicht, in dem Ungaretti, der dort gekämpft hat, seinen Gefühlszustand in der für ihn charakteristischen einfachen, fast minimalistischen Sprache beschreibt:

    SONO UNA CREATURA
    Valloncello di Cima Quattro il 5 agosto 1916


    Come questa pietra
    Del S. Michele
    Così fredda
    Così dura
    Così prosciugata
    Così refrattaria
    Così totalmente
    Disanimata


    Come questa pietra
    È il mio pianto
    Che non si vede


    La morte
    Si sconta
    Vivendo.


    Übersetzung von Ingeborg Bachmann:


    ICH BIN EINE KREATUR
    Valloncello di Cima Ouattro, 5. August 1916


    Ich bin eine Kreatur
    wie dieser Stein
    des Hl. Michael
    so kalt
    so hart
    so ausgetrocknet
    so widerständig
    unbeseelt
    so ganz und gar


    Wie dieser Stein
    ist mein Weinen
    man sieht es nicht


    Den Tod
    büßt man
    lebend ab

  • Guiseppe Ungaretti! Das war auch mal mein Lieblingspoet! Schön, wenn durch Forumsbeiträge solche fast vergessenen Vorlieben wieder noch oben gespült werden!
    Ist die Übersetzung des Gedichts von Ingeborg Bachmann? Ich wusste bis dato gar nicht, dass sie Ungaretti auch so gemocht und seine Gedichte übersetzt hat, habe das jetzt erst beim Stöbern im Internet erfahren.


    Hallo Gontscharow,


    ist ja witzig, ich wollte zuerst das Gedicht Sono una creatura posten, begann dann aber eingehender über den Sinn der letzten drei Zeilen und über eventuelle Nebenbedeutungen von scontare nachzugrübeln (bezahlen? begleichen? ausgleichen? ausbaden?) , was damit endete, dass ich mich zugunsten des unverdrossen seine Shanties schmetternden schiffbrüchigen Mutmachseebären umentschied. Ja, die Übersetzung der Allegria di naufragi ist auch von Ingeborg Bachmann. Ich kann mich mit der deutschen Fassung der Gedichte allerdings nicht so ganz anfreunden, ich finde, sie wird der Eleganz und der Musikalität des Originals nicht mal ansatzweise gerecht.


    Das hier kennst du ja dann bestimmt auch:


    Soldati


    Si sta come
    d'autunno
    sugli alberi
    le foglie.


    So
    wie im Herbst
    am Baum
    Blatt um Blatt.


    G. Ungaretti - Soldati Bosco di Courton luglio 1918


    Viele Grüße FeeVerte

    Einmal editiert, zuletzt von FeeVerte ()


  • Hallo Gontscharow,


    ist ja witzig, ich wollte zuerst das Gedicht Sono una creatura posten, begann dann aber eingehender über den Sinn der letzten drei Zeilen und über eventuelle Nebenbedeutungen von scontare nachzugrübeln (bezahlen? begleichen? ausgleichen? ausbaden?) , was damit endete ...


    Ja, wirklich witzig diese Koinzidenzen.
    Auch ich bin über das Wort scontare gestolpert! Ich finde das Bachmannsche abbüßen ist zu religiös konnotiert und die buchhalterische Lakonie, die in scontare steckt, geht verloren. Begleichen finde ich gut oder einfach abzahlen abtragen.


    Soldati, dieses so bestechend einfache Gedicht, wollte ich auch erst posten, statt Sono una creatura. Mich irritierte dann aber , dass Bachmann in ihrer Übersetzung das Si sta am Anfang – in stare schwingt bleiben mit !- weggelässt und damit die leise Ironie im Vergleich mit den herbstlichen Blättern verschenkt .

    Ich sehe schon , ich werde mir bei Amazon.it die Poesie Complete von Ungaretti bestellen. Schön, dass ich hier an ihn erinnert wurde. GRAZIE!


  • Ich finde das Bachmannsche abbüßen ist zu religiös konnotiert und die buchhalterische Lakonie, die in scontare steckt, geht verloren. Begleichen finde ich gut oder einfach abzahlen abtragen.


    Möglicherweise wäre den Tod verdient man sich lebend auch nicht ganz abwegig. Aber die Vielschichtigkeit von scontare geht in jedem Fall verloren. Traduttore, traditore.



    Mich irritierte dann aber , dass Bachmann in ihrer Übersetzung das Si sta am Anfang – in stare schwingt bleiben mit !- weggelässt und damit die leise Ironie im Vergleich mit den herbstlichen Blättern verschenkt .


    Ja, stimmt, das Bild ist in der deutschen Fassung ein völlig anderes - ich sehe da lediglich ein paar kümmerliche zu Boden trudelnde Herbstblätter vor mir. Bei der italienischen Version assoziiere ich dagegen ganze Wälder voll von prachtvollem Herbstlaub, von dem ich aber schon jetzt, im Moment meiner Bewunderung seiner Schönheit, weiß, dass es unweigerlich und bereits in wenigen Tagen herabfallen wird. Nicht nur die Ironie, auch die als herbstliche Nostalgie maskierte Todesahnung wird hier verschenkt. Gute Gedichte sind eben unübersetzbar.


    Hach, ich glaube, ich werde demnächst auch mal auf amazon.it vorbeischauen.... gute Idee... :smile:


  • Hallo Gontscharow, hallo FeeVerte


    ich habe eure Diskussion mitverfolgt und ihr habt mich dadurch auf Guiseppe Ungaretti aufmerksam gemacht. Das obige Gedicht (insbesondere) und auch die weiteren, die ihr angegeben habt, sprechen mich sehr an. Danke für den Tipp.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Soldati


    Si sta come
    d'autunno
    sugli alberi
    le foglie.


    Liebe Fee,
    liebe Gontscharow,


    mir geht es wie Maria, vielen Dank für eure Hinweise auf Guiseppe Ungaretti. Ich habe mir, auch um mein Italienisch wieder aufzufrischen, eine zweisprachige Ausgabe bestellt.


    Ist euch eigentlich aufgefallen das Soldati, wenn man den Titel einmal weglässt (der natürlich das Gedicht erst genial macht), ein fast perfektes Haiku ist?


    LG


    Hubert

  • Weil der September morgen schon wieder zu Ende geht, noch schnell:


    Septembertag


    Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit,
    die dich befreit, zugleich sie dich bedrängt;
    wenn das kristallene Gewand der Wahrheit
    sein kühler Geist um Wald und Berge hängt.


    Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit ...



    Christian Morgenstern
    (1871 - 1914)

  • Jetzt ist zwar schon Oktober, aber "Septembertag" hat mich an mein Lieblingsherbstgedicht erinnert:


    September
    Hermann Hesse


    Der Garten trauert,
    kühl sinkt in die Blumen der Regen.
    Der Sommer schauert
    still seinem Ende entgegen.


    Golden tropft Blatt um Blatt
    nieder vom goldenen Akazienbaum,
    Sommer lächelt erstaunt und matt
    in den sterbenden Gartentraum.


    Lange noch bei den Rosen
    bleibt er stehn, sehnt sich nach Ruh.
    Langsam tut er die großen
    müdgeword`nen Augen zu.