Inzest in der Literatur

  • Beim dem "Fremden" von Camus sowie Büchners "Woyzeck" gibt es eine verdeckte Textebene, die das Thema Inzest beinhaltet. Beide benutzen erstaunlicherweise exakt den gleichen Code: "Sonne".
    Sonne = Mutter + Inzest.
    Die Übereinstimmung zwischen Camus und Büchner in diesem Punkt ist so offensichtlich, dass ich frage, ob der gleiche Code oder auch andre in weiteren Werken der Weltliteratur zu beobachten sind. Oder Abwandlungen. Beispielsweise spielt die Sonne und eine entsprechende Meteorologie in Max Frischs "Homo Faber" eine gewisse Rolle. Auch der "Bahnwärter Thiel" enthält um den Komplex der Misshandlung des Kindes durch die Mutter eigenartige erotische Anspielungen, die in Richtung Missbrauch deuten könnten.
    Arthur Schnitzlers "Frau Beate und ihr Sohn" bringt das Thema Inzest offen, auch hier spielt "die Sonne" fleißig mit.
    Alle genannten Werken mit verdeckter Inzestebene laufen auf eine Gewalttat hinaus, die Anzeichen eines Ritualmordes beinhalten,
    eines Blutopfers, dessen Hintergrund nie wirklich thematisiert wird. Besagte Texte suggerieren also eine Legitimität, die indes nicht reflektiert, geschweige denn problematisiert wird. D.h. der Bruch des Inzesttabus bleibt unbewusst.


    Wer kann über eigene Beobachtungen, Vermutungen, Assoziationen usw. berichten, über Motive, Symbole usw. in der Weltliteratur oder auch in nicht "kanonischen" Werken, die in den genannten Bereich gehören?


    Die Literaturwissenschaft hält sich in besagtem Punkt bislang vornehm zurück.


    Es ist bekannt, dass die Inzest-Thematik in der Literatur der Aufklärungszeit eine überragende Rolle spielt, Theodor Fontane teilt in "Vor dem Sturm" die Gattung Drama schlichtweg in Komödie sowie "Inzest und Gattenmord" ein. Und die häufigen Schlagzeilen (Fall Fritzl usw.) kennt jeder - unwahrscheinlich, dass früher sowas seltener vorgekommen sein soll (eher das Gegenteil) und dass die Autoren das nicht bearbeitet haben sollten. Zudem ist bekannt, dass gerade in patriarchalischen Familienverhältnissen die Mütter talentierter Schriftsteller zu ihren Kindern - oder umgekehrt - in einer tendenziell inzestuösen Beziehung standen (Proust, Stendhal), was nicht heißt, dass jedes mal Tabugrenzen überschritten wurden, aber die Sensibilität für die Problematik gegeben war.



    Rezension: "Der Fremde"
    http://literatur-community.de/…-albert-camus-der-fremde/?


    Vorstellung: "Woyzeck"
    http://literatur-community.de/klassiker/1717-georg-büchner-woyzeck/?


    Mit Grüßen und Dank für das Interesse und gegebenfalls Hinweise

  • Interessantes Thema. Wie auch eine interessante Art Bücher zu lesen. Wenngleich mich das an ein psychologisches Phänomen erinnert: Man konzentriert sich auf die Farbe orange oder die Zahl 23 oder oder - und auf einmal ist die ganze Welt voll davon. Aber ich bin auch literaturwissenschaftlich in keinster Weise bewandert.


    Jedenfalls: In den alten Mythen, den griechischen Göttersagen wie auch den christlichen Bibelsagen, findet sich unverschlüsselter Inzest. Die Schriften der anderen Religionen werden sicher in nichts nachstehen.

  • Danke für die Antwort und den Hinweis auf die mythische Ebene.
    Und - in der Tat: man muss aufpassen. Ich denke ein Kriterium ist, ob sich die Perspektive auf das Werk wie auch auf die eigene Person (das bekannte "Erkenne dich selbst") sich verengt, wie in dem >psychologischen Phänomen der Konzentration auf eine Farbe<, also ob man ausschließlich etwas hinein projiziert, (was immerhin auch wichtig wäre zu registrieren) oder ob sich der Blickwinkel erweitert. Wenn ich von einem Text zwischen den Zeilen ausgehe und die Symbole durchgängig und stimmig dafür sprechen, dann müsste eigentlich etwas dazu kommen. Wie in diesem Falle ja auch das Handwerk des Autors, seine Rhetorik als komplexer anzusehen wäre, also gewinnen würde. Ebenso wenn sich das Motiv für den Ritualmord usw. verdichtet. Oder einem Sachen auffallen, die man vorher überlesen hat (auch wenn man den stimmungsmäßigen Eindruck mitnimmt). Um nicht missverstanden zu werden: Meine "verdeckte Textebene(n)" sind dazu zu addieren, sie sollen keineswegs die gängige Interpretation und wörtliche Lesart bekämpfen.

  • Hallo Hermeneutiker und herzlich willkommen,


    interessante Frage. Zu der Überschrift fiel mir spontan "Der Mann ohne Eigenschaften" ein, sowie - wenn es auch etwas Nichtklassisches sein darf - "Das Hotel New Hampshire" von John Irving und "Vater unser" von Marilyn French. Wenn ich Dich richtig verstanden habe, geht es Dir aber nicht um Werke, in denen Inzest offen thematisiert wird, sondern eher um verdeckte Anspielungen?



    Jedenfalls: In den alten Mythen, den griechischen Göttersagen wie auch den christlichen Bibelsagen, findet sich unverschlüsselter Inzest. Die Schriften der anderen Religionen werden sicher in nichts nachstehen.


    Das erinnert mich an eine Figur aus einem Roman (von Heinlein?), die in etwa dasselbe sagt und das plastisch darstellt mit den Worten "die nordischen Götter tun Dinge, die kein Nerzzüchter zulassen würde." :zwinker:


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo,



    "Wälsungenblut" von Thomas Mann. Hier wird das Thema allerdings frei von Gewalt, wenn auch nicht von Konflikten
    mit gesellschaftlichen Tabus am Beispiel der Gechwisterliebe abgehandelt.
    Eine meiner Lieblingserzählungen von Thomas Mann, weil sie so herrlich maniriert ist.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Melvilles "Pierre oder die Doppeldeutigkeiten".


    Zwischen Pierre und seiner Mutter wird eine kaum verschleierte erotische Anziehung geschildert; dabei nennen die beiden sich auch noch Bruder und Schwester.


    Mit der verstörend-anziehenden Isabel, die zumindest behauptet, seine (Halb-)Schwester zu sein, lebt Pierre später in einer vorgetäuschten Ehe.


    Das ist alles vielleicht nicht so explizit, aber alles schillert - eben doppeldeutig - inzestuös.


    Über "Pierre" kann man, wie bei Melville oft, streiten, ob das nun genial, gescheitert oder beides ist. Heute löste so ein Buch keinen Skandal mehr aus, und es würde auch niemand den Verfasser für verrückt halten. Anno 1852 schoss Melville sich mit diesem Roman endültig auf Grund.

  • Nicht direkt eine Inzest-Geschichte, aber die einer außergewöhnlichen "Geschwisterliebe" erzählt Emily Brontes "Sturmhöhe", wobei Catherine und Heathcliff, der "Findling", keine Blutsverwandten sind.

  • Danke für die produktiven Rückmeldungen und Anregungen. Ich möchte meine Anfrage aber noch einmal in Richtung auf eher harmlose Symbole erweitern, die durch den Kontext möglicherweise brisant modifiziert werden. Wie lest ihr das folgende Beispiel aus dem "Fremden"?


    "Ich... fühlte, wie mir die Stirn unter der Sonne anschwoll. Die Hitze legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedesmal wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biß ich die Zähne aufeinander... und spannte mich, um über die Sonne und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoß, zu triumphieren."


    Kurz danach dann dieser Satz: "Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, an dem ich Mama beerdigte."


    Und dass in einem Text, in dem es fast nur um die Mama und ihre merkwürdige Beerdigung, sowie um die Hitze geht, dazu der (offene) Zusammenhang von Gewalt (Zuhälter, Schüsse) und Sex (Bestrafung beim Beischlaf) geht. Und all das zusammengequirlt. Ist meine Interpretation überzogen, die Kombination von Mama und Sonne sowie die erotische Implizität der Bilder absichtslose Poesie (die dann immerhin noch interpretationsrelevant wäre)? Warum wird diese Perspektive bislang überall übersehen?

  • Hallo!


    Aufgrund der - überraschenden - Ernsthaftigkeit der Antworten, bei denen man sich aber - glücklichweise - die Frage nach der Begründbarkeit des "Codes" nicht stellte:



    Beim dem "Fremden" von Camus sowie Büchners "Woyzeck" gibt es eine verdeckte Textebene, die das Thema Inzest beinhaltet. Beide benutzen erstaunlicherweise exakt den gleichen Code: "Sonne".
    Sonne = Mutter + Inzest.


    Soso. Aha. Hm. Klingt nach Brainstorming. Na dann:


    Mond = Großonkel * (Körperbehaarung + Schweißfüße)3
    Kanaldeckel = Loch - Pentration


    Und überhaupt, jeder darf für jeden Planeten mal. Und Alpha Centauri muss auch rein. Da du es offenbar Ernst meinst ein gutgemeinter Rat: Ich würde bei dem Dealer nix mehr kaufen ...


    Andererseits bist du in guter Gesellschaft: "So also symbolisiert das erektionsfähige Organ den Platz des Genießens, nicht als es selbst, nicht mal als Bild, sondern als der dem begehrten Bild fehlende Teil: Darum auch ist es dem "Wurzel aus minus eins" der weiter oben produzierten Bedeutung gleichzusetzen, des Genießens, den es durch den Koeffizienten seiner Aussage der Mangelfunktion des Signifikanten wiedererstattet: (-1)." (Lacan)


    Grüße


    s.


  • "So also symbolisiert das erektionsfähige Organ den Platz des Genießens, nicht als es selbst, nicht mal als Bild, sondern als der dem begehrten Bild fehlende Teil: Darum auch ist es dem "Wurzel aus minus eins" der weiter oben produzierten Bedeutung gleichzusetzen, des Genießens, den es durch den Koeffizienten seiner Aussage der Mangelfunktion des Signifikanten wiedererstattet: (-1)." (Lacan)


    Deshalb heißt das also Psycho-Analysis.

  • Der Mond wird im Allgemeinen als Symbol für den matriarchalischen Geist angesehen und steht im Märchen überhaupt für das Mütterliche. Im Gegensatz dazu codiert in den von mir genannten Werken die Sonne die mütterliche Triebhaftigkeit.
    Mit Kanaldeckeln usw. kenne ich mich nicht aus, das überlasse ich scheichsbeutel.

  • Aktuell wären hier selbstverständlich auch "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell" (mit der Schwester gezeugte Kinder + Muttermord) einzubeziehen. Heutzutage kann man die Codes entbehren, wobei möglicherweise die ästhetische Qualität durch Mehrdeutigkeit, d.h. Entrückung ins Unbewusste durch Symbole usw. gewinnt.

  • Weiteres Beispiel wäre Maughams "Büchersack". Übrigens mit grossartigem erstem Satz für dieses Forum...:


    Manche Menschen lesen zu ihrer Belehrung, was löblich ist – und manche zu ihrem Vergnügen , was harmlos ist. Aber nicht wenige lesen aus Gewohnheit, das ist weder harmlos noch löblich. Zu dieser beklagenswerten Gruppe gehöre ich.

  • Dank an Gronauer (und auch die anderen Rückmeldungen),
    Melvilles "Pierre" enthält eine auktoriale (positive, mythische) Deutung des Inzestmotivs (XXV.V):
    "Der alte Titan war der im Inzest gezeugte Sohn von Coelus und Terra, der im Inzest gezeugte Sohn von Himmel und Erde. Und der Titan nahm seine Mutter Terra zum Weibe und so beging auch er ein zweites Mal Inzest. Ein Sproß dieser Verbindung war Enceladus. So war Enceladus gleichzeitig Sohn und Enkel eines Inzestes: und ganau so war der leiblichen Verschmelzung von Himmlischem und Irdischem in Pierre ein neuer, unbestimmter, zum Himmel strebender, aber noch nicht ganz von allem Irdischen befreiter Gemütszustand entsprungen, der wiederum in seinem irdischen Makel es mit seiner irdischen Mutter hielt und den gegenwärtgen, einen doppelten Inzest entstammenden Enceladus in ihm zeugte, so daß Pierres gegenwärtiger Gemütszustand - sein unbesonnen himmelstürmender Gemütszustand - dennoch nach einer Seite der Enkelsohn des Himmels war... Deshalb: wer den Himmel stürmt, bietet den besten Beweis, daß er von dorten kam!"
    ...Möglicherweise verwechselt die (patriarchalische) Idealisierung des Inzests das "Stürmen" des Himmels mit dem Verschlungen-Werden von der Großen Mutter (Terra)...

  • Erwähnenswert zum Thema Inzest finde ich Cormac McCarthy´s zweiten Roman "Draußen im Dunkel" - eine sehr düstere Geschichte von alttestamentarischer Strenge. Brüderchen und Schwesterchen haben einander mehr lieb, als es gut ist ...


    LG


    Tom

  • Nabokov zitiert in der Reinszenierung des Schöpfungsmythos durch den Geschwisterinzest in "Ada oder Das Verlangen" die von mir genannte Passage aus Melvilles "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" Letzteres nebenbei bemerkt ein ziemlich furchtbares Geschwalle. Man sieht schon die Anspielung im Titel, wobei schon der "Pierre" stark parodierend vorgeht, alles zusammen quasi ein monumentaler Intertextualitäts-Inzest + Ironie. (Vgl. Ada-online aus Auckland) Erstaunlich, dass wir in Bezug auf Büchner und Camus entschlüsselungsmäßig so extrem hinterherhinken. (Vgl. meine Links zu Vorstellung: "Wyozeck" bzw. Rezension: "Der Fremde".)
    Mittlerweile wird mir klar, dass es sich bei den letzteren Werken (ansatzweise auch im "Hamlet" und "Don Carlos" im Gegensatz zu der patriarchalischen Idealisierung des (Geschwister)Izests um die Dramatisierung (des Mutter-Sohn-Inzests) mit abschließendem Ritualmord handelt. Vermutlich wäre auch Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" hier einzuordnen.

  • Kleine Ergänzung: Thomas Manns "Wälsungenblut" wurde genannt. Auch sein später Roman "Der Erwählte" (1951) spielt mit den Inzestmotiv.


    Letzteres seinerseits basierend auf dem mittelalterlichen Werk Gregorius von Hartmann von Aue. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • In mindestens zwei Werken von William Faulkner spielen inzestuöse Motive eine Rolle: "Schall und Wahn" sowie "Absalom, Absalom!".


    Das nur zur weiteren Ergänzung.


    Schöne Grüße


    Tom