Klassiker versus Frischlinge?

  • Moin, Moin!


    Kennt auch ihr den Konflikt zwischen Klassikern und Frischlingen? Oder seid ihr so abgebrüht, der neuen und neuesten Literatur den Rücken zeigen zu können? Als kleinen Anreiz zur Diskussion füge ich einen Blogbeitrag ein, den ich vorhin <a href="http://ubique.antville.org/stories/1370081/">schrieb</a>, weil mich des Forenkollegen bibliomane Betrachtungen dazu verführten.


    Christian Köllerer hat seine bibliomanen Betrachtungen <a href="http://www.koellerer.de/q2-2006.html#100406">fortgesetzt</a>. Den <a href="http://www.koellerer.de/q2-2006.html#090406">ersten Teil</a> hatte ich ja zum Anlaß für einen <a href="http://ubique.antville.org/stories/1368854/">eigenen Beitrag</a> genommen. Die Tendenz zur Zweit- und überhaupt Mehrfachlektüre kann auch ich bei mir wahrnehmen. Eingedenk der <a href="http://www.bibliomaniac.de/fab/prim3/suesk.htm">Amnesie in litteris</a> ähnelt die Lektüre manches Buches einer "Neuentdeckung". Solange man spontan ein gutes Dutzend Bücher aufzählen kann, die man mit Heißhunger wiederlesen würde, stellt sich naturgemäß die Frage: Warum das Risiko eines Reinfalls durch Auswahl eines unbekannten Buches womöglich noch allerjüngsten Datums auf sich nehmen? Glücklicherweise bin ich gegen den Zwang gefeit, ein Buch zu lesen, nur um 'mitreden' zu müssen. Dennoch setzen sich nicht wenige Neuerscheinungen in mir durch Mundpropaganda, <a href="http://www.bibliomaniac.de/abc/lz/netz.htm#foren">Webforen</a>, <a href="http://www.bibliomaniac.de/abc/lz/litmix2.htm">Perlentaucher &amp; Deutschlandfunk</a> fest. Nach einem 'Reife- und Selektionprozeß' von bisweilen sogar mehreren Jahren bleiben am Ende immer noch so viele Bücher auf der Lese/Wunschliste übrig, daß der Konflikt zwischen Klassikern und erprobten Büchern nicht beigelegt ist, sondern daß er einem das Bücherleben weiter erschwert. Der Glaube und Herzenswunsch, beiden genügen zu können, ist eine Illusion und führt nur zu Magenleiden, Nervenzerrüttungen und unkontrollierbaren, eruptiven Emotionen. Wie also vorgehen? Gelingt es, mit dem Kompromis zu leben, beide Welten nur bis zu einem gewissen Maß kennenzulernen? Doch in welchem Verhältnis, in welcher Mixtur? Darf man seiner Intuition oder Erfahrung Vertrauen schenken, oder sollte der Prozentsatz strikt geplant werden? 50 zu 50, 30 zu 70 oder 10 zu 90? An mir kenne ich die NEUgier, so daß es schwer fällt, sich den Verlockungen des aktuellen Buchmarktes zu verschließen. Das heißt, mein Weg darf der Zufall nicht sein; vielmehr heißt es, durch fest verplante Leselisten den Klassikern und Wiederlektüren einen Platz vorzuschreiben, der sich resistent gegen die durch Neugier evozierte Verdrängungsgefahr erweist.

  • Hallo zusammen!


    Ihr werdet ja beide bei diesem Thema nachgerade poetisch ... :zwinker:


    Ich gehöre zu den bekennenden Fast-nur-noch-Klassiker-Lesern. Die "Reinfallquote" ist bei einem Klassiker für mich praktisch = 0. Ich habe unterdessen gelernt, welche Klassiker "nicht für mich" sind, und mache unterdessen z.B. einen weiten Bogen um Zola oder nehme Balzac nur in homöopathischen Dosen zu mir. Die Informationen, die man über Klassiker finden kann, sind zahlreicher und schon aufgrund der Menge letzendlich akkurater als die über zeitgenössische Autoren. Das hindert mich nicht daran, so ca. 1 Zeitgenossen pro Quartal "auszuprobieren". Ungefähr jeder zweite ist dabei ein Reinfall. (Die letzten waren Coelho und Boyle.) Aber mit Márquez, Genanzino oder Jelinek waren auch Entdeckungen dabei. Die Avantgarde aber lese ich heute nicht mehr, auch junge Autoren mit ihren postpubertären Problemen (Zoë Jenny!) spare ich mir zusehends. Natürlich hatte ich als junger Mensch auch eine diesbezügliche Phase - heute (wie schon einer meiner Vorredner sagte) muss ich nicht mehr mitreden können.


    Vielleicht spielt noch etwas weiteres eine Rolle. Mich ärgert die auch in der Belletristik zunehmende Erscheinung, dass einerseits der erzählerische Atem immer kürzer wird, von "Abenteuer" zu "Abenteuer" gehetzt wird, die Abschnitte immer kürzer gehalten werden - andererseits Sequels und Prequels und x-bändige Zyklen v.a. die Unterhaltungsliteratur derart zu dominieren beginnen, dass ich jede Lust verliere, auch mal was "Leichteres" zu lesen, weil es ja dann doch Tausende von Seiten umfasst. Natürlich war das schon bei Karl May so - aber den habe ich noch in meiner Jugend gelesen und von daher eine Art nostalgische und rücksichtsvolle Zuneigung mir erhalten.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Moin, Moin!


    Zitat von "sandhofer"

    Das hindert mich nicht daran, so ca. 1 Zeitgenossen pro Quartal "auszuprobieren". Ungefähr jeder zweite ist dabei ein Reinfall.


    Liest du dann aber den "Ausprobierten" weiter? Denn das ist doch auch ein Problem. Nehmen wir nur mal an, man entdeckt pro Jahr 2 Autoren für sich. Sind das solche mit einem dicken Ouevre, kleben einem unversehens 20 ode 30 Bücher an der Backe. Das potenziert sich, wenn mans hochrechnet! Ich habe schon jetzt 45 'Jahresautoren' - diejenigen, von denen ich wenigstens 1 Buch pro Jahr lesen will. Und alljährlich kommen Neuentdeckungen hinzu. Ein Dilemma, das mich in den Wahnsinn treibt.

  • Zitat von "Dostoevskij"

    Liest du dann aber den "Ausprobierten" weiter?


    Im Prinzip ja. Wobei ich im Gegensatz zu Dir sehr planlos lese. Wenn ich also einen "neuen" Autor entdeckt habe, überlasse ich es meist dem Zufall, ob und wann er mich mit einem weiteren Werk des Betreffenden in Kontakt bringt. In der Zwischenzeit habe ich genug anderes, mit dem ich mich lesenderweise beschäftigen kann.


    Allenfalls führe ich grössere oder kleinere thematische Leseprojekte für mich selber durch: Utopisches Denken, Theoretiker der Anarchie, alte Historiker, die Entwicklung des Toleranzgedankens u.ä. Das Ganze sehr locker. Und wie Montaigne leide ich darunter, dass ich, was ich nicht schriftlich fixiert habe, sehr schnell wieder vergesse :redface: .


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo!


    Zitat von "sandhofer"

    Historiker, die Entwicklung des Toleranzgedankens u.ä. Das Ganze sehr locker. Und wie Montaigne leide ich darunter, dass ich, was ich nicht schriftlich fixiert habe, sehr schnell wieder vergesse :redface: .


    Kenne ich. Ich schreibe meine Leseeindrücke nur nicht in die Bücher wie Montaigne, sondern in meine "Notizen" :zwinker:


    CK

  • Zitat von "Dostoevskij"

    Kennt auch ihr den Konflikt zwischen Klassikern und Frischlingen?


    Nein.

    Zitat

    Oder seid ihr so abgebrüht, der neuen und neuesten Literatur den Rücken zeigen zu können?


    Ja ;-)


    Früher habe ich eher Zeitgenossen gelesen, dann kam ich relativ rasch auf die angelsächsischen Erzähler, dann Arno Schmidt und von da ging's ins 18. / 19. Jhrd., in dem ich lit. noch am ehesten wohl fühle.


    Die jüngsten Autoren, die ich gelegentlich lese, sind eigentlich auch schon ganz schön alt: Ror Wolf, Eckhard Henscheid, Hans Wollschläger. JK Rowling ist ne Ausnahme. Die junge dt. Gegenwartsliteratur reizt mich überhaupt nicht, bzw. ich nehme sie fast überhaupt nicht wahr. (Das meine ich ganz unwertend, 's ist halt einfach so.)


    Ich habe aber, wenn ich mal eher zufällig etwa in de.rec.buecher etwa etwas zur "Vermessung der Welt" lese, nicht das Gefühl, sonderlich viel zu verpassen.

  • Moin, Moin!


    Zitat von "giesbert"

    Die junge dt. Gegenwartsliteratur reizt mich überhaupt nicht, bzw. ich nehme sie fast überhaupt nicht wahr. (Das meine ich ganz unwertend, 's ist halt einfach so.)


    Ich bin von einigen Autoren so angetan, daß mir einiges fehlte, wenn ich sie nicht kennte. Wundervolle Lesestunden mit Büchern von Hans-Ulrich Treichel, Markus Werner, Hartmut Lange, Uwe Timm, Herbert Rosendorfer, Urs Widmer, Wilhelm Genazino, Thomas Bernhard, Christa Wolf, Günter de Bruyn, Gert Hofmann, Birgit Vanderbeke, Monika Maron, Ralf Rothmann, Ernst Wilhelm Heine, F.C. Delius, Paulus Hochgatterer, Christoh Hein, Alois Brandstetter und und und. Will sagen, ich wüßte nicht, wo eine Krise oder ein Defizit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur zu suchen wäre.


    Aber auch die internationale Gegenwartsliteratur mit Namen wie A.Th.F. van der Heijden, Margriet de Moor, Antonio Lobo Antunes, Philip Roth, John Updike, John Cheever, Mario Vargas Llosa, E. Annie Proulx usw. usf. Meine Fresse, das sind nur einige Namen. Und das Problem, das ich eben zu beschreiben versuche: Wo bringe ich um Himmels willen hier noch die Klassiker unter?


    Zitat

    Ich habe aber, wenn ich mal eher zufällig etwa in de.rec.buecher etwa etwas zur "Vermessung der Welt" lese, nicht das Gefühl, sonderlich viel zu verpassen.


    Ich bin von den Büchern, die ich von Kehlmann bisher las, schwer beeindruckt. Die 'Vermessung' kenne ich allerdings noch nicht, weil es ein neues Buch ist. Ich lese ja nur alte-neue. :zwinker:

  • Zitat von "Dostoevskij"

    Wo bringe ich um Himmels willen hier noch die Klassiker unter?


    Hallo!


    Ich würde die Frage anders herum formulieren: Wo bringe ich all die Neuen unter? Und meine Antwort: gar nicht. Und ich habe kein schlechtes Gewissen dabei. Die meisten Zeitgenossen sind mir nicht wirklich wichtig. Und, wie schon gesagt, ich lese planlos und setze mich bei meiner Lektüre nicht unter Druck. Ich muss also bei keinem Autor alles gelesen haben.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Genazino! Natürlich - wie konnte ich den vergessen! Das ist natürlich ein sehr sehr guter und sehr sehr wichtiger Autor. Rosendorfer ist - jenun, nett.


    Kronauer hab ich natürlich auch nicht vergessen. Und den sehr großen Peter Hacks! Walter Moers. Meinetwegen auch King.


    Also es kämen, dächte ich noch ein wenig darüber nach, sicherlich noch ein paar Namen dazu.


    Generell bleibt es schon dabei, die aktuellen Produktionen interessieren mich nicht wirklich.


    Nicht, dass ich nicht neugierig wäre - wenn mir in einer Buchhandlung ein Buch warum auch immer ins Auge fällt, ich es anlese und es mich reizt: Dann kaufe & lese ich das auch. So bin ich auf Genazino gestoßen (Wer kann schon einem ersten Satz wie "Weil seine Lage unabänderlich war, musste Abschaffel arbeiten" widerstehen?).


    Normalerweise aber langweilt mich das, was ich so entdecke. Die immer gleichen Geschichten, im immer gleichen Tonfall geschrieben.

  • Zitat von "giesbert"

    Die immer gleichen Geschichten, im immer gleichen Tonfall geschrieben.


    Ja, richtig. Das habe ich ganz vergessen! Es ist ja so (oder war es zumindest eine Zeitlang), dass man diese Produkte praktisch blind einem Verlag zuordnen kann. Auch (gerade!) renommierte Verlage haben ihre Lektoren derart herumwüten lassen, dass man schlussendlich nicht mehr den Autor las, sondern den Lektor und den Verlag. Nur die ganz Grossen konnten dem wohl entgehen, schon der zweite Rang wurde gnadenlos totlektoriert. Mit ein Grund, warum ich bei neuerer Literatur passe.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Moin, Moin!


    Zitat von "giesbert"

    Generell bleibt es schon dabei, die aktuellen Produktionen interessieren mich nicht wirklich. (...) Die immer gleichen Geschichten, im immer gleichen Tonfall geschrieben.


    Na, ich weiß nicht. Die Bücher von Hermann Burger, Gert Hofmann und Hartmut Lange beispielsweise besitzen meines Erachtens einen Tonfall, den ich jederzeit heraushören würde.


    Auf die Ebene der internationale Literatur gehievt, fände ich es geradezu unanständig, solche großen Epiker wie Mario Vargas Llosa, Lars Gustaffson, Günter Grass, Antonio Lobo Antunes, Philip Rpth, John Updike und A.Th.F van der Heijden in einen Topf werfen zu wollen und zu behaupten, sie schrieben die immergleichen Geschichten. Unerhört!

  • Moin, Moin!


    Zitat von "sandhofer"

    Nur die ganz Grossen konnten dem wohl entgehen, schon der zweite Rang wurde gnadenlos totlektoriert.


    Es lohnt sich doch aber nur, die Großen zu lesen. Wir reden doch nur über sie, oder. Nur für den Fall, daß wir uns mißverstehen. :zwinker:

  • Zitat von "Dostoevskij"

    solche großen Epiker


    und tschüß.


    "Große Epiker" gehen mir auf die Nerven. Elende Geschwätzigkeit über das langweilige Leben eingebildeter Figuren. Das hat mir mir nichts zu tun - und warum lesen wir, wenn nicht um etwas über uns & unseren Platz in der Welt zu lernen?


    btw - seit Faulkner gibt's auch da nichts Neues mehr. Und bevor ich auch nur je wieder 1 Buch von sagenwirmal Grass in die Hand nehme, lese ich lieber Fontane & Flaubert.


    It's that simple 8-)

  • Moin, Moin!


    Zitat von "giesbert"

    "Große Epiker" gehen mir auf die Nerven. Elende Geschwätzigkeit über das langweilige Leben eingebildeter Figuren. Das hat mir mir nichts zu tun - und warum lesen wir, wenn nicht um etwas über uns & unseren Platz in der Welt zu lernen?


    Wenn du keine Fiktion mehr lesen möchtest, mußt du Tagebücher und Biografien lesen. Und selbst da... Ich weiß nicht, was du gegen die "Geschwätzigkeit" eines Dickens hast. Ich finde sie höchst unterhaltsam.


    Was beim Vergleich Klassiker - Frischling wichtig ist, hat Christian <a href="http://www.koellerer.de/q2-2006.html#120406">im dritten Teil</a> seiner bibliomanen Betrachtungen geschrieben: "Ebenso wichtig ist wohl die historische Differenz, die für mich immer einen Mehrwert darstellt, den ein neues Buch klarerweise entbehren muss." Natürlich ist es für uns spannender, einen Menschen zu begleiten, der in der Kutsche reist, als einen, der in der Straßenbahn vor sich hin döst. Die Exotik von Ort, Zeit und Personen ist ein Faszinosum, gegen das Gegenwärtiges, Bekanntes und selbst Erlebtes naturgemäß verblassen müssen. Das ist n Argument. Für den Zuwachs an Informationen über damalige Lebensverhältnisse braucht man ja keine fiktionalen Werke; es gibt genügend Sachbücher.

  • Zitat von "Dostoevskij"

    Wenn du keine Fiktion mehr lesen möchtest,


    Das habe ich nicht gesagt.


    Zitat

    Und selbst da... Ich weiß nicht, was du gegen die "Geschwätzigkeit" eines Dickens hast. Ich finde sie höchst unterhaltsam.


    Oh, gegen Dickens habe ich überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil.


    Aber ich habe etwas dagegen, wenn 200 Jahre später immer noch haargenau so erzählt wird, als sei so rein gar nichts passiert.


    Der größte Teil der Gegenwartsliteratur fällt ästhetisch hinter Fontane zurück.


    Sach ich mal so (vielleicht wird ja so klarer, was mich an Autoren wie Grass & Co. so fürchterlich anödet)

  • Hallo,


    die Diskussion finde ich sehr interessant. Ich kann das Dilemma gut nachvollziehen.


    Ich möchte hier ein neues Argument bringen, was mich immer wieder zu moderner Literatur greifen lässt: Es gibt für mich eine gewisse Faszination, einen zukünftigen Klassiker heute schon zu entdecken und somit zu den allerersten zu gehören, die ihn als solchen erkannt haben.


    Diese Literatur verbindet mich quasi mit den Lesern in der Zukunft, so wie mich an den Klassikern diese historische Verbindung, wie Christian es schön beschrieben hat, auch immer wieder begeistert.


    Schöne Grüße,
    Thomas