September 2006 - Marcel Proust

  • Hallo zusammen,
    hallo Maria und Manjula !


    Hiermit eröffne ich also die Leserunde, weitere Interessierte sind herzlich willkommen.


    Ich lese den den ersten Teil "Combray" in einer neuen Üebrsetzung von Michael Kleeberg. Leider habe ich beim letzten Büchereibesuch vergessen, mir das Buch mitzunehmen, daher kann ich noch gar nicht sagen, ob sich die Übersetzung von der alten Ausgabe maßgeblich unterscheidet.


    Allzu weit bin ich noch nicht gekommen. Der Erzähler, dessen Gedanken während schlafloser Nächte wir hören, erinnert sich an seine Kindheit. Er muss ein ziemlich ängstliches Kind gewesen sein oder vielleicht sind ihm diese Erinnerungen auch nur im Gedächtnis geblieben. Obwohl - erinnert man sich nicht eher an die positiven Ereignisse ?


    Besonders schön fand ich, als dann recht bald Swann auftaucht. Die Vermischung der persönlichen Erinnerung mit philosophischen Gedanken unsere soziale Persönlichkeit ist eine geistige Schöpfung der anderen gefällt mir sehr gut, auch wenn dem Leser dadurch viele andere Assoziationen aus der Hand genommen werden und vielleicht auch ein bißchen der Genuß, sich diese Themen aus dem Text heraus zu erarbeiten. Aber ich bin ja erst wenige Seiten weit gekommen und das ist nur ein erster Eindruck.


    Als ich gerade über das gelesene nachdachte, bemerkte ich, dass ich tatsächlich erst 35 Seiten gelesen habe, aber ich hatte das Gefühl, dass es viel mehr waren. Nicht wegen der Sprache, es liest sich bisher recht flüssig, sondern wegen der Dichte der Gedanken. Während man bei anderen Büchern nach so kurzer Zeit noch nicht mal ganz eingestiegen ist, habe ich das Gefühl, ich bin mit Combray schon sehr vertraut.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,
    hallo Steffi,


    danke für das Eröffnen des Threads und für die bereits angelegte Linkliste in den 'Leserunden-Materialien'.
    ergänzen möchte ich hier gleich mal den NZZ Artikel:


    http://www.nzz.ch/2006/09/16/li/articleEH1K7.html


    den fand ich ganz interessant, im Hinblick auf das Märchen "Das Fliedermütterchen" von Christian Andersen, in Bezug auf die Episode im 1. Kapitel/Combray mit den >>petites Madeleines<<


    Ich lese die Suhrkamp Taschenbuch Ausgabe "In Swanns Welt" , mit den ersten 3 Bänden, deutsch von Eva Rechel-Mertens.


    Zitat von "Steffi"


    Als ich gerade über das gelesene nachdachte, bemerkte ich, dass ich tatsächlich erst 35 Seiten gelesen habe, aber ich hatte das Gefühl, dass es viel mehr waren. Nicht wegen der Sprache, es liest sich bisher recht flüssig, sondern wegen der Dichte der Gedanken. Während man bei anderen Büchern nach so kurzer Zeit noch nicht mal ganz eingestiegen ist, habe ich das Gefühl, ich bin mit Combray schon sehr vertraut.


    das Gefühl beschlich mich auch. Es gab so viele Eindrücke, dass mir ehrlichgesagt der Kopf etwas schwirrte. In Proust Werk sollten wir auch mal auf "Düfte" achten. Wolf erwähnte es im Hoerbuecher4um.


    dem kleinen Marcel's einziger Rückzugsort ist das 'Klosett', wenn es auch nicht mit diesem Wort in den Recherche auftaucht:


    Zitat S. 21:
    ... Ich wollte nicht sehen; ich stieg schluchzend im Hause hoch unter das Dach hinauf, wo neben dem Schulzimmer ein kleiner Raum lag, der nach Iris roch und außerdem von einem wilden Johannisbeerstrauch durchduftet wurde... und einen Blütenzweig durch das halboffene Fenster schob...., lange Zeit als Zuflucht, zweifellos weil er der einzige war, in dem ich mich einschließen durfte; dort ging ich all den Dingen nach, die unverletzliche Einsamkeit erfordern: Lektüre, Träumerei, Tränen und geheime Lust. ... Zitat_Ende


    Proust war 12 als sein Vater ihn beim Masturbieren erwischte. Es heißt in der Biographie von Ronald Hayman, dass das Fenster immer offen stand und ein Flieder ließ einen Zweig in den Raum wachsen. Übrigens hieß es damals, dass Masturbieren die Willenskraft schwächte. Wir können uns vorstellen, dass ein heranwachsender Junge damals zwiegespalten sein mußte: zwischen Angst und Lust. Proust wurde von seinen Eltern Willensschwäche vorgeworfen, doch überraschender Weise, hat der Vater in dieser Situation sich realistisch und einfühlsam gezeigt.


    Wie üblich tue ich mir schwer mit der 'Leidenschaft' jeglicher Form in französischen Romanen. Auf mich wirkt sie meist zu aufgebauscht. Ich denke da auch an den jungen Mann in der "Kameliendame" oder in "Manon Lescaut". Vielleicht fällt dir, Steffi, ein besseres Wort ein, denn ich glaube, du weißt was ich meine.


    Der junge Marcel ist sehr auf seine Mutter fixiert. Versucht mit allen Mitteln einen Gute-Nacht-Kuss von ihr zu bekommen.


    Seine Beschreibung des Schlafes, immer nur kurz, fand ich sehr eindringlich (gleich auf der 1. Seite). Schon hier findet sich eine Art Nervosität und resultiert vermutlich darin, dass der Junge die Nacht als die traurige Stunde der Dunkelheit empfindet. (Seite 61).


    Die >>Madeleine<< Teeszene, und wie ihm die Erinnerung hervorquillt, fand ich toll.


    Viele Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Damit wir den Link auch hier haben :zwinker: :



    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Maria !




    Danke für den link zu dem Artikel. Ich habe ihn mit Interesse gelesen, aber insgesamt finde ich, dass es doch etwas sehr hineininterpretiert ist.




    Zitat von "Maria"


    dem kleinen Marcel's einziger Rückzugsort ist das 'Klosett', wenn es auch nicht mit diesem Wort in den Recherche auftaucht:


    Was duc schon wieder alles weißt. Als Klo hätte ich es nicht erkannt *g*


    Zitat


    Wie üblich tue ich mir schwer mit der 'Leidenschaft' jeglicher Form in französischen Romanen. Auf mich wirkt sie meist zu aufgebauscht. Ich denke da auch an den jungen Mann in der "Kameliendame" oder in "Manon Lescaut". Vielleicht fällt dir, Steffi, ein besseres Wort ein, denn ich glaube, du weißt was ich meine.


    Ein besseres Wort weiß ich auch nicht, aber ich weiß, was du meinst. Sie (=die Franzosen") tragen das Herz oft auf der Zunge, sozusagen. Aber mich hat auch diese Fixierung auf den Kuß der Mutter etwas befremdet, sie soll ihm die Angst nehmen und ist doch so streng, während der Vater mit seiner Inkonsequenz, die ihm ja ermöglicht, dass seine Mutter bei ihm im Zimmer schläft, nicht so gut wegkommt. Auch die Schilderungen der Großtanten sind sehr amüsant.


    Über die Madeleine-Szene hatte ich ja nun schon viel gehört, aber ich fand sie dann doch nicht so überwältigend. Ich konnte das nicht so recht nachempfinden.


    Sehr schön fand ich aber die Geschenke der Großmutter, Romane von George Sand, und ihr Hang, etwas gebrauchtes zu schenken, weil da bereits eine Seele vorhanden ist. ... wählte sie ein altes Exemplar aus, als könne aufgrund der Tatsache, sich so lange außer Gebrauch zu befinden, ihr Nützlichkeitsaspekt verblichen sein, so daß sie eher dazu geeignet schienen, uns vom Leben der Menschen früherer Zeiten zu erzählen, als uns bei den Notwendigkeiten zu Diensten zu sein.


    Im zweiten Kapitel erzählt er von seiner Großtante und der Dienerin Francoise. Dabei ist mir aufgefallen, dass er, als er die morgendlichen Gepräche schildert, in denen sie schon die ersten Neuigkeiten kommentieren :zwinker: nicht mehr in der Ich-Perspektive bzw. innerer Monolog ist. Hat er also die Gepräche belauscht oder ist es nur eine Vorstellung ? Wie passt das zu der Erinnerung ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo Steffi,


    Zitat


    Über die Madeleine-Szene hatte ich ja nun schon viel gehört, aber ich fand sie dann doch nicht so überwältigend. Ich konnte das nicht so recht nachempfinden.


    Richtig. Die Szene war kurz. Ich hatte mich auch gewundert. Doch dann wird sie ausführlicher erzählt im 2. Kapitel. Ist dir das auch aufgefallen? Er vertieft die Ereignisse, die er im 1. Kapitel zusammenfasst?


    Somit gibt das Ende des 1. Kapitels die Lösung auf die Frage, die ich mir gestellt habe, was wohl die verlorene Zeit ist? Es sind verschüttete Erinnerungen, die in einem so entlegenen Teil des Gehirns ein Dasein fristen, und nur darauf warten, durch einen Duft, Geschmack, einen Blick auf einen Gegenstand oder auf eine Kirche, alles wieder vor Augen bringt.


    Wie detailgenau er die Kirche beschrieben hat.


    Ich finde, das Buch passt gut in die Herbstzeit. Mir geht es so, dass ich in dieser Zeit empfänglicher auf Düfte und Farben bin und ich komme mir beim Lesen gerade vor, als ob Weihnachten vor der Tür steht. Wirklich wahr. Was ein Buch an Gefühlen auslösen kann!


    Zitat


    Sehr schön fand ich aber die Geschenke der Großmutter, Romane von George Sand, und ihr Hang, etwas gebrauchtes zu schenken, weil da bereits eine Seele vorhanden ist. ... wählte sie ein altes Exemplar aus, als könne aufgrund der Tatsache, sich so lange außer Gebrauch zu befinden, ihr Nützlichkeitsaspekt verblichen sein, so daß sie eher dazu geeignet schienen, uns vom Leben der Menschen früherer Zeiten zu erzählen, als uns bei den Notwendigkeiten zu Diensten zu sein.


    Tolle Beschreibung. Macht mich auch neugierig auf George Sand's Romane. Ich wollte noch nachschauen, wie die 4 Dorfromane von George Sand auf deutsch heißen. Wird doch bestimmt etwas darüber zu finden sein.


    Zitat


    Im zweiten Kapitel erzählt er von seiner Großtante und der Dienerin Francoise. Dabei ist mir aufgefallen, dass er, als er die morgendlichen Gepräche schildert, in denen sie schon die ersten Neuigkeiten kommentieren :zwinker: nicht mehr in der Ich-Perspektive bzw. innerer Monolog ist. Hat er also die Gepräche belauscht oder ist es nur eine Vorstellung ? Wie passt das zu der Erinnerung ?


    Gute Frage!
    Vielleicht wurde darüber am Tisch beim Essen berichtet. Anekdoten über Tante Leonie.
    Belauscht? Das würde mich dann doch irgendwie enttäuschen *brauche ein Kopfkratz Smilie?* :rollen:


    Wie weit bist du? Ich habe gerade 'Eulalie' kennengelernt *g*


    Liebe Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Steffi,
    noch ergänzend -
    Die 4 Dorfromane von George Sand lauten:


    Le Meunier d'Angibault 1845; (Der Müller von Angibault)
    La Mare au Diable, 1846; (Das Teufelsmoor)
    La petite Fadette, 1849; (Die kleine Fadette)
    François le Champi, 1850 (Francois das Findelkind)


    :winken:


    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Steffi,


    ich arbeite gerade meine Notizen zu "Combray" durch, indem ich im Internet stöbere.
    u.a. interessierte mich die Legende von Golo und Genoveva von Brabant, die in der Laterna Magica abgebildet ist und dessen Geschichte von der Großmutter vorgelesen wird. (1. Kapitel, Combray, S. 17)


    http://de.wikipedia.org/wiki/Genoveva_von_Brabant


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Steffi und Maria,


    ich wollte mich nur kurz melden, damit Ihr nicht denkt, dass ich mich ganz ausklinke. Das Buch habe ich nach meinem Urlaub gleich bestellt, leider ist es bisher nicht eingetroffen. Ich bin aber immer noch guter Hoffnung, dass ich mich Euch dann anschließen kann; Eure Einträge machen mich nämlich schon sehr neugierig :smile:


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo Manjula,


    schön, dass du dabeibleibst. Ich freue mich schon auf deine Eindrücke. Bisher sind wir noch nicht sehr weit gekommen, so dass du uns bestimmt noch leicht einholen kannst.


    Hallo Maria,


    ich bin Eulalie schon begegnet *ggg* Auch den "verstoßenen" Onkel und dessen Vorlieben habe ich schon kennengelernt. Schön, wie eindringlich und gleichzeitig naiv-kindlich das erzählt wird.


    Danke für den link über Genoveva - ich wollte auch schon nachsehen, das hast du mir erspart !
    Auch super, dass du die vier Romane von George Sand gefunden hast. Würden mich ja auch interessieren :zwinker:


    Liebe Grüße von Steffi

  • Hallo Manjula
    toll, dass du dran bleibst. :klatschen:


    Hallo Steffi,


    Mich würde der erste Satz im 1. Kapitel und im 2. Kapitel in der neuen Übersetzung interessieren.
    Bei mir heißt es:


    Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. (Übersetzung Eva Rechel-Mertens) 1. Kapitel


    Von weitem, aus einer Entfernung von zehn Meilen in der Runde, zum Beispiel von der Eisenbahn aus gesehen, wenn wir in der letzten Woche vor Ostern ankamen, war Combray nur eine Kirche, die die Stadt in ihrer Gesamtheit in sich verkörperte, von ihr und für sie der Ferne Kunde gab und, wie man beim Näherkommen bemerkte, mit ihrem hohen, düsteren Kragenmantel wie eine gute Hirtin ihre Schafe die grauwolligen Rücken der zusammengedrückten Häuser gegen den Wind zu beschirmen versuchte, die hier und da noch ein Stück der alten Stadtmauer - in der vollkommenen Kreisform kleiner Städte auf den Bildern der Primitiven - umgrenzte. 2. Kapitel


    Was für ein toller Satz.


    Die Schäferin lässt mich nicht ganz los. Ein Hinweis auf die Definition den Schäferroman?
    http://www.uni-essen.de/einlad…en/epik/schaeferroman.htm


    Auszug aus dem obigen Link:
    Zunächst ist diese Romanform vor allem Ausdruck einer oft sentimentalen Sehnsucht nach Naturnähe und der Schlichtheit des Landlebens


    Bei dem Onkel bin ich in der Zwischenzeit auch angelangt. Marcel war so begeistert von der Begegnung mit der Kurtisane, dass er zu Hause davon erzählte. Die Folge - er durfte nicht mehr zu seinem Onkel.


    Liebe Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo Maria und Steffi,


    mein Buch kam gestern an :klatschen: und ich habe gleich mal begonnen. Allzuweit bin ich bisher noch nicht gekommen, aber die ruhige Art des Erzählers spricht mich an. Besonders hat mir gefallen, wie er seine Träume von Zimmern aus seiner Kindheit und die nach dem Erwachen folgenden Erinnerungen beschreibt (solche Träume habe ich selbst auch häufig). Nachdem ich das Buch zur Seite gelegt hatte, ging mir diese Stelle noch lange durch den Kopf und es kamen ganz viele Kindheitserinnerungen hoch, an die ich jahrelang nicht gedacht hatte. Es ist selten, dass mich ein Buch so direkt anrührt und ich finde es sehr schön.


    Bis Sonntag bin ich jetzt unterwegs, aber das Buch kommt natürlich mit. Mal sehen, ob ich Euch einholen kann :zwinker:


    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!


    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo Maria und Manjula,


    super, Manjula, dass dein Buch endlich gekommen ist. Mir gefällt die ruhige Erzählweise ebenfalls und obwohl nichts spektakuläres geschieht, meint man, den Erzähler, Combray und alles andere schon ewig zu kennen. Ich kann auch nicht sehr viele Seiten am Stück lesen und will das eigentlich auch gar nicht. Es ist schöner, alles in Ruhe zu genießen. In meinem Buch bin ich auf S. 126 (das 2.Kapitel beginnt auf S. 74).


    Maria:


    Hier die beiden Anfänge:


    1. Kapitel:
    Lange Zeit habe ich mich zu früher Stunde schlafen gelegt.
    Zuweilen fielen mir, kaum war die Kerze gelöscht, die Augen so schnell zu, daß ich nicht dazu kam, mir zu sagen:"Ich schlafe ein." Und eine halbe Stunde später weckte der GEdanke, es sei Zeit, Schlaf zu finden, mich auf; ich wollte den Band weglegen, den ich glaubte, in Händen zu halten, und die Kerze ausblasen; ich hatte während meines Schlafs nicht aufgehört, mir Gedanken über das soeben Gelesene zu machen, doch diese Gedanken hatten eine etwas eigentümliche Wendung genommen ...


    2.Kapitel:
    Combray von weitem, aus zehn Meilen im Umkreis, vom Bahnhof her gesehen, wenn wir die letzte Woche vor Ostern eintrafen, das war eine Kirche, sie resümierte den Ort, sie stand für ihn, sprach den Weitherkommenden von ihm und an seiner Stelle und hatte, kam man näher, inmitten der Felder und gegen den Wind, wie ein Hirt seine Schafe, dicht um ihren düsteren Umhang die wolligen grauen Rücken der rings versammelten Häuser geschart, um die hier und da die Überreste einer mittelalterlichen Stadtmauer einen ebenso perfekten Kreis andeuteten, wie er auf primitiven Gemälden die kleinen Städte umgibt.


    Die Übersetzungen unterscheiden sich ja schon sehr deutlich. Mir gefällt "meine" Übersetzung, also Kleeberg, im Vergleich besser, was aber auch daran liegen kann, dass ich daran schon gewöhnt bin.


    Dsa Bild des Hirten hätte ich jetzt zwar in religiösem Sinne interpretiert, aber dein Hinweis auf den Schäferroman überzeugt mich sehr. Denn es gibt bisher keine religiösen Motive, jedenfalls sind sie mir nicht aufgefallen. Ich glaube, ich werde daraufhin nochmal die Beschreibung der Kirche nachlesen.


    Gruß von Steffi

  • Vielleicht könnte der Vollständigkeit-halber die französische Originalversion hier nichts schaden:
    1. Kapitel
    Longtemps, je me suis couché de bonne heure.
    2. Kapitel
    Combray, de loin, à diex lieues à la ronde, vu du chemin de fer quand nous y arrivions la dernière semaine avant Pâques, ce n'était qu'une église résumant la ville, la représentant, parlant d'elle et pour elle aux lointains, et, quand on approchait, tenant serrés autour de sa haute mante sombre, en plein champ, contre le vent, comme une pastoure ses brebis, les dos laineux et gris des maisons rassemblées qu'un reste de remparts du Moyen Âge cernait ça et là d'un trait aussi parfaitement circulaire qu'une petite vielle dans un tableau de primitif.


    Ich glaube, ich enthalte mich lieber eines Kommentars :smile:



    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen


    alpha:
    danke dir für den Originaltext. Ich bedauere es sehr, dass ich keine Kenntnisse in der französischen Sprache habe. :sauer:


    Steffi:
    Das Bild des Hirten hätte ich jetzt zwar in religiösem Sinne interpretiert, aber dein Hinweis auf den Schäferroman überzeugt mich sehr. Denn es gibt bisher keine religiösen Motive, jedenfalls sind sie mir nicht aufgefallen. Ich glaube, ich werde daraufhin nochmal die Beschreibung der Kirche nachlesen


    Ich glaube nur sehr diskret, fast schon scheu, streut Proust ab und zu religiöse Elemente mit rein. Wenn er z.B. von allegorischen Gestalten von Giotto, Caritas von Giotto oder von Invidia spricht, mit einem Ausdruck von Neid im Gesicht. Sind das religiöse Skulpturen? Ich vermute es mal. Ich habe noch nicht nachgeforscht. (in meinem TB S. 111 und 112)


    Auf S. 114 hat mich ein Absatz fasziniert, in dem Proust berichtet wie christliche Nächstenliebe sich in einem Gesicht widerspiegelt. Ganz anders als man es auf Anhieb beschreiben würde. Und doch - irgendwie hat er recht. Proust hat eine scharfe Beobachtungsgabe:


    "Wenn ich später im Laufe meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere, positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand, freilich auch keine Furcht vor der Berührung mit ihm, kurz, sie trugen die sanftmutlosen Züge, das sympathielos erhabene Antlitz der wahren Güte zur Schau."


    beeindruckend, diese Beobachtungsgabe, oder?


    Dann geht Marcel in den Garten um zu lesen. Einige Seiten lang wird nun berichtet, was er beim Lesen empfindet.


    Viele Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo an die Leserunde,


    Bisher hatte ich hier nicht an einer Leserunde aktiv teilgenommen, sondern immer nur mitgelesen....


    Ich habe nun seit langem mal wieder hier ins Forum geschaut und mit Freude festgestellt, dass hier Marcel Proust gelesen.


    Gern würde ich mitlesen.


    Ich habe kürzlich das Hörspiel "Combray" nach der Übersetzung von Kleeberg gehört. Die sanfte Stimmung wurde nicht nur durch den Klang der Sprache, sondern auch durch interessante, teilweise verfremdete Klangeffekte sehr schön mitgeteilt. Fazit: Ich war fasziniert....


    Und deshalb möchte ich nun den Text lesen und bin mehr als gespannt.


    Das Buch liegt vor, und ich habe heute begonnen zu lesen. Ich versuche den Rückstand schnell aufzuholen....


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo A.Prometheus,


    schön, dass du mitlesen willst :klatschen: , herzlich willkommen hier !


    Ich bin immer noch nicht weiter gekommen in den letzten Tagen.


    alpha: magst du deine Kritik äußern ? Mein Französisch reicht leider auch nicht allzuweit !


    Auf Marias posting hin habe ich nochmal die Beschreibung der Kirche gelesen und es sind mir sehr viele Dinge aufgefallen, die ich beim ersten Lesen gar nicht bemerkt habe, speziell die Farben.


    Gruß von Steffi

  • Hallo,


    Vielen Dank für den Willkommensgruß!


    Also - ich lese übrigens die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Michael Kleeberg hat bisher nur "Combray" übersetzt. Eine weitere Übersetzung stammt von Luzius Keller. Die Rezensionen der einzlenen Übersetzungen fallen mehr als unterschiedlich aus.


    Ich hoffe, für die gemeinsame Leserunde gibt es bezüglich der unterschiedlichen Texte keine Probleme.


    Die unterschiedlichen Texte und deren Bedeutsamkeit lassen bei mir ganz kleine Zweifel aufkommen, ob wir wirklich das Werk von Marcel Proust lesen oder zu sehr den Interpretationen der Übersetzer ausgesetzt sind.


    Klar, es werden auch andere Texte übersetzt, aber die Übersetzungsarbeit scheint bei anderen Werken nicht die enorme Bedeutung zu haben wie bei Marcel Proust.


    Trotzdem: Ich lese jetzt die Übersetzung von Rechel-Mertens, weil sie mir vorliegt...


    Bis dahin,
    A.Prometheus

    Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!<br />(Hans Castorp in &quot;Der Zauberberg&quot; v. Thomas Mann)

  • Hallo A.Prometheus,
    auch von mir ein herzliches Willkommen in unserer Leserunde. :winken:


    Hallo zusammen,


    Zitat


    Auf Marias posting hin habe ich nochmal die Beschreibung der Kirche gelesen und es sind mir sehr viele Dinge aufgefallen, die ich beim ersten Lesen gar nicht bemerkt habe, speziell die Farben.


    Gruß von Steffi


    ich glaube, wir müssen doch mehr auf religiöse Aspekte im Roman achten. Denn ich las im Proust-ABC, dass er sich zeitlebens über Religion, besonders in seiner Familie, auseinander setzte. Ziemlich am Anfang von Combray (erzwungene Kussszene), nimmt der Vater des Erzählers die Gestalt des Abrahams an, angelehnt an einen Stich nach Benozzo Gozzoli das Swann ihm schenkte. Im Roman ist die geliebte Mutter Christin (Proust Mutter war Jüdin) und der Vater wird zu einem bedrohlichen Patriarchen.


    Den Gedanken fand ich aufschlußreich.


    was mir noch auffiel ist, dass er religiöse Motive meist in Kunstwerken einfließen lässt (Stiche, Bilder, Skulpturen...). Als ob er sonst mit Religion nichts anfangen kann. Oder er ordnet der Kunst einfach alles im Leben unter.


    Viele Grüsse
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo zusammen!


    Wenn ich kurz darf ... :zwinker: (Proust gehört zu meinen absoluten Lieblingen. Leider habe ich keine Zeit für eine Leserunde.)


    Einige Bemerkungen zu Prousts Sprache: Meines Dafürhaltens benützt Proust die Alltagssprache des gehobenen, gebildeten Bürgertums. Die unterscheidet sich natürlich von der Sprache eines Bauern oder eines Arbeiters, dennoch ist es Alltagssprache, wie wir sie auch heute noch von Vertretern dieser Schicht lesen und hören(!) können.


    Für einen Übersetzer stellt sich nun das Problem, dass eine vergleichbare Sprache im Deutschen nicht existiert. Ein gehobenes, gebildetes Bürgertum gab es zur letzten Jahrhundertwende allenfalls in Kakanien (eigentlich auch nur in Wien und Prag). Doch deren Sprache war halt doch eben stark regional geprägt. (Kommt eventuell noch erschwerend hinzu, dass ein schöner Teil dieses kakanischen Bürgertums jüdischen Ursprungs war?)


    Allenfalls müssten wir so ein Bürgertum in Deutschland in den ehemaligen freien Reichsstädten und den ehemaligen Hansestädten suchen. Doch der Frankfurter Goethe lebte ein Jahrhundert früher, blieben also vielleicht noch die beiden Manns als Stilvorbilder. Vor allem der junge Thomas Mann (Heinrich wählte bedingt durch seine Themen und seine Weltanschauung eine andere Stilebene) könnte als Äquivalent zu Proust herhalten.


    Ich habe einen grossen Respekt vor der Arbeit literarischer Übersetzer und weiss, dass es einfach ist, einzelne Stellen zu kritisieren, und ungeheuer schwierig, es über Tausende von Seiten besser zu machen. Mir will scheinen, Steffi, dass "Dein" Übersetzer ein bisschen präziös fomuliert, oft auch vor dem französischen Wort unnötigerweise kapituliert (die Kirche, die den Ort "resümiert"), aber ich gebe zu, dass das französische Original, mit seiner Häufung von Partizipial- und Gérondif-Konstruktionen eine Knacknuss darstellt.


    Proust auf Französisch zu lesen, lohnt sich auf jeden Fall. :zwinker:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus