August 2007 - Uwe Johnson: Jahrestage

  • Hallo!


    Gesundes neues Jahr!


    Ich befinde mich lesend erst im dritten Band und habe nach längerer Unterbrechung wieder etwas Zeit und Muße zum Weiterlesen gefunden. Das Johnson sich steigerte beim Schreiben jeden Bandes ist mir auch so vorgekommen. Wie er diesen gewaltigen Stoff so zusammenhalten konnte, ohne Überschneidungen und lose Enden, ihn immer weiter aufbauen konnte, ohne wirkliches Abgleiten und Nebensächliches, ist mir sowieso ein Rätsel. Ab und an nutzte er die Gelegenheit auch gleich eine ganze Reihe von Handlungssträngen zu beenden, wo dies sich anbot und erforderlich wurde, wie zum Beispiel am Ende des zweiten Bandes, der geschichtlich gesehen die letzten Kriegstage und die ersten unruhigen Nachkriegstage darstellt. Da werden reihenweise Schicksale beschlossen. Dabei viel mir noch auf, dass Johnson manchmal da, wo die geschichtliche Gerechtigkeit die Täter nicht belangte oder belangen konnte, dies eine schicksalhafte Gerechtigkeit wohl tat. Ein gutes Beispiel ist das Ende von Jerichows schwarzbraunen Bürgermeister Friedrich Janssen...


    Vielleicht liegt die Steigerung in Johnsons vierten Band daran, dass er viele Jahre nach den anderen geschrieben wurde, kurz vor Johnsons Tod, sozusagen sein eigentliches Alterswerk? Vielleicht hatte er sich in seiner englischen Einsamkeit an seinen Erzählkosmos geklammert und ist somit mit ihm immer mehr verwachsen? Aber das sind reine Vermutungen, da ich soweit noch nicht gelesen habe und auch keine Fakten über Johnsons letzten Lebensjahre kenne.


    Ich bin gespannt, wie es weitergeht...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo!


    Mein Fazit:


    Gut ein Jahr haben mich die “Jahrestage” beschäftigt, da ich die vier Bände im Abstand von einigen Monaten las. Den ersten Band beendete ich noch skeptisch, erschien mir das Projekt doch eine Reihe formaler Mängel zu haben, speziell die Kombination der Tagebuchform mit den verschiedenen Handlungsebenen erschien zu gekünstelt. Mein Enthusiasmus stieg ab dem zweiten Band jedoch an und erreicht gegen Ende seinen Höhepunkt. Einmal mehr bestätigt sich, dass der vielgescholtene Kanon eine so schlechte Arbeit nicht leistet, wenn er Werke wie die “Jahrestage” als unverzichtbar vorschlägt.


    Tatsächlich gehört diese Tetralogie, in der Suhrkamp Taschenbuch Ausgabe knapp 1900 kleinbedruckte Seiten, zu den Höhepunkten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Die strukturelle und inhaltliche Dichte ist verblüffend, und man muss schon zu sehr bekannten Namen greifen, um einen vergleichbaren fiktionalen Kosmos zu finden. Die Realitätsdichte des Romans ist verblüffend und macht in Kombination mit der strukturellen Brillanz die hohe literarische Qualität des Textes aus.


    Ich habe die Tetralogie zwar sorgfältig gelesen, aber das ist bei weitem nicht genug, diese ausreichend zu würdigen. Man müsste sie mehrmals lesen, alleine um allen Handlungssträngen adäquat folgen zu können, da ist von Feinheiten der Komposition noch gar nicht die Rede. Kurz: Zu einer sachgemäßen Würdigung fühle ich mich nach dieser ersten Lektüre gar nicht im Stande.


    Die “Jahrestage” haben jedenfalls das Zeug, wie andere Meisterwerke der Weltliteratur, ein Leseleben dauerhaft zu begleiteten.


    CK

  • xenophanes: Ich habe bisher nur den ersten Band gelesen. Aber wenn ich Deine Lobeshymne so betrachte, werde ich wohl in naher Zukunft auch die anderen drei mir noch zu Gemüte führen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Ja unbedingt BigBen, xenophanes' Lobeshymnen sind gerechtfertigt. Habe gestern wieder eifrig in den Jahrestagen gelesen und mich in den dritten Band vorgeblättert. Am Ende des zweiten und Anfang des dritten Bandes finde ich sowohl die Beschreibungen des meklenburgischen Nachkriegsdeutschland sehr beeindruckend, als auch die Schilderungen der amerikanischen Gegenwart der 68er. Vieles war mir so nicht bekannt und die Atmosphäre ist richtig spürbar. Auch die Gegenüberstellung der Verhältnisse in den Ostblockstaaten und der westlichen Welt und ihrer kaltkriegerischen Spannungen finde ich sehr raffiniert gestaltet, besonders die Entwicklungen in der CSSR betreffend. Also ich bleibe dran, zumindest, wenn es die knappe Zeit mir vergönnt... FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Bitte noch nicht verschieben ins Archiv, habe die Lektüre wieder aufgenommen und werde noch berichten. FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Nach längerer Pause lese ich also wieder in den Jahrestagen. Ich stieg beim 5. Mai 1968 lesend ein und traf gleich auf ein Inferno der Sonderklasse, eines der düstersten Abschnitte der deutschen Geschichte... ein kurzer aber bedrückender Rückblick Johnsons auf die Räumung von Konzentrationslagern zum Ende des 2. Weltkrieges im Allgemeinen und denn die Räumung des KZ Neuengamme und das sich in die Lübecker Buch ereignende tausendfache brutale Sterben in den letzten Kriegstagen... mit einem typhalen Ausblick... Das ist einfach nicht mehr vorstellbar, was sich dort zu dem Zeitpunkt abgespielt haben muss. Ich staune, wie Johnson dies bei der Recherche und Umsetzung in Prosa verkraften konnte. Nicht nur gelang ihm dies auf erschütternder dabei sachlicher Weise, er denkt auch gleichzeitig noch über Geschichtsschreibung nach und kommt zu einem ernüchternden Fazit. Ich musste mich einige Tage weiterlesen, um nicht gleich wieder die Kraft zur Lektüre zur verlieren. In diesem Abschnitt fiel mir auch auf, dass Johnson sich an einer Stelle Sarkasmus nicht verkneifen konnte (wie die Deutsche Flack die Flüchtlinge gegen alliierte Bomber verteidigte...). Jedenfalls ist Johnson dann, wenn die deutsche Geschichte am Dunkelsten wird zumeist immer noch sachlich und bleibt seine Prosa eindrucksvoll. Die folgenden Tage wird es spannend, denn die Familie Papenbrock wird von ihrer eigenen Geschichte eingeholt... Die Lektüre bleibt faszinierend, wenn sie auch einige Kraft abverlangt... FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10