Bessere Erzähler in den fernsehlosen Zeiten

  • Dickens ist in seinen berühmten Werken wie Oliver Twist oder David Copperfield für meinen Geschmack unterträglich sentimental. Das Alterswerk hingegen besticht sprachlich wie thematisch bei beiden, finde ich.


    Kein Vergleich mit Raabe, *der* wird wirklich unerträglich. Dickens bietet immer noch genügend soziale Wirklichkeit, um die sentimentalen Zuckerschichten auszugleichen. Im "Copperfield" zeichnet Dickens zB in nur wenigen Zeilen das Porträt eines seine Frau verprügelnden Säufers auf der Straße, das man so schnell nicht mehr vergisst.


    Update 3.1., 19.01: Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist der frühe und mittlere Raabe, bei dem sich schlechterdings grausige Texte finden. Später wird das alles sehr, sehr viel besser.

  • Das würde mich auch interessieren. Bleak House habe ich zuhause, aber noch nicht gelesen. D.h., es wäre einen Versuch wert, es zu lesen?


    Auf jeden Fall. Um die Wikipedia zu zitieren:


    Zitat

    Bleak House is the ninth novel by Charles Dickens, published in 20 monthly parts between March 1852 and September 1853. It is widely held to be one of Dickens' finest and most complete novels, containing one of the most vast, complex and engaging arrays of minor characters and sub-plots in his entire canon.


    Hm. Vielleicht sollte ich das auf die Wiederlesenliste setzen.

  • Zu welcher Phase rechnest Du "Bleak House", nach meinem Empfinden Dickens bestes Werk?


    Das ist für mich das zeitlich erste seines späten - und damit guten! - Werks. Im übrigen gebe ich Giesbert Recht: Raabes Mittelwerk ist noch unerträglicher ... :sauer:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Hm. Vielleicht sollte ich das auf die Wiederlesenliste setzen.


    Hallo giesbert,


    unbedingt! Ich habe es bislang zweimal "getan" und werde wohl auch bei einem evtl. dritten Mal noch viele schöne Details in diesem ausufernden Figurenuniversum entdecken.


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Hallo!



    Ich bin wirklich (negativ) überrascht, dass Dickens von euch nicht geschätzt wird.


    Also ich lese Dickens ganz gerne, im Moment höre ich "Oliver Twist" im Original als Komplettlesung.


    thopas: Du solltest es einmal mit "Bleak House" versuchen, der gehört zum Besten, was Dickens geschrieben hat.


    CK

  • Ich habe natürlich den Fehler gemacht, dass ich (und leider in der Reihenfolge!) Great Expectations, Copperfield, Nickleby und Chuzzlewit hintereinander weggelesen habe - bis mir fast übel geworden ist. Und so steckt nun seit rund 10 Jahren mein Buchzeichen im letzten Drittel von Chuzzlewit ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Was Dickens betrifft, habt ihr mich ja etwas beruhigen können. Aber dafür habt ihr mich mit eurer Einschätzung von Raabe in Entsetzen gestürzt. Raabe gehört zu meinem innersten Bestand. Das ist für mich so, als würdet ihr Büchner und Kleist herabsetzen. Leider wird Raabe viel zu selten gelesen. "Die Akten des Vogelsangs" und "Altershausen" (die bestürzendste Studie über das Altern) gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Literatur. Raabe ist eben nicht sentimental, sondern er zeigt in seinen Texten in erschütternder Weise die Krisenhaftigkeit der Existenz auf. In seiner Anklage verwandt mit Dickens (ohne die tiefgreifende Sozialkritik und seinen Humor), in seiner Trauer vergleichbar mit Stifter, in seiner psychologischen Durchdringung vergleichbar mit Thomas Mann, wenn dieser seiner ätzende Ironie aufgibt und zum Wesentlichen vordringt. Raabe liebt die Menschen, aber er verzweifelt an ihnen. Die Abgründe, die Ausweglosigkeit in seinen Texten machen seine Modernität aus. Er gehört zu den wahrhaftigen Autoren und ihm gebührt meine größte Hochachtung.


    Die Leserin

  • "Die Akten des Vogelsangs" und "Altershausen" (die bestürzendste Studie über das Altern) gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Literatur.


    Manchmal schützt genaues Lesen vor Missverständnissen ;-) -: Sandhofer & ich mögen (mit guten Gründen - bei mir weiß ich das, Sandhofer unterstelle ich das einfach mal) das Frühwerk und das Gros der mittleren Werkphase nicht. Das Spätwerk (das für mit mit den "Krähenfelder Geschichten" beginnt (Zum wilden Mann etc.)) ist erste Sahne. Und die Akten und Altershausen gehören zum späten Spätwerk. Sind also große Klasse.

  • Überredet! Dickens bekommt noch eine Chance von mir :smile:


    Und Bleak House kriegt jetzt eine Chance von mir :zwinker:
    Ich habe das Buch im Regal stehen, fand es von der Thematik her aber nicht sehr verlockend.

  • Richtig viel Spaß macht das Buch "Die Wahrheit über den Fall D." von Fruttero & Lucentini. Es findet sich darin der letzte, unvollendete, unglaublich spannendende Roman "Das Geheimnis des Edwin Drood" von Dickens, daneben handelt es von einem fiktiven Dickens-Kongreß, auf dem u. a. Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Philip Marlowe und Maigret über verschiedene Thesen des von Dickens geplanten Buchendes diskutieren.


    Um nochmals auf Raabe zurückzukommen: Ich glaube nicht, jemanden, was die Debatte um sein Früh-und Spätwerk betrifft, missverstanden zu haben ( sie ist ja nicht neu), sondern ich finde nur, das sich bereits in seinen frühen Werken abzeichnet, was im Spätwerk dann so ungeheuer ausgereift ans Licht tritt. Raabe, der ja fast schon zu den Vergessenen gehört, was ein Skandal ist, hat es verdient, dass wir sein Gesamtwerk in seiner Entwicklung betrachten und ehren, ohne seine frühen Bücher leichthin abzuwerten und seine späten Werke gönnerhaft hervorzuheben. Dass er selbst sein frühes Schaffen mit viel Skepsis in Augenschein genommen hat, ehrt ihn um so mehr, gibt uns aber noch keine Veranlassung es ihm gleichzutun.

    Die Leserin

  • Und Bleak House kriegt jetzt eine Chance von mir :zwinker:
    Ich habe das Buch im Regal stehen, fand es von der Thematik her aber nicht sehr verlockend.


    Dann lasse ich jetzt noch die Britannica ein gutes Wort für Dickens einlegen:


    "Charles John Huffam Dickens English novelist, generally considered the greatest of the Victorian era. His many volumes include such works as A Christmas Carol, David Copperfield, Bleak House, A Tale of Two Cities, Great Expectations, and Our Mutual Friend.


    Dickens enjoyed a wider popularity than had any previous author during his lifetime. Much in his work could appeal to simple and sophisticated, to the poor and to the Queen, and technological developments as well as the qualities of his work enabled his fame to spread worldwide very quickly. His long career saw fluctuations in the reception and sales of individual novels, but none of them was negligible or uncharacteristic or disregarded, and, though he is now admired for aspects and phases of his work that were given less weight by his contemporaries, his popularity has never ceased and his present critical standing is higher than ever before. The most abundantly comic of English authors, he was much more than a great entertainer. The range, compassion, and intelligence of his apprehension of his society and its shortcomings enriched his novels and made him both one of the great forces in 19th-century literature and an influential spokesman of the conscience of his age.


    [...]


    But, besides giving new life to old stereotypes, Pickwick displayed, if sometimes in embryo, many of the features that were to be blended in varying proportions throughout his fiction: attacks, satirical or denunciatory, on social evils and inadequate institutions; topical references; an encyclopaedic knowledge of London (always his predominant fictional locale); pathos; a vein of the macabre; a delight in the demotic joys of Christmas; a pervasive spirit of benevolence and geniality; inexhaustible powers of character creation; a wonderful ear for characteristic speech, often imaginatively heightened; a strong narrative impulse; and a prose style that, if here overdependent on a few comic mannerisms, was highly individual and inventive. Rapidly improvised and written only weeks or days ahead of its serial publication, Pickwick contains weak and jejune passages and is an unsatisfactory whole—partly because Dickens was rapidly developing his craft as a novelist while writing and publishing it. What is remarkable is that a first novel, written in such circumstances, not only established him overnight and created a new tradition of popular literature but also survived, despite its crudities, as one of the best known novels in the world."