April 2006: Siegfried Lenz - Stadtgespräch

  • Hallo zusammen :winken:


    hiermit möchte ich die Leserunde zu Siegfried Lenz' fünften Roman "Stadtgespräch" eröffnen.


    Der Verlag schreibt zu dem Buch:


    Zitat


    Die kleine Stadt, die jedermanns Stadt sein könnte, liegt an einem Fjord, eine rechtschaffene Stadt, deren Leben geordnet ist, ohne Aufregung in ihrer Geschichte. Nur einmal war es anders: Ein Ereignis riß die Stadt aus ihrer Ordnung heraus, und von diesem Ereignis sollte sie fortan nicht mehr loskommen; es wurde zum Inhalt des Stadtgesprächs, hielt sich hartnäckig darin - und veränderte sich dabei. Doch dann versucht einer, das Ereignis, an dem er teilhatte, vor dem Stadtgespräch in Sicherheit zu bringen: Tobis, der Erzähler.
    Er erinnert sich an die Zeit des Krieges, der Gegner hält die Stadt besetzt. Eines frühen Morgens fahren Lastwagen durch die Straßen, sie halten vor bestimmten Häusern; der Kommandant der Stadt läßt nach einem Attentat vierundvierzig Geiseln festnehmen, ausgesuchte Männer, die Elite der Bevölkerung. Er will mit dieser Maßnahme Daniel, den jungen Anführer der Widerstandsgruppe, zwingen, sich zu stellen. Daniel muß sich entscheiden: Folgt er der Aufforderung, wird es keinen Widerstand mehr geben; stellt er sich nicht, sterben vierundvierzig Männer.
    Das ist ein Ereignis, von dem die Stadt nicht aufhören wird zu sprechen. Es wird zum Stadtgespräch, und es ändert sich mit der Zeit, mit dem Wandel der Verhältnisse. Am Beispiel der Betroffenen versucht Siegfried Lenz, auch den Leser zu einer Entscheidung aufzufordern, sich zu den Ereignissen in Beziehung zu bringen und, wo es nötig sein sollte, seine Einstellung zu überprüfen. Denn es bleibt die Frage: Gibt es eine Moral, die für sich beanspruchen kann, auf das Entweder-Oder, dem Daniel - und mit ihm die Stadt - sich ausgesetzt sieht, eine eindeutige Antwort bereitzuhalten?
    "Dieser Roman", so schrieb die Welt, "nimmt den Leser nicht nur gefangen, weil er hier in den Bann einer besonderen Erzählkunst gerät, sondern vor allem auch, weil er in jeder Zeile die hohe Gerechtigkeit eines Mannes spürt, der den Menschen, auch wenn er schuldig ist, nicht verachten kann."

  • Hallo !


    Dann kanns ja losgehen :breitgrins: Ich habe inzwischen schon den ersten Roman aus meinem Band gelesen: Es sind Habichte in der Luft.
    Spielt auch im hohen Norden. Es hat mir gut gefallen, gerade der etwas schlichte und doch treffende Stil, der auch die innere Stimmung der Menschen gut eingefangen hat. Die Story fand ich etwas überbordend, fast wie ein Kitschroman, was aber durch die äußere bedrückende Situation gut konterkariert wurde.


    Nun bin ich also auf diesen Roman gespannt und werde heute anfangen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    ich freue mich auf die Leserunde. :klatschen:
    Zola, danke fürs eröffnen des Threads.


    Steffi, ich habe auch vor kurzem "Es waren Habichte in der Luft" gelesen. Ich war schon etwas erstaunt über die Geschichte. Seine Kurzgeschichten (Bollerup, Suleiken, Lehmann, Ludmilla...) und auch "Fundbüro" sind ganz anders geschrieben. Trotzdem hat das Buch mich berührt. Ich empfinde es als sehr ungewohnt, Romane über den Krieg oder kurz danach zu lesen.


    In Erich Maletzkes "Siegfried Lenz - Eine biographische Annäherung" heißt es über "Habichte", dass Siegfried Lenz sich ausgesprochen selbstkritisch über sein Erstlingswerk äußerte. So hat er sich geweigert ein Vorwort zu schreiben, als sein Verlag 1966 eine zweite Auflage herausbrachte.


    es heißt im Buch:

    Am liebsten hätte er das Buch neu geschrieben, nimmt davon jedoch Abstand. Mit der Begründung, eine derartige Nachbesserung wäre "eine Ungerechtigkeit gegenüber dem jungen Mann, der ich einmal war". Um sich allerdings von der eigenen Vergangenheit zu distanzieren, lehnt er das gewünschte Vorwort ab.


    im Siegfried Lenz Ordner im Allgemeinen Forum habe ich es bereits erwähnt: Ich schließe mich Thomas Mann an, der in seinem Tagebuch über 'Habichte' vermerkte: "Nicht schlecht.."


    Zitat von "Verlag"


    ...
    Am Beispiel der Betroffenen versucht Siegfried Lenz, auch den Leser zu einer Entscheidung aufzufordern, sich zu den Ereignissen in Beziehung zu bringen und, wo es nötig sein sollte, seine Einstellung zu überprüfen. Denn es bleibt die Frage: Gibt es eine Moral, die für sich beanspruchen kann, auf das Entweder-Oder, dem Daniel - und mit ihm die Stadt - sich ausgesetzt sieht, eine eindeutige Antwort bereitzuhalten?
    ....


    ich finde, der Romananfang deutet es bereits an, dass es am Ende keine eindeutige Antwort geben wird. Nur ein "Vielleicht".


    Und wenn Daniel sich gestellt hätte? Und wenn die ganze Stadt, unsere Stadt ihn mit allen Stimmen darin bestärkt hätte, sich um ihretwillen nicht zu stellen?....


    Ein weiteres Beispiel dazu ist, als sich der Ich-Erzähler während des Erzählfluss an Daniel wendet ...


    Ich war mir von Anfang an klar darüber, daß wir nicht übereinstimmen würden; wer zu erzählen beginnt, muß eine Auswahl treffen: du deine, ich meine Auswahl. Und darum wird vielleicht die Wahrheit unserer Geschichte durch die Abweichungen bestätigt...


    Heißt das, dass Daniel im Laufe der Geschichte noch zu Wort kommen wird?


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Ich lag sogleich mit auf den schroffen Fjordfelsen, das Gewehr im Anschlag und auf den schildkrötengesichtigen General mit silbernden Kniescheiben und ohne Auszeichungen lauernd, dabei den rauhen Landschaftsbeschreibungen Lenz' und dem beginnenden Sonnenuntergang andächtig folgend (fast schon genießend, wenn ich das zugeben darf)...


    ich finde seine Landschaftsbeschreibungen, seine Wortwahl bestimmte Dinge zu beschreiben, faszinierend - vielleicht auch deswegen, weil mir meist die Adjektive fehlen, wenn ich etwas beschreiben möchte.


    bis dann
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zitat von "JMaria"

    Hallo zusammen,


    ich freue mich auf die Leserunde. :klatschen:
    Zola, danke fürs eröffnen des Threads.


    Ich schließe mich an! Danke Zola!

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen,


    die Landschaftsbeschreibungen sind wirklich wunderbar, ohne Ortsbezug und doch bei vielen Orten gleich treffend vorstellbar. Es könnte dieser, aber es könnten auch andere Fjorde sein. Ein genauer Ort ist sowieso nicht festzumachen und das passt ganz gut, denn diese Stadt, dieses Fjord steht stellvertretend für andere in Zeiten des Krieges. Die Beschreibung des Fjords aus Sicht eines Widerstandskämpfers beim ersten Einsatz ist beklemmend und auch nachvollziehbar. Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die sich dehnende Zeit und Anspannung, das Auge für Dinge, die man sonst übersehen würde, ich finde das grandios beschrieben und habe es selbst auch so erlebt. Zum Glück nur als Grundwehrsoldat auf Nachtwachen. Die Sinne sind dann eigenartig scharf, man hört, richt, sieht und fühlt viel mehr, selbst, wenn man noch so müde ist. Das hat Lenz wiedergegeben und wüsste ich nicht, dass Lenz Soldat in einem Krieg war, ich würde schreiben, dass er es sehr glaubhaft wiedergegeben hat. Das Lenz Soldat war und einen Weltkrieg am eigenen Leib miterlebt und anschließend verarbeitet hat, das verraten die ersten Seiten vom "Stadtgespräch". Alles wurde sehr lebens- mehr noch sehr todesnah beschrieben...


    Was mich erschreckte, war meine anfängliche Sympathie für den alten Haudegen von General. Erst wusste ich garnicht, welcher Armee/Heeresform er angehören könnte, weil dies nicht angedeutet wurde und doch wusste ich gleich, dass eine altgediente Kaste preußischer Generäle und Offiziere Lenz vor Augen schwebte. Jetzt schreibe ich mich in gefährliche Situationen, den vier Partisanen gleich und muss nachdenken, wie ich mich wieder zurückziehe. Ich habe viel, sehr viel über den zweiten Weltkrieg gelesen, schon als Kind. Dann auch viel darüber gesehen. Erst Geschichtsbücher und später Literatur. Diese schildkrötengesichtigen Generäle und Offiziere im Allgemeinen gab es, sie machten die Kriegsführung mit möglich, aber verweigerten auch einige Greueltaten, wie es z.B. bei Wehrmachtsoffizieren beim Kommissarbefehl vorkam. Ob man diese Offiziere "gut" nennen kann, bezweifle ich, aber es gab schlimmere. Wenn ein Typ Offizier bei den eigenen gemeinen Soldaten überhaupt Anerkennung und Vertrauen fand, so dieser Typ. Im Allgemeinen, da will ich euch aber beruhigen, bin ich kein Freund von Offizieren und der Armee. Seit meinem Grundwehrdienst bin ich sogar allem militärischen gegenüber ablehnend eingestellt. Der General scheint mir aber ein wichtiger Protagonist im Roman zu sein, jedenfalls wurde er als ein solcher von Lenz aufgebaut und er bekam auf den ersten Seiten mehr Charaktereigenschaften zugeschrieben als andere Protagonisten. Ob ich mit dem Gefühl recht habe, wird sich zeigen...


    Genauso vage wie die Ortsbeschreibungen finde ich auch den Auftrag, den General zu entführen. Ein beliebiger Auftrag also an einem beliebigen Ort? Das würde zu Lenz' schriftstellerischen Einschüben passen, die Maria erwähnte...


    Es gibt viel zu Mutmassen beim Begin der Lektüre, vielleicht wollte Lenz uns, den Leser(inne)n Zeit geben uns zu positionieren und festzulegen und später über den eigenen Standpunkt überrascht, enttäuscht oder auch gemahnt zu sein, so wie es mir mit dem schildkrötengesichtigen General erging. Ein durchaus interessantes Motiv, sollte es denn zustimmen...


    Mit diesem gewagten Einstieg beende ich meinen ersten Beitrag...


    Ein schönes Wochenende und einen schönen Start in die Leserunde wünscht euch


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo !


    FA schrieb:

    Zitat

    Es gibt viel zu Mutmassen beim Begin der Lektüre, vielleicht wollte Lenz uns, den Leser(inne)n Zeit geben uns zu positionieren und festzulegen und später über den eigenen Standpunkt überrascht, enttäuscht oder auch gemahnt zu sein, so wie es mir mit dem schildkrötengesichtigen General erging. Ein durchaus interessantes Motiv, sollte es denn zustimmen..


    Genau das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels (obwohl es ja keine durchnummerierten Kapitel gibt) ist eindeutig bei den Partisanen. Und doch, wie undifferenziert erscheinen sie angesichts des Desasters, das sich dann auf der Straße abspielt. Gar nichts mehr mit Kaltblütigkeit - ja, sie schmurgeln geradezu auf dem heißen Felsen (kann es an einem Fjord wirklich so heiß sein ?) während der General sich kämpfend hervorragend aus der Affäre zieht.


    Eine klare Stellung ist seitens des Lesers nicht leicht zu beziehen, einerseits ist man ja versucht, sich auf die Seite der Partisanen zu stellen, andererseits fragt man sich, ob diese wirklich Grund zu solcher Gewalt haben, und schon steht man auf der Seite der Mitläufer oder des Militärs. Ganz geschickt eingefädelt und überaus spannend :smile:


    Die Landschaftsbeschreibung ist seltsam-schön; die Stimmung der Landschaft kommt nicht durch das, was zu sehen ist (Farben,Natur,Pflanzen) , sondern durch die Stimmung des Erzählers und seiner Situation. Ein krasser Gegensatz zu den starken poetischen Bschreibungen von z.B. Virginia Woolf, aber trotzdem fast gleich intensiv !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,
    hallo Steffi,


    Zitat von "Steffi"

    Genau das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels (obwohl es ja keine durchnummerierten Kapitel gibt) ist eindeutig bei den Partisanen. Und doch, wie undifferenziert erscheinen sie angesichts des Desasters, das sich dann auf der Straße abspielt. Gar nichts mehr mit Kaltblütigkeit - ja, sie schmurgeln geradezu auf dem heißen Felsen (kann es an einem Fjord wirklich so heiß sein ?) während der General sich kämpfend hervorragend aus der Affäre zieht.


    Ich stimme zu. Was ich denke: Lenz wollte die Spiralwirkung und die Eigendynamik darstellen, die ein Krieg irgendwann entwickelt. Der Angriff, der Gegenangriff, die Vergeltung, die Vergeltung der Vergeltung, und dabei immer wieder unschuldige Opfer, die traumatisiert wurden oder Rache üben wollen, der Verlust, die Erniedrigung und irgendwann wird um die Rettung des eigenen nackten überlebens geschossen und gekämpft, verschwimmen alle Motive, wird der Krieg total und werden die Opfer anonym. Die Szene im Fjord steckt da irgendwo in der Mitte, aber es sind Steigerungen beim gegenseitigen Vergelten und Morden möglich und sogar anzunehmen. Die Reaktion der Besatzungsarmee auf den Partisaneneinsatz ist typisch und wird erst bei den Verhaftungsszenen persönlich, da dann die Verhafteten kurz beschrieben und charakterisiert werden. Der Krieg wird persönlicher, die Opfer des Krieges bekommen Namen. Die Erzählperspektive ist mir der ICH-Person des Erzählers festgelegt aber die Mutmassungen, wie andere denn die Geschichte erzählen würden, macht das Erzählen allgemeingültiger und damit eigentlich auch glaubhafter. Dieses Motiv des Mutmassens wird von Lenz wiederholt erzählend als Selbstreflexion des ICH-Erzählers eingeschoben. Selbst, wenn ein Erzähler Sympathie für den Widerstand aufbringt, so muss er wie im Falle Lenz' doch auch der Wahrheit nachgehen. Da ich die Armee für mich (vermutend) als deutsche Wehrmacht festgelegt habe (ich las irgendwo etwas von Gebirgsjägern und auch der General ist eher ein typisch altgedienter Wehrmachtsgeneral des Heeres, vielleicht noch im Geiste der Kappputschtruppen (und vielleicht hat er sogar noch den ersten Weltkrieg als junger Offizier mitgemacht), aber eher nicht der systemkonforme und führerselige Sondertruppengeneral), muss man auch deren Kampfkraft zu dieser Zeit eingestehen. Diese wird ja auch bei der Bescheibung der verhaftenden Soldaten auf dem Laskkraftwagen charakterisiert und mit der Schnelligkeit, mit der die Stadt (egal welcher Größe) eingenommen wurde. Die Partisanen sahen sich zu dieser Zeit mit einer noch sehr kampfstarken Militärmaschine konfrontiert, das wollte ich noch festhalten als Feststellung (da aber keine Zeitangaben vorliegen, muss ich hier auch mutmassen)... hier muss ich erst einmal abbrechen, bevor mir die Phantasie durchgeht und ich mich verzettel...


    Ich bin sicher, dass ein Sommertag in einem Fjord an Felshängen in angespannter Erwartung und unterschwelliger Angst sehr viel Hitze in einem menschlichen Körper erzeugen kann. Fels kann viel Wärme aufnehmen und abends abgeben. Ich finde die Beschreibungen des Anfangs der Geschichte jedenfalls sehr eindrucksvoll...


    Ich wünsche euch noch einen schönen Samstag!


    Grûße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen,


    eure Gedanken sind beeindruckend. Darüber werde ich heute noch nachdenken. Was ich noch erwähnen möchte ist, dass in der Welt oben in den Bergen, dieser Rückzugsort an der Schneegrenze, viel Licht ist. Der Leser gleitet irgendwie ins Unwirkliche, aber bevor das so richtig geschieht, sieht man das 'Mahnmal', das abgestürzte Flugzeug.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    ich habe noch einmal über die Beschreibung des Fjordes nachgedacht und über den Steinbruch und das Ausbaggern des Flussbettes. Ein Steinbruch bietet sich hier als wirtschaftliche Aktivität an, denn Stein gibt es genug, aber ein Steinbruch ist auch ein Symbol. Ich stelle mir darunter auch immer bei gewissen Romanen Zwangsarbeit vor und kriegswichtige Zuschlagstoffe, wie Schotter zum Bau und zur Ausbesserung von Bahnanlagen und -trassen, als Zuschlagstoffe für Beton. Gleiches gilt für das beharrliche Arbeiten des Eimerkettenbaggers. Hier stelle ich mir vor, dass tiefergehende Kriegs- und Transportschiffe den Nachschub sichern müssen, also Fahrrinnen vertieft werden müssen. Nur ein einarmiger Fischer geht seinem zivilen Gewerbe nach, vielleicht ist auch die Einarmigkeit dabei ein Symbol. Die ganze Stimmung hat trotz ihrer anfänglichen Ruhe etwas sehr bedrohliches, etwas sehr symbolhaftes, etwas überwiegend militärisches, finde ich. Wie seht ihr das?


    Später mehr, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo !


    Es ist tatsächlich beeindruckend, was diese Beschreibung so alles hergibt.


    Maria schrieb:

    Zitat

    Der Leser gleitet irgendwie ins Unwirkliche, aber bevor das so richtig geschieht, sieht man das 'Mahnmal', das abgestürzte Flugzeug.


    Ja, das war auch für mich ein Moment, wieder in die Realität zu kommen; obwohl die Symbole - neben dem Flugzeug, dem Einarmigen oder dem Steinbruch - mit etwas Distanz reichlich plump und aufdringlich wirken könnten, während des Lesens fügt sich alles unglaublich gut ein. Wie auch schon bei den "Habichten", habe ich auch jetzt das Gefühl, dass mir die Geschichte während des Lesens besser gefällt als danach.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen


    Zitat von "Friedrich-Arthur"


    Die ganze Stimmung hat trotz ihrer anfänglichen Ruhe etwas sehr bedrohliches, etwas sehr symbolhaftes, etwas überwiegend militärisches, finde ich. Wie seht ihr das?


    Später mehr, FA


    Symbole:
    ich finde auch, dass sie auffallend sind und kriegsbezogen wirken, mit den Symbolen schwingen auch die passende Stimmung mit. Irgendwie seltsam.


    Zitat von "Steffi"


    mit etwas Distanz reichlich plump und aufdringlich wirken könnten, während des Lesens fügt sich alles unglaublich gut ein. Wie auch schon bei den "Habichten", habe ich auch jetzt das Gefühl, dass mir die Geschichte während des Lesens besser gefällt als danach


    das ist interessant. Woran das wohl liegt?
    Ich glaube, während des Lesens drängt sich uns vielleicht eine Stimmung auf, die uns durch den Roman trägt.


    Faszinierend fand ich auch dieses Warten in der Gruppe oben auf dem Berg, zu was sich Daniel entscheidet.
    und dann - die Offenbarung, dass Christoph wegen 'Besitz' bereits Verrat begonnen hatte.
    In dieser kleinen Welt dort oben herrschen andere Gesetze, die sich die Mitglieder unterwerfen müssen. Sie müssen zu äußersten Verzichten bereit sein.


    Tobias, der Erzähler klagt Daniel wegen seinem Mangel an Erklärungen an. Es klingt immer wieder durch. So fragt er Daniel, was ihn bewogen hat, sein Studium nicht zu beenden, sondern zurück zukommen um den Widerstand ins Leben zu rufen, und das obwohl die Stadt bereits Jahre zuvor eingenommen wurde.


    Es geht nur das Gerücht um, das auf ein Erlebnis das Daniel in einem Bus hatte, zurückzuführen ist.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    ich fand die Landschaftsbeschreibung auch sehr beeindruckend. Etwas gestört hat mich, dass ich sie mir nicht richtig vorstellen konnte. Der Fjord, der Tunnel, die hohen, bis über die Schneegrenze reichenden Berge direkt am Meer - irgendwie hat das mein Vorstellungsvermögen überschritten (vielleicht weil ich noch nie in Skandinavien war), ich kann mich nicht erinnern bei einer anderen Landschaftsbeschreibung in einem Roman ähnliches erlebt zu haben.


    Auffalllend ist, dass Lenz konsequent weder den Namen der besetzten noch der besetzenden Nation nennt, obwohl sie offensichtlich sind. FAs Gedanke, dass dies stellvertretend für andere Eroberungskriege gelten soll, finde ich sehr passend.


    Aufgrund des Titels kann man schon ahnen, dass der Autor (Tobias Lund) versucht Daniel daran zu erinnern die Wahrheit niederzuschreiben, die wahre Begebenheit als Gegensatz zu dem, was im Laufe der Zeit durch das "Stadtgespräch" verdreht und verändert wurde.
    Wobei man nicht umhin kommt sich zu fragen wie weit Tobias Lund selbst noch die wahren Begebenheiten kennt und ihn nicht sein Gedächtnis trügt ?


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo zusammen,
    hallo Zola,


    gerade lese ich, dass Arno Schmidt ein Soldat in diesem Fjord gewesen sein könnte:


    http://www.arno-schmidt-allerd…rno_schmidt/biogramm.html
    ( mit Dank an Manjula: http://www.klassikerforum.de/forum/viewtopic.php?t=1776 )


    Jetzt verlassen mich meine Kenntnisse etwas. Ich bin mir nicht sicher, ob Finland von deutschen Truppen angegriffen wurde, werde aber nachsehen. Finland wurde ja vor dem Weltkrieg von der Sowjetunion besetzt und die Hartnäckigkeit des finnischen Wiederstandes war einer der wichtigsten Hauptgründe der Unterschätzung der Schlagkraft der Roten Armee vor dem Beginn der Operation Barbarossa. Schweden war, soviel ich weiß, den ganzen Krieg lang neutral und beliefterte das Deutsche Reich mit Rohstoffen. Um Norwegen wurde aber bitter gekämpft. Mein eigener väterlicher Großvater war in norwegischer Kriegsgefangenschaft im hohen Norden. Vielleicht sah er Arno Schmidt einmal kurz... Genug phantasiert, ich bin mir fast sicher, dass es sich um Norwegen in der Mitte des Krieges handelt, obwohl ich bin kein Experte bin...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Danke für die Links, Steffi, die wahre Hintergrundgeschichte zu "Es waren Habichte in der Luft" kannte ich noch gar nicht, jetzt wird hier einiges klarer.


    "Lund" scheint ein häufiger Name in Norwegen zu sein, insofern denke ich nicht, dass es hier einen Zusammenhang gibt.


    Es ist schade, dass es von Lenz noch keine kommentierte (oder zumindest eine mit einem Nachwort versehene) Ausgabe gibt. Auch die Werkausgabe enthält nur den Text.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo zusammen,


    danke für die Links Steffi. Wirklich sehr beeindruckend die Bilder!


    Ich habe noch einmal über die Verhaftungsszene nachgedacht und bin zu folgenden Gedanken gekommen:


    Die Verhaftungsszene ist beklemmend und ich habe so noch keine gelesen. Die Szene mit dem alten Holmsen zum Beispiel. Der bekommt seine Krücken vom Offizier mit formellem Bedauern zurückgereicht, dass er den alten Holmsen nicht statt seines Sohnes mitnehmen kann. Als ob es dem andeutungsweise “ritterlich” handelndem Offizier leid tut, so handeln zu müssen. Dann die Reaktion der Verhafteten selbst, die sich 43fach (von 44 Verhafteten) nicht protestierten und bereitwillig, gefügig und nicht einmal überrascht sich festnehmen ließen. Das ist doppelter Fatalismus! Sowohl der Offizier und die Soldaten als auch die Verhafteten fügen sich unter den Ablauf der Handlung, die sehr mechanisch verläuft, so wie typisch (was auch Lenz in seiner Beschreibung geschickt bewerkstelligt) und sich weiter verselbstständigt. Nach dem Motto: das ist eine typische Verhaftung, wie sie überall, zu allen Zeiten vorkam und noch vorkommen wird und wir alle können nichts tun, als abzuwarten, wie diese hier verläuft und was geschehen wird, wieviel Erfolg und Mißerfolg hineinspielt und wie gut die Nerven der Beteiligten sind. Alle Beteiligten, Besatzer, wie Besetzte werden zu Spielpuppen in einem systematisch und mechanisch ablaufenden Krieg. Es gibt menschliche Regungen, aber alle Beteiligen haben Angst vor ihnen und den daraus sich entwickelnden Konsequenzen. Dieser Fatalismus und die Angst sind Triebfedern für den Krieg selbst und helfen dabei, dass Krieg weiterhin mechanisch verläuft und sich selbst bis zur Erschöpfung und zum Zusammenbruch steigert und fortführt. Wurden nicht die meisten Kriege erst beendet, als eine Kriegspartei sich wegen Unterlegenheit, wegen unausweichlicher Niederlage geschlagen geben musste? Ich beginne das “Stadtgespräch” mit immer mehr Ehrfurcht zu lesen...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen,


    danke für die Links, Steffi und Friedrich-Arthur. Da ich in den letzten Tagen nicht die Zeit zum Nachlesen fand, werde ich das nun nachholen.


    Zitat von "Zola"

    Aufgrund des Titels kann man schon ahnen, dass der Autor (Tobias Lund) versucht Daniel daran zu erinnern die Wahrheit niederzuschreiben, die wahre Begebenheit als Gegensatz zu dem, was im Laufe der Zeit durch das "Stadtgespräch" verdreht und verändert wurde.
    Wobei man nicht umhin kommt sich zu fragen wie weit Tobias Lund selbst noch die wahren Begebenheiten kennt und ihn nicht sein Gedächtnis trügt ?


    mich verwirrte zu anfangs die Art der Erzählung. Doch manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Deine Erklärung, Zola, hat mir sehr geholfen.


    Empfehlen möchte ich an dieser Stelle auch "Siegfried Lenz, Eine biographische Annäherung" von Erich Maletzke. Obwohl Siegfried Lenz nie viel von sich preis gab und sich auch in einigen Punkten widersprach, wenn es um seine Kindheit ging, hat Erich Maletzke das Leben und Werk S.L. sehr schön zusammengefaßt und ineinander gefügt.


    auszugsweise heißt es dort über "Stadtgespräch":
    ----------------
    Wie in allen vorangegangenen Romanen herrscht wieder eine extreme Situation, in der sich die Mitwirkenden bewähren müssen oder in der sie scheitern. Nach Finnland und Libyen ist nun also Norwegen Handlungsort geworden. Es soll das letzte Mal sein, daß Siegfried Lenz einen Roman >>in der Fremde<< ansiedelt...... Denn es ist nicht zu übersehen, wie stark sich Siegfried Lenz seit seinen ersten Romanen weiterentwickelt hat. Die grobe Schwarz-Weiß-Malerei ist ebenso verschwunden wie das Pathetische und Melodramatische. Außerdem hat er das Stilmittel des Ich-Erzählers perfektioniert. All dies sind Vorbereitungen für das insgeheim schon reifende Meisterwerk >>Deutschstunde<<.
    -------------------------
    auszug_ende


    wie schweigsam auch die Personen in dem Roman sind. Kaum Gespräche, viele Blicke, viel Stimmung durch Bilder.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "JMaria"

    mich verwirrte zu anfangs die Art der Erzählung. Doch manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Deine Erklärung, Zola, hat mir sehr geholfen.


    ich habe den Roman zwischenzeitlich schon fertiggelesen :redface: und bereits etwas darüber nachgedacht. Ich fand es schon immer faszinierend, wie leicht die Erinnerung veränderlich ist.


    Zitat von "JMaria"

    wie schweigsam auch die Personen in dem Roman sind. Kaum Gespräche, viele Blicke, viel Stimmung durch Bilder.


    Das finde ich sehr typisch für Lenz, ich habe den Eindruck, dass seine Charaktere besonders häufig der eher verschlossene und wortkarge (norddeutsche/nordische ?) Typ sind.


    Viele Grüße,
    Zola