September 2006 - Marcel Proust

  • Hallo zusammen,


    Zitat

    Proust auf Französisch zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall.


    Mir geht es da wie Steffi und JMaria: mein französisch reicht nicht...somit bleiben wir der deutschen Sprache verhaftet. Dennoch genieße ich die sanfte Stimmung, die bei den Besuchen von Swann spürbar ist.


    Ich bin noch am Anfang von Combray und daher meine Frage an JMaria:


    Zitat

    angelehnt an einen Stich nach Benozzo Gozzoli


    Hast Du den Titel des Stichs oder vielleicht einen link?


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)


  • Meines Dafürhaltens benützt Proust die Alltagssprache des gehobenen, gebildeten Bürgertums. Die unterscheidet sich natürlich von der Sprache eines Bauern oder eines Arbeiters, dennoch ist es Alltagssprache, wie wir sie auch heute noch von Vertretern dieser Schicht lesen und hören(!) können.
    [...]
    Allenfalls müssten wir so ein Bürgertum in Deutschland in den ehemaligen freien Reichsstädten und den ehemaligen Hansestädten suchen. Doch der Frankfurter Goethe lebte ein Jahrhundert früher, blieben also vielleicht noch die beiden Manns als Stilvorbilder. Vor allem der junge Thomas Mann (Heinrich wählte bedingt durch seine Themen und seine Weltanschauung eine andere Stilebene) könnte als Äquivalent zu Proust herhalten.


    Vorneweg: Ich bin kein grosser Proust-Kenner.


    Wo ich Vorbehalte anbringen möchte: Ich halten weder die exzessiven Stellen bei T. Mann noch bei M. Proust für Sprache, die von irgendjemandem gesprochen wird. - So lange Sätze spricht niemand, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.


    Ansonsten finde ich den Vergleich der Sprache Prousts mit T. Mann ziemlich passend, wobei ich vielleicht behaupten würde, dass Prousts Stil mit den sehr, sehr langen Sätzen für die französische Sprache eher noch ungewöhnlicher ist, als die schönen Sätze Manns für die deutsche Sprache...


    offtopic:
    Die Sprache von H. Mann möchte ich nicht gerne in einem Zug mit T. Mann und Proust genannt sehen, vielleicht bin ich nicht an die richtigen Bücher geraten, aber mittlerweile sind es doch auch nicht mehr so arg wenige, die ich vom älteren (aber nicht grösseren :breitgrins: ) Bruder gelesen habe...


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen !


    Vielen Dank für eure Einschätzung zur Sprache, sandhofer und alpha, das ist wirklich sehr interessant. Ich denke auch, dass sein Stil etwas ganz besonderes ist, das erkennt man auch durch die Übersetzung hindurch. Daher finde ich es schade, dass es wohl keine wirklich entsprechende Übersetzung gibt, denn die von Rechel-Mertens ist ja auch schon mind. 50 Jahre alt. Ich könnte mir vorstellen, dass es seither einige neue Erkenntnisse gibt.


    Zitat von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4772&ausgabe=200203

    Hier

    noch ein Artikel über die Übersetzungen.




    A.Prometheus: Eine Liebe Swanns gibt es bei Liebeskind auch in der Übersetzung von Kleeberg.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    @A. Prometheus:
    den Namen des Stichs konnte ich nicht ausfindig machen. Google gibt unter den Stichworten "Benozzo Gozzoli - Abraham/Sarah" keine vernünftigen Hinweise. Gozzoli war ein früher Renaissance Maler 1420-1497.


    Ich habe mir das Proust-ABC bestellt. Sobald ich es in den Händen halte, gehe ich der Sache nochmals nach.


    Steffi hat erwähnt, dass Proust durchaus auch Künstlernamen (und vielleicht auch Werke) erfand. Vielleicht ist das auch hier der teilweise der Fall. Den Künstler gab es, doch ob es auch ein Werk des Künstlers, das eine Szene mit Abraham und Sarah zeigt?


    Steffi
    in dem zitierten Text, in meinem Beitrag weiter oben, aus "Combray" findet sich das Wort: "sanftmutlos" (...sanftmutlosen Züge...). Wie heißt es in deiner Übersetzung? Sanftmutlos - ein interessantes Wort.


    Viele Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    hier eine Gallerie des Künstlers Gozzoli. Das gesuchte Bild konnte ich allerdings nicht ausmachen. Oder übersehe ich da etwas?


    http://www.benozzogozzoli.it/


    Ich habe das 1. Kapitel abgeschlossen.


    Dabei scheint mir der Aspekt der Erinnerung besonders wesentlich. Für Proust gibt es zwei Arten der Erinnerung, und das ganze Werk scheint mir Erinnerung.


    Da ist zum einen die bewusste Erinnerung, die unwesentlich ist:


    Zitat

    Aber da alles, was ich mir davon ins Gedächtnis rufen können, mir dann nur durch bewußtes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und da die auf dieses Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht erfasst,…


    Auf der anderen Seite steht die unbewusste Erinnerung:


    So bezieht sich die anfängliche Erinnerung auf das vordergründige Erlebnis des Zu-Bett-Gehens, welches so angstbehaftet und schrecklich für den Protagonisten ist. Die erinnerten Bilder dazu bilden die Bühne dieses Dramas.

    Zitat

    …es war, als habe ganz Combray nur aus zwei durch eine schmale Treppe verbundenen Stockwerken bestanden.


    An das andere Combray hätte er sich bewusst erinnern können, aber es war nicht wichtig, es war tot für ihn.


    Die unbewussten Erinnerungen werden durch Assoziationen der Sinne ausgelöst. Besonders Geschmack und Geruch wirken sehr stark assoziativ. Sehr deutlich wird es in der Madeleine Szene beschrieben.


    Diese Darstellung und Herausbildung der unbewussten Erinnerung finde ich beeindruckend. Wer kennt nicht die Wirkung eines bestimmten Geruches, der uns z.B. in die frühe Kindheit versetzt. Bei mir ist es z.B. bei frisch gemähtem Rasen der Fall.


    Über die Madeleine und die Teetasse geht es dann ins 2. Kapitel zu seiner Tante.


    Bis dahin
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo zusammen !


    Es ist auch interessant, dass die bewußten Erinnerungen eigentlich eher schlechte Erinnerungen sind, während die unbewußten Erinnerungen, von denen ja das 2. Kapitel handelt, überwiegend positiv sind - zumindest bisher.


    Ich habe jetzt noch die redigierte Fassung von Rechel-Mertens, also die Werkausgabe mit Kommentaren (nur wenige) hier und werde nachher nochmal einen Blick, auch bezüglich Gozzoli, reinwerfen. Waren das nicht Bilder in einer Kirche ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo Steffi,


    Vielleicht finden wir ja noch das passende Bild von Gozzoli. Das Bild zeigt die Stellung des Vaters (also im Bild Abraham), vor dem ja unser Held auf der Treppe große Angst hat.


    Aber letztendlich ist der Vater inkonsquent in seinen Anweisungen, z.B. lässt er die Mutter beim Kind schlafen. Er ist ein Mann der Willkür und ist damit eigentlich ein negativer Faktor für die Erziehung. Im Gensatz dazu verhalten sich Mutter und Großmutter.


    Irgendwo hab' ich gelesen, dass der Held/Kind -wie der Autor- Marcel heißt. Der Name Marcel ist aber bisher im Text nicht erwähnt worden. Oder hab' ich es überlesen... :confused:


    Bis dahin, ich mach' mich wieder ans Werk... :lesen:


    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo zusammen!


    Irgendwo hab' ich gelesen, dass der Held/Kind -wie der Autor- Marcel heißt. Der Name Marcel ist aber bisher im Text nicht erwähnt worden. Oder hab' ich es überlesen... :confused:


    Nein, hast Du nicht. Erst spät in A la recherche du temps perdu (in La prisonnière = in meiner Ausgabe Band 11 und 12 von 15), und auch nur zweimal, wird der Protagonist mit Vornamen angeredet. Und auch dort verklausuliert. In der parallelen Leserunde auf Literaturschock haben wir das übrigens schon auseinanderklamüsert ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sandhofer,


    Vielen Dank für den Hinweis...auch auf den Hinweis der parallelen Leserunde.


    Im Rahmen der weiteren Besprechung, sollte man den Namen "Marcel" dann acuh nicht benutzen..., obwohl man es ja weiß.... :spinnen:


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo,


    ich bin eine der drei Teilnehmerinnen der parallelen Leserunde und bin eine "stille" Mitleserin eurer Leserunde, die ich mit Spannung und Interesse verfolge.


    Ich gebe zu, ich nähere mich Proust und seinem Werk sehr unbedarft und ohne Vorbereitung. Umso spannender und interessanter ist es für mich euren Links und Informationen darüber nachzugehen und zu überdenken.


    Ich selbst lese die Taschenbuchausgabe von suhrkamp in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Diese Taschenbuchausgabe kann ich beim besten Willen nicht weiterempfehlen . Der Druck ist ziemlich schlecht und mir beginnt beim lesen teilweise die Augen wehzutun, was ich sonst nicht habe. Ich werde mir also nach und nach alle Bände von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als Hardcover-Ausgabe zulegen, wobei ich noch nicht weiß welche Übersetzung für mich dann in Frage käme. Auch bei mir reichen leider nicht die Französischkenntnisse aus um in Original zu lesen.


    Ich habe mir das Proust-ABC bestellt.


    Proust-ABC klingt hilfreich! Kannst du mir bitte den Autor nennen?


    Ich wünsche euch noch viel Vergnügen mit Proust!


    Liebe Grüße
    wolves


  • Hallo zusammen,


    mmh - seh ich jetzt nicht so und ich hoffe, mir wird vergeben, wenn ich den Namen 'Marcel' bereits benutze und benutzt habe. Ich lese meist Sekundärliteratur nebenher. Das gibt mir dem Lesen noch die besondere Würze. Dagegen lese ich nicht gerne in anderen Leserunden, das verwirrt mich irgendwie.


    Im Proust-ABC steht nichts näheres über den Stich von Benezzo Gozzoli, ich habe nachgeschaut. Dafür gibt es ein Kapitel über "Erinnerung, unwillkürlich und willkürlich. Auch über die Eisenbahn. Darüber berichte ich morgen, denn in wenigen Minuten kommt im ZDF 22.35 Uhr "Ich, Reich-Ranicki".


    @wolves
    das Proust ABC gibt es derzeit bei Jokers:


    http://www.jokers.de/reste-gue…8fb926c76353c601fad4f092/


    Viele Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen !


    Der längste Satz:


    "Ein aus Träumen entstiegenes Kanapee zwischen neuen, sehr wirklichen Sesseln, kleine mit rosa Seide bezogene Stühle, eine durchwirkte Tischdecke auf dem Spieltisch, die zur Würde einer Person erhoben schien, denn wie eine Person besaß sie eine Vergangenheit ..." Die Gefangene


    Der berühmteste Satz:
    "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" Combray


    Der umstrittenste Satz:
    "Sie bot meinen Lippen ihre traurige, bleiche ausdruckslose Stirn, auf der sie zu dieser Morgenstunde noch nicht die falschen Haare angebracht hatte, und auf der die Knochen sich zeigten wie die scharfen Spitzen einer Dornenkrone oder die Kügelchen eines Rosenkranzes ..." Combray




    Quelle: Das Marcel Proust Lexikon
    von Philippe Michel-Thiriet
    suhrkamp taschenbuch



    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen !


    Ich habe mir ja noch die Werkausgabe , übersetzt von Rechel-Mertens und revidiert von Luzius Keller ausgeliehen. Zu Gozzoli findet sich dort folgende Information:
    Anspielung auf die später im Zweiten Weltkrieg zerstörten Fresken im Campo Santo von Pisa. Unter den dort dargestellten Szenen aus dem Alten Testament befand sich jedoch keine, die Prousts Text entspräche. Vielmehr erinnert sich Proust an eine Skizze Ruskins aus dem Campo Santo mit dem Titel "Abraham parting from the angels". ...


    Dass es sich bei dem Erzähler um eine rein autobiografische Figur handelt, hat Proust in einem Brief an Daudet bestritten. Es gibt aber wohle große biografische Übereinstimmungen, wobei er für viele Figuren reale Vorbilder hatte und die aber oft zusammenmischte. Ach die Orte und Namen sind oft nicht nur erfunden, sondern haben einen realen Bezug. Da ein großes Thema ja die Zeit ist, denke ich, dass sich schon aus logischen Gründen da viel verändern und vermischen kann. Im übrigen stellt sich ja bei der Frage "Wer bin ich", vielleicht am Ende die (Teil-)Antwort "Ein Produkt meiner Erinnerung
    "?


    Ich habe mir sandhofers Anmerkungen zum Stil nochmal durch den Kopf gehen lassen. Hinsichtlich der

    Zitat

    Alltagssprache des gehobenen, gebildeten Bürgertums

    schneidet die Übersetzung Kleebergs meiner Ansicht nach schlecht ab. Er stellt viele Sätze, im Vergleich zu Rechel-Mertens, um, damit sie wohl leichter lesbar und verständlicher sind. Beim Vergleichen habe ich sogar entdeckt, dass er z.B. ein anderes Subjekt verwendet. Die Satzmelodie, das ein bißchen umständliche oder auch fremdartige, geht dabei etwas verloren, obwohl er immer noch einen sehr, sehr guten Stil verwendet. Ich würde also jetzt doch zur von Keller revidierten Fassung von Rechel-Mertens tendieren. Zumal es ja Kleebergs Übersetzung nur für den ersten Teil gibt.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,
    hallo Maria !


    Ich stelle nochmal zum Vergleich die verschiedenen Textstellen rein:


    Auf S. 114 hat mich ein Absatz fasziniert, in dem Proust berichtet wie christliche Nächstenliebe sich in einem Gesicht widerspiegelt. Ganz anders als man es auf Anhieb beschreiben würde. Und doch - irgendwie hat er recht. Proust hat eine scharfe Beobachtungsgabe:


    "Wenn ich später im Laufe meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere, positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand, freilich auch keine Furcht vor der Berührung mit ihm, kurz, sie trugen die sanftmutlosen Züge, das sympathielos erhabene Antlitz der wahren Güte zur Schau."


    Kleeberg:
    "Als ich später im Laufe meines Lebens die Gelegenheit hatte - zum Beispiel in Klöstern-, wirklich heilige Verkörperungen aktiver Nächstenliebe kennenzulernen, hatten sie im allgemeinen die muntere, nüchterne, gleichgültige und unwirsche Miene eines gehetzten Chirurgen, ein Gesicht, auf dem keine Spur von Mitgefühl oder Rührung angesichts der menschlichen Leiden zu lesen ist, keine Spur von Angst, es etwa vor den Kopf zu stoßen, und dies ist das unsympathische und bewünderungswürdige Gesicht wahrer Güte."


    Rechel-Mertens,revidiert von Keller: der Anfang ist identisch
    " ....freilich auch keine Furcht, daran zu rühren, kurz, sie zeigten die Züge ohne Sanftmut, das unsympathische, erhabene Antlitz der wahren Güte."


    Gruß von Steffi

  • Hallo wolves,


    Zitat

    Ich gebe zu, ich nähere mich Proust und seinem Werk sehr unbedarft und ohne Vorbereitung.


    Das geht mir genauso, deshalb ist das gemeinsame Lesen immer ein großer Ansporn für mich, über den Text genauer nachzudenken und Sekundärliteratur dazu zu lesen.


    Ich werde gleich mal zu eurer Leserunde klicken und sehen, was ihr so diskutiert habt !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Zitat

    Ich gebe zu, ich nähere mich Proust und seinem Werk sehr unbedarft und ohne Vorbereitung.


    Das geht mir ebenso. Ich habe noch keine Sekundärliteratur zur Hand, was ich aber in den nächsten Tagen nachhole.


    Ich möchte gern wieder auf den Text zurückkommen. Ich glaube, wir sind hier alle unterschiedlich weit fort geschritten.


    Im zweiten Kapitel von Combray kommen wir vom Bahnhof zunächst zur Tante Léonie, wo auch die Madeleine wieder auftaucht. Sie ist hier wohl das Verbindungsstück zur Erinnerung…oder? Zwar taucht hier die Madeleine auf, aber es wird noch nicht deutlich, was das Glücksgefühl im ersten Kapitel auslöste, als er bei seiner Mutter den Tee und die Madeleine genoss.


    Im Dialog mit Francoise erwähnt die Tante Léonie ihre Schwächlichkeit und vielleicht baldigen Tod.


    Zitat

    Nun, es ist wirklich Zeit, dass der liebe Gott mich zu sich nimmt,…


    Dennoch bleibt die gesamte Stimmung eine süße (süß wie eine Madeleine) und sanfte Kindheitserinnerung. Die Erwähnung des Todes wirkt nicht Furcht erregend.


    Ist es nicht so, wenn man als Erwachsender sich an eine furchtvolle Situation in der Kindheit erinnert (z.B. hatte ich große Furcht vor Gewittern), so ist die Erinnerung daran keineswegs mehr bedrohlich, sondern eher beruhigend und sanft. Gern stehe heute bei Gewittern draußen auf der überdachten Terrasse und erinnere mich an diese Situationen meiner Kindheit, in denen Gewitter mir große Furcht einflößten.


    Wie seht ihr das?


    Das Thema Zeit wird in der Beschreibung der Kirche aufgenommen:


    Zitat

    …die vierte Dimension war die der Zeit – und das mit seinem durch die Jahrhunderte gleitenden Schiff von einer Empore, einer Kapelle zur anderen nicht nur einige Meter zu durchmessen und zu überwinden schien, sondern aufeinanderfolgende Epochen,…


    Sehr ausgiebig wird der Glockenturm, als ein immer bestimmender Teil von Combray beschrieben.


    Zitat

    Dieser Glockenturm von Saint-Hilaire war es, der allen Beschäftigungen, allen Stunden, allen Aussichtspunkten der Stadt ihr Gesicht, ihre Krönung, ihre Weihe verlieh.


    Die Beschreibung der Kirche und des Glockenturms wirkt nie langweilig, eher faszinierend. Dennoch bleibt die Bedeutung für mich unklar. Hier fehlt wohl Sekundärliteratur. Hat jemand eine Idee ?


    JMaria

    Zitat

    mmh - seh ich jetzt nicht so und ich hoffe, mir wird vergeben, wenn ich den Namen 'Marcel' bereits benutze und benutzt habe.


    O.K., da wir es ja nun alle wissen, spricht wohl kaum etwas dagegen, den Namen zu benutzen. :zwinker:



    So – hier beende ich erstmal meine Leseeindrücke.


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo zusammen,


    Ich habe mit dem Lesen gestoppt, damit Manjula und Prometheus aufholen können. Somit kann ich nebenher ein bißchen im Proust-ABC stöbern.


    @A. Prometheus
    Im zweiten Kapitel von Combray kommen wir vom Bahnhof zunächst zur Tante Léonie, wo auch die Madeleine wieder auftaucht. Sie ist hier wohl das Verbindungsstück zur Erinnerung…oder? Zwar taucht hier die Madeleine auf, aber es wird noch nicht deutlich, was das Glücksgefühl im ersten Kapitel auslöste, als er bei seiner Mutter den Tee und die Madeleine genoss.


    Bahnhof. Gutes Stichwort.
    Über die Eisenbahn heißt es im Proust-ABC, dass es für Proust das Gefährt der Einbildungskraft war:


    Der größte Reiz liegt bei einer Fahrt darin, daß die Eisenbahn dem Reisenden kein realistisches Bild der Landschaft vermittelt, durch die er sich bewegt, sondern eine Abfolge von fragmentarischen Ansichten, die er selbst wieder zusammensetzen muß; die einzelnen Blicke aus den Zugfenstern erscheinen fast wie eine Serie gerahmter Bilder ...


    das würde sehr gut auch zu den Erinnerungsstücken passen, die auftauchen und wieder verschwinden.


    Viele Grüsse und einen schönen Sonntag wünscht
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen !


    Ich bin heute zu der Betrachtung über den Weißdorn gekommen. Schon faszinierend, wie er über den Weißdorn und die damit geschmückte Kirche zu den Mädchen kommt. Band 2 der "Recherche" heißt ja auch "Im Schatten junger Mädchenblüte". Die Beschreibung fand ich mal wieder sehr schön und poetisch.


    Über die Kirchenbeschreibung habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Hier bringt Proust einen weiteren Zweig der schönen Künste ins Spiel, nämlich die Baukunst. Lt. Johann Sulzer (1720-1779) gehören folgende dazu: "Baukunst, Bildhauerkunst, Mahlerey, zeichnende Kunst, Dichtkunst, Musik, Redekunst, Beredsamkeit, Schauspiel". Auch der von Proust geschätzten John Ruskin hat sich sehr mit Architekturtheorie und Ästethik beschäftigt.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    kleiner Zwischenstand von meiner Seite: Marcel liest Bergotte, den er von seinem Freund Bloch empfohlen bekommt. Bei mir ist das S. 128.



    Steffi
    Die Betrachtung des Weißdorns scheint der nächste poetische Höhepunkt zu sein. Auf welcher Seite kommt diese Betrachtung?


    Die anfängliche Euphorie über die sanfte und süße Stimmung der Kindheitserinnerung flacht etwas ab. Das ist mein momentanes subjektives Empfinden. Ich habe inzwischen auch schon viele Kommentare über mehrmaliges Aufgeben und Wiederbeginnen dieses Werkes gelesen.


    Wie seht ihr das?


    PS: Das soll aber keineswegs bedeuten, dass ich das Buch wieder ins Regal stelle. Ich glaube, dass hier noch viel zu entdecken ist.


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)