„Wer im 21. Jahrhundert erfahren will, ...

  • „Wer im 21. Jahrhundert erfahren will, wie im 20. Jahrhundert gelebt und gefühlt worden ist, muss Simenon lesen.“


    Dieser Hammersatz von Georg Hensel aus dem Jahr 1973 wird von der FAZ zitiert im Rahmen der Neuausgabe sämtlicher Maigret-Krimis im Diogenes-Verlag.


    Mal abgesehen davon, dass ich nicht beurteilen kann, ob diese Einschätzung stimmt (Maigret stand bislang nicht auf meiner Liste, was ich evtl. ändern sollte ...), frage ich mich, welches Werk wohl am perfektesten das Lebensgefühl des vergangenen Jahrhunderts abbildet - falls das überhaupt möglich ist bzw. falls es so etwas wie ein Jahrhundert-Lebensgefühl überhaupt gibt. Ich komme zu keinem Ergebnis.


    Habt Ihr eine Idee?


    Herzliche Grüße


    Sir Thomas


  • Mir fallen Schriftsteller wie Erich Maria Remarque, Joseph Roth und Heinrich Böll ein, die man anführen kann, wenn ein bestimmter, wichtiger Abschnitt des 20. Jahrhunderts facettenreich und vielseitig kennengelernt werden will.


    Lieber Dostoevskij,


    auf diese drei wäre ich nicht unbedingt gekommen, weil ich einfach zu wenig von ihnen gelesen habe. Aber wie Du schon schreibst: Sie bilden "lediglich" einen wichtigen Abschnitt des 20. Jahrhunderts ab, genau wie Thomas Mann.


    Nach längerem Grübeln und einem "Spaziergang" enlang der Bücherregale bin ich auf Julien Green gestoßen. Allein schon von den Lebensdaten (1900 - 1998) war er in der Lage, das Lebensgefühl des Jahrhunderts abzubilden. Da ich aber keinen Überblick über das Gesamtwerk habe (meine Kenntnisse beschränken sich auf "Leviathan" und "Adrienne Mesurat"), fällt es mir schwer, ihm das Prädikat "Abbilder eines Jahrhundertgefühls" anzuhängen.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Eigentlich ist es ja auch nur wieder ein netter Werbespruch. Ob der tatsächlich so (und so ernst) gemeint war, und ob sich eine intensive Auseinandersetzung damit überhaupt lohnt, bleibe mal dahin gestellt. Wir tun es ja trotzdem ...


    Mal abgesehen davon, dass ich nicht beurteilen kann, ob diese Einschätzung stimmt (Maigret stand bislang nicht auf meiner Liste, was ich evtl. ändern sollte ...), [...]


    Maigrets Welt ist die sehr detailliert beschriebene eines Kleinbürgers, die nur auf den ersten Blick französisch ist; wenn man genauer hinsieht, aber den (zumindest europäischen) Kleinbürger ganz allgemein betrifft. Insofern kann ich die Aussage Hensels nachvollziehen. Simenon beschreibt diese Welt auch ziemlich wertfrei, wenn ich mich recht erinnere.


    frage ich mich, welches Werk wohl am perfektesten das Lebensgefühl des vergangenen Jahrhunderts abbildet - falls das überhaupt möglich ist bzw. falls es so etwas wie ein Jahrhundert-Lebensgefühl überhaupt gibt. Ich komme zu keinem Ergebnis.


    Simenon (bzw. Maigret) ist schon mal keine schlechte Wahl ...


    da gibt es für mich nur den "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész.


    die Werke von Manès Sperber fallen mir dazu ein.


    Ich will Euch Euer persönliches Erleben nicht streitig machen, keineswegs. Aber man verzeihe mir, der ich (auch) fahrendes Blut in mir habe, dass ich in solchen Fällen immer leicht angesäuert reagiere: Einerseits waren die Juden zwar die grösste, aber nicht die einzige Ethnie, die den Holocaust durchmachte und andererseits sind die - zugegebenermassen grässlichen - Ereignisse von anderthalb Jahrzehnten m.M.n. nicht mit dem Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts identisch. Im Gegenteil: Nur zu viele haben schon immer die Augen davor verschlossen und den Holocaust nicht in ihr Lebensgefühl eintreten lassen.


    Mir fallen Schriftsteller wie Erich Maria Remarque, Joseph Roth und Heinrich Böll ein, die man anführen kann, wenn ein bestimmter, wichtiger Abschnitt des 20. Jahrhunderts facettenreich und vielseitig kennengelernt werden will.


    Das mag für Abschnitte gelten, ja. Remarque weiss ich nicht; ich habe nie etwas von ihm gelesen. Roth war einer derer, wenn ich mich recht erinnere, die den Schwanengesang über Kakanien anstimmten. Böll ein engagierter, aber literarisch hinter Simenon zurückstehender Kritiker der jungen und mittelalterlichen BRD. Beide also zeitlich und regional begrenzt.


    Nach längerem Grübeln und einem "Spaziergang" enlang der Bücherregale bin ich auf Julien Green gestoßen.


    Ich kenne nicht alles von Green. Was ich kenne, verleitet mich dazu, zu sagen: Dieser Amerikaner ist mir zu katholisch für eine unbefangene Darstellung des Lebensgefühls des 20. Jahrhunderts.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

    Einmal editiert, zuletzt von sandhofer ()


  • Eigentlich ist es ja auch nur wieder ein netter Werbespruch. Ob der tatsächlich so (und so ernst) gemeint war, und ob sich eine intensive Auseinandersetzung damit überhaupt lohnt, bleibe mal dahin gestellt.


    ...


    Ich kenne nicht alles von Green. Was ich kenne, verleitet mich dazu, zu sagen: Dieser Amerikaner ist mir zu katholisch für eine unbefangene Darstellung des Lebensgefühls des 20. Jahrhunderts.


    Lieber Sandhofer,


    ich glaube schon, dass der "Reklamespruch" ernst gemeint war. Ob man ihn deshalb ernst nehmen muss, ist eine andere Frage.


    Zu Julien Green: Natürlich ist sein Gesamtwerk katholisch-schwarz wie das Sauer- und Münsterland. Aber da das katholische Lebensgefühl auf einen großen Teil der Weltbevölkerung zutrifft, würde ich ihn schon als wichtigen literarischen "Zeugen" des vergangenen Jahrhunderts akzeptieren - mit Einschränkungen.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo Sandhofer,


    Ich will Euch Euer persönliches Erleben nicht streitig machen, keineswegs. Aber man verzeihe mir, der ich (auch) fahrendes Blut in mir habe, dass ich in solchen Fällen immer leicht angesäuert reagiere: Einerseits waren die Juden zwar die grösste, aber nicht die einzige Ethnie, die den Holocaust durchmachte und andererseits sind die - zugegebenermassen grässlichen - Ereignisse von anderthalb Jahrzehnten m.M.n. nicht mit dem Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts identisch. Im Gegenteil: Nur zu viele haben schon immer die Augen davor verschlossen und den Holocaust nicht in ihr Lebensgefühl eintreten lassen.


    Nun muss ich dir widersprechen und ich verstehe nicht direkt dein "Euch" und "Euer". Damit will ich keinesfalls etwas gegen Leserins Vorschlag sagen.
    Ich erkläre mich: Manès Sperber ist wohl Jude gewesen, doch war er auch Kommunist, Resistenzler, er hat sich von Stalin-Russland abgewendet und die Partei, die sein Lebensinhalt war, enttäuscht verlassen. Lange vor dem Nazi-Régime war er ein großer Anhänger von Alfred Adler. Diese Freundschaft zerbricht an Sperbers Begeisterung für den Kommunismus. Nach dem 2. Weltkrieg lebt er in Frankreich, setzt sich für die Freiheit der Kultur ein, für politisch Verfolgte, und rückt politisch relativ nach rechts, als er Beiträge für "Voice of America" verfasst, den Nato-Doppelbeschluss verteidigt und Entsetzten über die 68-er Bewegung äußert. Aus all diesen Gründen ist Sperber mir in den Sinn gekommen. Angesäuert reagiere ich, wenn ein Mensch nur auf seine religiöse Herkunft reduziert wird, und dass nicht nur Juden den Holocaust durchgemacht haben, brauchst du nicht unbedingt mir zu erzählen.


    liebe Grüße
    donna


    Edit: Alles was ich hier aufgezählt habe, hat Sperber auch mehr oder weniger literarisch verarbeitet. Meine Aufzählung ist selbstverständlich ganz grob zusammengefasst.

  • Angesäuert reagiere ich, wenn ein Mensch nur auf seine religiöse Herkunft reduziert wird, [...]


    Verständlich. Das geht mir ja auch so. Immerhin aber hast Du zum Thema "Sperber" auf die Seite des Jüdischen Museums Wien verlinkt, wo das Judentum Sperbers natürlich im Zentrum steht. So musste ich davon ausgehen, dass es auch Dir wichtig ist ...


    Im übrigen würde ich Sperber, den Ex-Kommunisten, der vor den 68ern Angst empfand, vielleicht in Falle der Angst vor den 68ern als fürs 20. Jahrhundert typisch betrachten; der Kommunismus war, soweit er freiwillig gewählt war, eine Krankheit einer bestimmten Schicht von Intellektuellen und m.M.n. nicht typisch ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Halloha!


    Hiermit bringe ich den Staatsanwalt Paravent, den "großen Stumpfsinn" nebst gefälliger, noch immer der Lösung harrender Quadratur zur Kenntnis. Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts? Natürlich bei Simenon, wer könnte daran zweifeln, jedermann ist bislang dieser Autor eingefallen, wenn es darum ging, das Empfinden eines ganzen Jahrhunderts zu beschreiben. Allerdings: Sperber, Kertesz, Remarque, Roth, Böll ad infinitum. Auch: Goebbels Tagebücher, Schicklgrubers Krämpfe, Lacans Abstrusitäten, Hesses Murmelspiel, Konsalik, Obermayer, Hintergruber, Stanglbrunner und Konsorten. Und tatsächlich: Sperbers Affinität zum Kommunismus und seine Abkehr von den 68igern sind nicht repräsentativ für meinen Großvater väterlicherseits, Bergbauer und Holzknecht. Welcher in den Arbeitspausen sich mit Sterzessen begnügte und Adorno verschmähte (hätte er wohl für einen Ferienort an der ligurischen Küste gehalten). Nichts desto weniger hat Großväterchen auch ein Lebensgefühl sein eigen genannt, wenn er auch eher Peter Rossegger für dessen Beschreibung in Anspruch genommen hätte.


    Und natürlich ist der Reklamespruch ernst gemeint. Aber sowas von ernst. Wie geiz ist geil und die längste Praline der Welt (gibt's echt keine längere? da sollte doch mal ein Thread dazu eröffnet werden). Aber ernst ist das durchaus zu nehmen, bräuchte man bloß den Finanzvorstand des Verlages befragen.


    Im übrigen bitte ich (und der Herr Staatsanwalt auf schweizerischen Zauberbergen schließt sich dem an) um angelegentliche Information über den Stand der Dinge. Und obwohl der Transzendenz im Grunde abgeneigt, erlaube ich mir den Hinweis auf die Arbeiten Herrn Lindemanns und seiner Beschreibung der Zahl pi als transzendenter Zahl. Aber die Wissenschaft schreitet fort und keiner (nicht einmal der Schreiber dieses Beitrags) weiß, was denn die holde Zukunft bringt.


    Mit allerherzlichsten Grüßen


    s.

  • Mal davon abgesehen davon, dass es um die Frage des allgemeinen Zeitempfindens des 20. Jahrhunderts und wie es sich in der Literatur widerspiegelt, gehen soll, sicher ein gewaltiges Projekt für die Historiker, Kultur- und Literaturwissenschaftler der kommenden Generationen, überrascht mich euer Namens-Angebot. Remarque ist doch eher von zeitgeschichtlichem als von literarischem Interesse, Böll ist ein Irrtum der Literaturgeschichte, er hat nichts geschrieben, dass Bestand haben wird und Joseph Roth sitzt oben im Olymp neben Rilke, Kafka und Musil, überzeitlich geborgen und aufgehoben.
    Julien Green, so sehr sich mich einige seiner Bücher beeindruckt haben (er hat aber auch weniger gute geschrieben), gehört mit seiner ungesunden und unverarbeiteten Mischung aus Katholizismus und Homosexualität überhaupt nicht in den Kreis der hier gesuchten Kandidaten.
    Sandhofers Beitrag hat mich schwer befremdet, sowohl inhaltlich als auch von seiner Wortwahl.
    Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch Zäsuren. Erschütterungen des Lebens, des Sinnzusammenhangs, vor denen die Sprache, die Literatur nicht verschont geblieben ist (keiner hat das klarer erkannt als Adorno), haben die Menschen an den Abgrund geführt. Aus diesem Jahrhundert des Abgrunds ertönen, wie ein Wunder, ja als ein Wunder, die Stimmen von Paul Celan, von Samuel Beckett, von Thomas Bernhard und Imre Kertész.
    Die Leserin


  • Julien Green, so sehr sich mich einige seiner Bücher beeindruckt haben (er hat aber auch weniger gute geschrieben), gehört mit seiner ungesunden und unverarbeiteten Mischung aus Katholizismus und Homosexualität überhaupt nicht in den Kreis der hier gesuchten Kandidaten.


    Liebe Leserin,


    ich habe mir erlaubt, diesen Abschnitt in unserer "Leviathan"-Leserunde zu thematisieren.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Nun, abgesehen davon, dass zum Zeitpunkt, als Hensel diesen Satz formulierte, noch gut ein Viertel zu diesem 20. Jahrhundert fehlte und scheichsbeutel^ natürlich auch Recht hat, wenn er darauf hinweist, dass es wohl so etwas wie das Leben und das Gefühl des 20. Jahrhunderts kaum geben wird: Der kleinbürgerlich-katholisch aufgewachsene Simenon deckt mit seinen Lebensdaten und seinen Themen (er hat ja auch noch anderes als seine Maigret-Krimis geschrieben!) tatsächlich einen wichtigen Teil des Fühlens und Denkens des 20. Jahrhunderts ab. Eben den des europäischen Kleinbürgers.


    Wie es ein Zeitgenosse (und Konkurrent) formulierte:


    La nuit du carrefour ist der Roman eines sonderbaren Menschen, über den sich sogar die guten Literaten Frankreichs, Pierre Mille und auch Colette, ein wenig die Köpfe zerbrechen: Simenon ist ein Mensch, der mit der Regelmässigkeit eines Federviehs allmonatlich seinen Roman legt. Der Held ist stets ein einfacher Kommissar vom Quai des Orfèvres und heisst Maigret, obwohl er dick ist. Die Romane sind fast alle nach dem gleichen Schema geschrieben. Aber alle sind sie gut. Es ist eine Atmosphäre darin, eine gar nicht billige Menschlichkeit, ein Soignieren des Details - alle Kritiker finden, Herr Simenon verschwende gute Qualitäten an ein schlechtes Genre.


    So Friedrich Glauser im Jahre 1932. (Und Glauser, dessen Wachtmeister Studer sich in jener Zeit zu formen begann, muss es wissen. Er wäre wohl, hätte er so lange gelebt wie Simenon, ein valabler Kandidat geworden für den hier disputierten Titel.)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen


    Ein derart heterogenes Jahrhundert kann man meiner Ansicht nach nicht an einem einzigen Autor festmachen. Wenn, dann noch am ehesten an Kafka. Er steht für die Desorientierung in den Kriegen, aber auch für die Dissoziation der nachfolgenden Generationen.

  • Das Lebensgefühl im 20. Jahrhundert. Was für ein Anspruch! Ich finde es schon beleidigend von einem Autor zu erwarten, er kann es zusammen fassen.


    Wenn man bedenkt was in wenigen Jahrzehnten nur auf unserem kleinen Kontinent passiert ist, dann wird eine Vereinheitlichung von Empfindungen nur einer unterstellen, der kein Lebensgefühl und keine Veränderung kennt, oder vielleicht ein extrem schlechtes Gedächtnis hat.


    Na ja, oder er will provozieren ;-)

  • Wenn man bedenkt was in wenigen Jahrzehnten nur auf unserem kleinen Kontinent passiert ist, dann wird eine Vereinheitlichung von Empfindungen nur einer unterstellen, der kein Lebensgefühl und keine Veränderung kennt, oder vielleicht ein extrem schlechtes Gedächtnis hat.


    Das geschieht ja alle Tage. Und je grösser die Distanz zur Epoche, umso mehr Gemeinplätze. Das "finstere Mittelalter" ist so ein typischer. Wir, die wir noch ganz nahe am 20. Jahrhundert sind, den Grossteil unserer bewussten Zeit darin verbracht haben, wir sehen natürlich die Veränderungen, Brüche, Verunsicherungen. Doch das erlebt jede Epoche. Denken wir an den Barock mit dem Bruch mit der Katholischen Kirche und dem Dreissigjährigen Krieg, die Goethe-Zeit mit den napoleonischen Kriegen und dem Aufkommen des Nationalstaates. Dennoch können wir heute von "Barock" und "Romantik" reden und finden viel Gemeinsames. Auch Brüche stiften ein gemeinsames Gefühl.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Das geschieht ja alle Tage. Und je grösser die Distanz zur Epoche, umso mehr Gemeinplätze. Das "finstere Mittelalter" ist so ein typischer. Wir, die wir noch ganz nahe am 20. Jahrhundert sind, den Grossteil unserer bewussten Zeit darin verbracht haben, wir sehen natürlich die Veränderungen, Brüche, Verunsicherungen. Doch das erlebt jede Epoche. Denken wir an den Barock mit dem Bruch mit der Katholischen Kirche und dem Dreissigjährigen Krieg, die Goethe-Zeit mit den napoleonischen Kriegen und dem Aufkommen des Nationalstaates. Dennoch können wir heute von "Barock" und "Romantik" reden und finden viel Gemeinsames. Auch Brüche stiften ein gemeinsames Gefühl.


    Nun gut, Stilepochen. Das trifft aus meiner Sicht nicht den Kern des Problems (des unlösbaren) ein Lebengefühl für einen Zeitraum ohne Differenzierung zu beschreiben. Bei Stilepochen fallen mir eher Stichworte wie Selektion und Verklärung ein. Eher müsste man die Lebensgefühle von Hugenotten und Jesuiten im 18. Jahrhundert vergleichen und den gemeinsamen Kern finden und denselben auf so ziemlich alles ausdehnen, was sich damals in der Welt herumgetrieben hat. Natürlich gibt es Zeit übergreifende Lebensgefühle. Ein Matrose auf dem Panzerkreuzer Potiemkin wird sich einem Matrosen auf der Victory näher gefühlt haben als seinem kommandierenden Offizier ;-) Ein Soldat der roten Armee wird in der Schlacht von Stalingrad nicht viel anders gefühlt haben, als die meisten deutschen Landser, die dort waren, wengistens wenn ihr 20. Jahrhundert vor 1945 zu Ende war und sie keine Zeit mehr bekamen unterschiedliche Gefühle zu entwickeln.
    Wenn eine werdende Mutter viel Lebensgefühle mit anderen werdenden Mütter seit Bestehen der Menschheit teilt, wird sie doch im Laufe ihres Lebens mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht viele Anteile davon beibehalten.
    Am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten deutlich weniger als 2 Milliarden Menschen auf der Welt, am Ende waren es 6 Milliarden. Nicht einfach denen mehr als die elementaren, zeitunabhängigen Empfindungen als Gemeinsamkeit anzudichten ;-)


  • Ein derart heterogenes Jahrhundert kann man meiner Ansicht nach nicht an einem einzigen Autor festmachen. Wenn, dann noch am ehesten an Kafka. Er steht für die Desorientierung in den Kriegen, aber auch für die Dissoziation der nachfolgenden Generationen.


    Interessante These... Auf einer abstrakten Ebene ist sie möglicherweise gar nicht so falsch, wenn man auf die konkrete Ebene des Alltags und des "Allgemeinbefindens" herunter steigt, müsste man schon festhalten, dass nur ein winziger Bruchteil der im 20. Jh. gelebt habenden Personen auch nur im entferntesten sich wiederzuerkennen bereit wäre.


    Kenne Simenon kaum, äussere mich also nicht zu ihm.


    Sind 100 Jahre in einer so kurzlebigen Zeit wie der unseren nicht doch einfach zu lang? - Oder glaubt ihr, dass auch schon in früheren Zeiten die Kurzlebigkeit ähnlich verspürt wurde und es also vergleichbar wäre mit "Früher war alles besser, die Jungend von heute ist verdorben", was man seit vielen tausend Jahren schon kennt?


    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann