Hallo zusammen!
Ich lese den Roman mit wachsender Begeisterung und kann mich nur schwer von ihm losreißen. Mich verblüfft, wie meisterhaft er komponiert ist, mit welcher Souveränität Doderer die enorme Stofffülle handhabt und die verschiedenen Handlungsstränge, die Zeitsprünge, die vielfältigen Beziehungen zwischen seinen zahlreichen Figuren zu einem dichten Gebilde verwebt. Zum einen ist er ein unglaublich witziger und ironischer Fabulierer, der in einer üppigen, überbordenden, vor Metaphern nur so strotzenden Sprache erzählt, zum anderen erweist er sich als ein scharfer, analytischer Beobachter menschlicher Eigenarten und Verhaltensweisen. Seine psychologischen Bilder, diese detaillierten Darstellungen der „Seelenmischungen“ seiner Figuren machen für mich seine größte Stärke aus.
Zum Beispiel Mary K: Eine ehrbare Frau, die auf ihre Ehrbarkeit stolz ist, sitzt eines Tages zwischen ihren Möbeln, die hübsch und poliert wie Mary selbst sind und plötzlich tut sich vor ihr ein Vakuum an Zeit auf. Sie spürt die „Sprödigkeit des Lebens“, Leutnant Melzer spukt ihr im Kopf herum, sie spielt mit dem Gedanken, die Einladung Negrias zu einer Bootspartie anzunehmen, sie weiß natürlich, was er von ihr will. Mit der Wahl des Tennisdress lässt sie sich die Option Negria oder Ehemann noch offen, das Ausweichen vor der Straßenbahn bringt ihren Mut zum Erliegen, gibt den Ausschlag für den Ehemann, dann ihre Unzufriedenheit und ihr Ärger, den sie nach dem verpatzten Spiel an ihrem Mann auslässt, der, den Grund dafür nicht ahnend, seiner Frau durch das alte, lange nicht mehr gespielte „Streitspiel“ sozusagen in das Gleis der Ehrbarkeit zurück hilft und ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellt, wofür sie ihm dankbar ist. Das ist so tiefblickend und nachvollziehbar, einfach großartig beschrieben.
Dazu kommt noch Doderers Fähigkeit, sehr intensive Stimmungsbilder und atmosphärische Dichte erzeugen zu können, die stark auf den Leser wirken. Man denke nur an die Eisenbahnfahrt Melzers und die eigenartige Stimmung, die ihn im Coupé umfängt.
Der Roman ist beeindruckend und fesselnd, dabei zugleich ungeheuer unterhaltsam und amüsant, ich habe schon lange keinen so großen Spaß mehr beim Lesen gehabt.
Die wechselnde Sprache, die hat mit den Figuren zu tun, oder? Für mich charakterisiert die Sprache die Figuren, also wie sie sich geben oder evtl. innerlich denken. Und bei der Fülle von Charakteren hat Doderer einiges zu tun :breitgrins:
@ Anita, mir ist nicht ganz klar, was Du mit „wechselnder Sprache“ meinst. Dass die Figuren durch eine bestimmte Art zu sprechen charakterisiert wären, kann ich nicht erkennen. Sie stammen bis jetzt ja auch alle aus dem gleichen Milieu. Charakterisiert werden sie durch die Darstellung ihrer jeweiligen Psychologie.
Kein Kommentar wegen Mangel der Zeit, nur ein Zitat aus S. 85-86, Biederstein Ausgabe:
@ wanderer, die Antwort liegt schon in der Frage „gehört es wirklich zu uns?“ Doderer will ganz klar von uns ein „nein“ hören. :breitgrins: Das Handeln seiner Personen ist kein bewusster, kontrollierter, freier Willensakt, sondern wird von ihrer besonderen Seelenlage und der Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt.
Gruß
Anna