April 2006: Siegfried Lenz - Stadtgespräch

  • Hallo zusammen !


    Ich bin in den letzten Tagen kaum zum Lesen gekommen - daher bin ich noch nicht so weit. Trotzdem, diese Distanz und die typisierte Umgebung - alles ist abweisend, ja fast leblos, auch die Protagonisten zeigen wenig Emotionen, die Emotion baut sich mehr im Leser auf - und die Mechanik, wie FA sie beschrieben hat, sind mir auch aufgefallen.


    Lenz schildert keinen speziellen Widerstand sondern zeigt die Mechanik des Krieges und seine Folgen, aber auch den erschreckend emotionslosen Umgang des Menschen damit. Der Widerstand schickt sich nun an, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen, der (vermeintliche) Verräter wird gezwungenermaßen in den Tod geschickt oder war das nur eine Finte, um den Kampf aufrechtzuerhalten ? Ich bin gespannt ...


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen!


    Ich komme kaum zum Lesen, noch weniger zum Schreiben, habe aber einen kleinen Text vorbereitet:


    Sehr schön finde ich die Sätze:

    Zitat

    …durch die wehrlos lauschende Stadt liefen Signale, Warnungen, für die die Angst und die Bedrohung verborgene Systeme der Übermittlung erfunden hatten, man tauschte Zeichen im Dunckeln. Vor der Bedrohung wurde die Stadt zum Fuchsbau mit abseitigen Gängen und Röhren, in denen nur Eingeweihte sich zurechtfanden, in denen die Nähe der Gefahr lautlos mitgeteilt und weitersignalisiert wurde; ein Schaudern genügte als Nachricht, eine tastende Bewegung, ein scharfer Atemzug…

    Wirklich treffende und auch vielsagende Sätze. Fazit ist: diese Stadt kann besetzt worden sein, aber unterwerfen wird sie sich nicht. Je höher der Druck der Besatzer, umso enger rücken die Stadtbewohner zusammen. Die Stadt = ihre Bewohner. Die Stadt, das sind die Bewohner und die Bewohner sind die Stadt. Das System Stadt ist über die Besatzung erhaben, auch wenn sie unter ihr leidet. Schön auch die schriftstellerische Feststellung Lenz’:

    Zitat

    …Wahrscheinlich müssen alle Geschichten etwas Bekanntes enthalten oder davon ausgehen, das erst gibt uns die Möglichkeit, uns an einem Urteil zu beteiligen, das von uns erwartet wird…

    Sehr gut fand ich auch die Betrachtungen mit den Kindern, die ein Gesicht auf die Straße zeichneten, das “jeden an irgendjemand erinnerte”. Bei den Besuchen des Vaters des Ich-Erzählers bei Freiherr von der Laube wird besonders der Zwiespalt von besetzten Völkern, Städten und Menschen deutlich. Besonders die Fragen, wo beginnt Kollaboration und wie weit darf jemand eigenen Vorteil für sich aus einer Situation ziehen. Eine sehr schwierige und zweideutig von Lenz angedeutete Szene. Überhaupt entfaltet Lenz hier ein ungewöhnliches Spektrum an Situationen und Motiven und deckt sehr viele typische Situationen einer besetzten Stadt ab. Schließlich befinden sich die Geiseln stark bewacht im Sägewerk…und ich muss an den Roman “Die Abenteuer des Werner Holt” denken, in dem ein Gefangener bei lebendigem Leibe in einem solchen Sägewerk zersägt wurde, oder an den Roman “Der Vorleser” von Bernhard Schlink, in dem Menschen in einer Kirche zusammengetrieben bestialisch ermordet wurden… Beispiele gibt es viele und die Menschen kenne einige von ihnen, sie haben von Lyon, Warschau, Prag, Kowno, Rom, Belgrad und Rotterdam gehört. Sie wissen, zu was die Besatzer bereit sind… Und doch: überall an den Hauswänden liest der Ich-Erzähler “DANIEL”…


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen,


    die Stadt will ja schon den Widerstand, ist wohl auch auf Daniel stolz, doch gibt es immer zwei Seiten zu betrachten. Siegfried Lenz lässt alles offen. Als Leser fühle ich mich hin und her getragen.


    Petra, Tobias Lund Schwester und Daniels Geliebte, meint dass alles umsonst ist. Daniel soll sich stellen, damit ihr Vater frei käme.


    Die Stadt weiß, dass Daniel unterwegs ist um sich zu stellen und weiß aber auch, dass seine Anhänger ihn finden wollen um dies zu vermeiden.
    Dagermann, voller Wut, behauptet, dass die Stadt möchte, dass Daniel sich stellt.


    Es geht hin und her und zieht einen immer tiefer.


    Schrecklich, Christophs Tod. Sein Zögern gab den Ausschlag. Ja, warum zögerte er? Es ist doch nicht einfach zu schießen, wenn man vor dem Menschen steht.


    Das erinnerte mich, dass auch Tobias Lund am Anfang der Geschichte anders handelte, als es ihm aufgetragen war. Statt nur auf die Reifen zu schießen, schoss er zuerst in die Windschutzscheibe.


    Jeder Plan, der ausgeheckt wurde, wurde eigentlich entweder verraten oder verpatzt. Ob das auch eine Bedeutung hat?


    Die Geiselnahme der Soldaten war wie erwartet, eine Fehleinschätzung.
    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    als Tobias Lund auf seiner Suche nach Daniel zu Schule kommt, geht er durch den Korridor und grüßt (die Gemälde) von Ibsen und Nansen.


    Ich glaube nicht so recht, dass Siegfried Lenz einfach nur wegen dem Bekanntheitsgrad diese Beiden nannte und so bin ich mal auf Infosuche gegangen und ich finde, diese Auszüge zu den Männern paßt irgendwie zur Geschichte:


    Ibsen - Auszug aus dem Wikipedia:
    Henrik Ibsen wurde als Dramatiker bekannt, welcher gegen die bürgerliche Moral und "Lebenslüge" in den Kampf zog. Seine zeitgebundenen Texte zeichnen sich durch menschliche und revolutionäre Anliegen aus. Seine bürgerlichen Dramen waren mit ernster Ethik verbunden und zeigten großen psychologischen Hintergrund.


    und F. Nansen war ein Forscher und Wissenschaftler. Ein Vorreiter für so manche Sache und erlebte so manche Extremsituation:


    http://www.bujack.de/berichte/historie/nansen.htm


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    Ich denke hier erkennt man auch, dass die Widerständler in erster Linie Zivilisten sind. Schießen haben sie wohl beim Militärdienst gelernt, aber die Nerven, die man für die Realität braucht, die fehlen ihnen.
    Dass die Geiseln für die deutsche Armee wertlos sind, zeigt auch die Gewissenslosigkeit der Wehrmacht (die Rote Armee hätte sicherlich genauso gehandelt). Auch hier spiegelt sich mangelnde militärische Erfahrung der Widerstandskämpfer wider.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo Maria,


    Zitat von "JMaria"

    die Stadt will ja schon den Widerstand, ist wohl auch auf Daniel stolz, doch gibt es immer zwei Seiten zu betrachten. Siegfried Lenz lässt alles offen. Als Leser fühle ich mich hin und her getragen

    dem stimme ich zu und ich denke, es wird noch mehr als zwei Seiten zu beachten geben. Die bisher gebrachte Motivfülle lässt dies erwarten. Es wird tatsächlich immer mehr und zieht einen tiefer. Was ist aber in einer besetzten Stadt zu erwarten? Es ist doch unmöglich, dass alle Menschen gleich reagieren. Vielleicht will uns dies Lenz auch zeigen und vor allem, dass wir vorsichtig sein müssen mit unseren Urteilen und Verurteilungen. Deshalb, so meine Vermutung, zieht uns Lenz zu all diesen verschiedenen Motiven und Begründungen.


    Zitat von "JMaria"

    Ich glaube nicht so recht, dass Siegfried Lenz einfach nur wegen dem Bekanntheitsgrad diese Beiden nannte und so bin ich mal auf Infosuche gegangen und ich finde, diese Auszüge zu den Männern paßt irgendwie zur Geschichte

    das glaube ich auch nicht. Lenz hat dies später besonders auch in der "Deutschstunde" wiederholt (dort war es eine Hommage auf Emil Nolde). Diese "Ahnengalerie soll wohl auch auf die humanistische Bildung hindeuten und weiterführend vielleicht auch auf die nationalen Bildungskanons, die wiederum auch wieder den Nationalismus begünstigten, der wichtige Mitursache vieler europäischer Kriege war. Auch hier gerät mein Denken ins Vermuten und sehe ich verschiedene Motivierungen. Als ob nichts in Lenz Roman eindeutig/unzweideutig ist...


    Hallo Zola,


    ich glaube nicht, dass Geiseln für eine Besatzungsmacht, die ihre Skrupel verloren hat, wertlos sind. Sie sind Druckmittel, ein Druckmittel, dass man nicht unterschätzen darf. Die militärische Unerfahrenheit der Partisanen wird neben der Sicherheit einer Militärmaschine sichtbar, aber man darf ihre Bedeutung auch nicht vernachlässigen. Die Wirkung wird anfangs mit entgleisten Zügen umschrieben. Hier wollte man aber wohl zuviel und hat vielleicht den Aufrag unterschätzt. Was ich nicht ganz verstehe ist der Einsatz einer Wurfgranate zum lebendigen Gefangennehmen des Generals, als ob damit schon etwas schiefgehen sollte...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo zusammen!


    Die Beerdigung des jungen Schriftsetzers Ulf Clausen zeigt wieder ein neues Motiv des Widerstandes, das des geschriebenen Widerstandes. Welche Bedeutung die Besatzer dieser Form des Widerstandes beimessen, zeigt sich gerade auch in dieser Szene und der dabei folgenden Reflexion. Dies wird noch bis zur Sargöffnung, durch die Brückenposten veranlasst, gesteigert und zeigt dabei die Unsicherheit und Angst der Besatzer – auch noch vor den Toten. So drängt sich mir die Szene zumindest auf und so war es im Nazireich. Es war ein totalitäres Reich, ein Todes- und Angstreich. Ein menschen- und kulturfeindliches System macht dabei auch vor Schriftstellern nicht halt. Auf einen Mord mehr oder weniger kam es diesem System sowieso nicht mehr an, zu tief war es bereits im Blut- und Zerstörungsrausch versunken. Wehe aber denen, die sich diesem System entgegensetzten, sei es mit Waffe, Federhalter, Mut, Verzweiflung oder auch nur Zweifel… und Ulf Clausen beklagte in seinen Flugblättern die “Lauheit und Unterwerfung unserer Leute”. Vorherige Motive werden erweitert und unterstrichen, besonders die bei der Verhaftung der 44 Geiseln…


    Immer wieder nutzt Lenz die Reflexion des Ich-Erzählers um über die Reaktionen Daniels zu mutmassen. Fast kommte es mir vor, als ob der Ich-Erzähler und Daniel, eine literarische Doppelfigur sind. Ist der Ich-Erzähler von Daniel als Person besessen? frage ich mich manchmal. Nein, das ergibt sich wohl notwendigerweise aus Lenz’ Erzähltechnik… Der Sichtwechsel vom Ich-Erzähler auf Daniel in mutmassender Form wiederholt sich regelmäßig, meist in wenigen Zeilen. Erst beim Aufstieg zum gemeinsamen Lager wird dies länger… Vielleicht ist dies auch eine auch Abhängigkeit von der Organisation der Gruppe, die zentral in der Person Daniels verkörpert wird? Ich komme schon selbst ins Mutmassen…


    Die Last der Verwundung und der Bedrohung der 44 Geiseln - einer davon der Vater des Ich-Erzählers - sowie des psychischen Druckes, müssen für Daniel sehr groß gewesen sein. Am Ende des ersten Kapitels glaubt man kurz, er wird sich stellen und doch ist man sich sicher, dass dies nicht erfolgen wird. Es wird sicher etwas dazwischen kommen. Aber was?


    Schon jetzt ein Hinweis: ich werde von Mittwoch (12.04.) bis nächsten Mittwoch (19.04) hier nicht schriebend vorbeischauen können und auch keine Zeit haben, den Roman weiterzulesen, denn über Ostern fahren wir mit den Kindern zu meinen Eltern ins Fontaneland, da ist immer weniger Zeit vorhanden, als mir eh schon lieb ist. Ab nächsten Donnerstag geht es wieder weiter!


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo !


    Ihr habt ja spannende Beiträge geschrieben, die mir sehr viel zum Nachdenken geben. Daher erst später etwas dazu !


    FA schrieb:

    Zitat

    denn über Ostern fahren wir mit den Kindern zu meinen Eltern ins Fontaneland,


    Ich wünsche dir und deiner Familie viel Spaß - klingt toll !!


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    ich weiß garnicht was ich über die nächsten Szenen bis zur Erschießung der Geiseln schreiben soll. Mit bangen Gefühl las ich die Seiten. Die Gedanken von Tobias Lund sind sehr ausführlich, erschreckend ausführlich.


    bin erschüttert und auch schockiert. Schockiert, weil ich als Leser auch keinen Pol finde, an dem ich mich festhalten kann. (Sogar Petra hat ihre Meinung wieder geändert). Erschüttert, weil die Bilder so eindringlich sind.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen !


    Zwischenzeitlich habe ich den Roman zu Ende gelesen.


    Wie ihr es bereits geschilert habt, haben mich die Schilderungen auch immer tiefer hineingezogen, sodass ich irgendwie keine Fragen mehr hatte. Die ganze Situation, die Ausweglosigkeit und auch die Sinnlosigkeit, sowohl des Krieges als auch des Widerstandes, liessen mich ziemlich sprachlos werden. Ein bißchen traumartig, ja.


    Bedrückend war auch, wie der Widerstand versucht, trotz des Abzugs der Soldaten, seine Existenz weiter aufrechtzuerhalten. Hat es mit Rache zu tun, als sie die Straße sprengen ? Es zeigt auch, wie schmal die Gratwanderung ist. Etwas vermisse ich die eindeutige Wertung des Autors oder ist sie mir bloß nicht aufgefallen ? Spricht sich Lenz nun für oder gegen den Widerstand aus ? Ich vermute, jeder Leser soll das für sich selbst entscheiden, aber es fällt mir schwer. Ohne konkrete Bezüge, ohne Hilfestellung von außen bleibe ich genauso verwirrt und hilflos wie der Ich-Erzähler.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    auch ich habe am Wochenende den Roman beendet.


    Zitat von "Steffi"

    Bedrückend war auch, wie der Widerstand versucht, trotz des Abzugs der Soldaten, seine Existenz weiter aufrechtzuerhalten. Hat es mit Rache zu tun, als sie die Straße sprengen ? Es zeigt auch, wie schmal die Gratwanderung ist. Etwas vermisse ich die eindeutige Wertung des Autors oder ist sie mir bloß nicht aufgefallen ? Spricht sich Lenz nun für oder gegen den Widerstand aus ? Ich vermute, jeder Leser soll das für sich selbst entscheiden, aber es fällt mir schwer. Ohne konkrete Bezüge, ohne Hilfestellung von außen bleibe ich genauso verwirrt und hilflos wie der Ich-Erzähler.


    geht mir ganz genauso. Ich bleibe hilflos zurück. Doch mit einer sogenannten Lösung, wäre ich vermutlich auch nicht zufrieden. Bei dieser brisanten Geschichte sollte der Leser verwirrt und hilflos zurückbleiben.
    Denn irgendwie ist die Geschichte auch nicht abgeschlossen, solange es irgendwo auf der Welt ein Krieg herrscht. Das zeigt auch nochmals der letzte Satz:


    Am Ende wird sich zeigen, ob die Geschichte je aufhören wird.


    Ich habe mich zeitweise wie Tobias Lund gefühlt:


    Ich spüre immer eine Art Gleiten, eine Art Abrutschen, wenn sich diese Einzelheiten anbieten, eine hilflose Schwere macht sich bemerkbar, so als wäre ich festgebunden an einen Anker, der langsam niedersinkt.


    und im Endeffekt vergißt der Mensch sehr schnell Einzelheiten. Das zeigte sich auch daran, dass Daniel nicht mehr wußte wer über den Fjord schwamm und wer ihn durch die Berge schleppte. Gut, er war verletzt, aber symptomatisch war es für die ganze Geschichte.


    und eine Person bemerkte im Roman, dass wenn sich Daniel gestellt hätte und die 44 Geiseln freigekommen wären, dann hätte man sie still angeklagt. So oder so.


    Was mich erschreckte war Daniels Verhalten gegen Ende als er auf den Mann einstach. Was war da mit ihm los? Geistig gesund waren am Ende keine der Personen, was nach einem Krieg auch kein Wunder ist. Selbst Tobias konnte sich nicht aufraffen Arzt zu werden, wie er das eigentlich vorgehabt hatte.


    ein aufwühlender Roman.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Steffi und Maria,


    ich bin etwas zurückgefallen mit dem Lesen und Schreiben und - obwohl ich das "Stadtgespräch" noch längst nicht ausgelesen habe, so teile ich doch eure Feststellungen über diesen Roman. Er hat eine ungeheure Wucht. Er wühlt in der Tat auf!


    Den ersten Absatz mit dem Rückblick auf das alte Lager macht Zeit relativ und bekräftigt die Vergänglichkeit aller Dinge, einschließlich der Erinnerungen. Das finde ich sehr schön von Lenz ausgedrückt. Als ob sich da der Sinn des Partisanenkampfes noch einmal stellt. Merkwürdig diese Textstelle so weit im Beginn des Romans zu schreiben. Aber sie leitet folgenreiche Begebenheiten ein...


    Der innere Kampf und die Zerissenheit, die Hoffnung und die Hoffnungslosigkeit, die Loyalität gegenüber Daniel und die väterlichen Gefühle Olafs, dessen Sohn unter den 44 Geiseln ist, finde ich sehr eindringlich und menschlich beschrieben. Überhaupt ist fast jede Szene sehr geladen und eher hoffnungslos. Wie Lenz sie beschreibt, zeugt von seiner erzählerischen Meisterschaft, von seiner psychologischen Einfühlsamkeit und auchvon seinen eigenen Kriegserfahrungen. Da sind keine Worte unnötig oder zuviel, da ist alles präzise auf den Punkt gebracht. Selbst die Landschaftsbeschreibungen sind Rahmen und unterstreichen die Handlung, aber keine Auflockerungen. Lenz wertet nicht, er überlässt dies den Leser(innen). Gut, da sind wir manchmal etwas entwurzelt, aber das ist gut so, denn es fordert zum Nachdenken über den eigenen Standtpunkt heraus. Keine moralische Hilfestellung zu geben ist in diesem Falle angebracht. Das erschwert das Lesen, macht es aber intesiver und bringt dieses beklemmende Gefühl hervor, das wir alle festgestellt haben. Aber ist es denn nicht in der Realität so, dass wir fortwährend Entscheidungen fällen müssen, abwägen müssen und einen Standpunkt haben. Wie, wenn dies unter den Regeln und Einflüssen des Krieges fällt?

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Die nächste Szene, die mich sehr bedrückte, war die mit dem Jungen und dem Soldaten im Bus. Da will ich nicht drüber schreiben. Es zeigt aber sehr deutlich die Härte und auch Sinnlosigkeit dieses Krieges und ist so gestaltet, dass auch diese Szene in einer anderen Zeit und an einem anderem Ort spielen könnte.


    Sehr gut fand ich von Lenz auch den Einwurf der Reflexion über die Veränderung des Bildes:

    Zitat

    ...Vom Hörensagen, das heißt doch immer schon: verändert. Wir kennen das Bild, das wir uns von dir machten, was wir von deiner Geschichte fordern, ist das Bild des Mannes, für den du dich selbst hieltest...


    Der Plan der Tunnelsprengung ist ein Aufschrei der Mutlosigkeit und der Zerissenheit. Das finde ich auch sehr bedrückend beschrieben...


    Eine der stärksten Stellen finde ich darauffolgend den Verrat Christophs. Sie macht die ganze Geschichte noch komplizierter und fügt weitere wichtige Motive hinzu. Lenz schrieb hier ein Motivkompendium des Partisanenkampfes und des Besatzungskrieges und am Liebsten würde ich sehen, wenn mehr Menschen diesen Roman für sich entdecken würden und über den Krieg noch einmal nachdenken würden. Er stellt Menschen vor unmenschliche Entscheidungen, wie gerade auch das Beispiel Christophs zeigt. Hier wird wieder, so wie ich bereits bemerkte, der enge Handlungsspielraum zwischen Kollaboration und Widerstand deutlich. Ich werde diesen Text noch einmal lesen, er ist wirklich außergewöhnlich gut gechrieben...


    Bis später und Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Eine der stärksten Stellen finde ich darauffolgend den Verrat Christophs. Sie macht die ganze Geschichte noch komplizierter und fügt weitere wichtige Motive hinzu. Lenz schrieb hier ein Motivkompendium des Partisanenkampfes und des Besatzungskrieges und am Liebsten würde ich sehen, wenn mehr Menschen diesen Roman für sich entdecken würden und über den Krieg noch einmal nachdenken würden. Er stellt Menschen vor unmenschliche Entscheidungen, wie gerade auch das Beispiel Christophs zeigt. Hier wird wieder, so wie ich bereits bemerkte, der enge Handlungsspielraum zwischen Kollaboration und Widerstand deutlich. Ich werde diesen Text noch einmal lesen, er ist wirklich außergewöhnlich gut gechrieben...


    Bis später und Grüße, FA


    Hallo Friedrich-Arthur
    hallo zusammen,


    dieser Teil der Geschichte ist sehr stark und hat mich tief berührt. Als Christoph nochmals zurück ging, um die anderen zu warnen und danach seinen Weg in den Tod ging. Tobias hatte ja den Eindruck, dass Christoph sich eine Chance ausmalte. Doch es kam anders.


    dazu schrieb Zola:

    Zitat von "Zola"


    Ich denke hier erkennt man auch, dass die Widerständler in erster Linie Zivilisten sind. Schießen haben sie wohl beim Militärdienst gelernt, aber die Nerven, die man für die Realität braucht, die fehlen ihnen.


    kann ich mir so vorstellen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    in diesem Roman kommt vieles anders, als die Leser(innen) es erwarten. Das finde ich sehr von Lenz durchdacht, er muss sehr viel über die Reaktionen der Leser(innen) nachgedacht haben. Das neue Kapitel, das mit dem Zug der Angehörigen zur Kommandatur beginn ist auch wieder reich an neuen Szenen über den Besatzungskrieg. So nüchtere Feststellungen von Tobias in seiner Reflexion über Daniel, wie

    Zitat

    ...Du hast erfahren, Daniel, daß sie zur Kommandatur zogen, um für ihre Angehörigen zu bitten; du findest noch viele, die damals dabei waren auf dem baumlosen Platz...Bevor sie um deinen Tod baten, baten sie den Kommandanten um Großherzigkeit...

    finde ich unglaublich gekonnt von Lenz zwischengestreut. So leichte und doch so ungeheuer bedeutende und dabei hoffnungslose Sätze...


    Den Vergleich zwischen Freiherr von der Laube und dem alten Kommandanten Schlüter sagt viel über den Geist der Besatzungsarmee aus und darüber, dass diese sich keine Schwäche im menschlichen Sinne erlaubte. Freiherr von der Laube passt, trotz seiner Dick- und Querköpfigkeit in die Besatzungsarmee. Er verkörpert deren Geist in der von ihr geforderten Härte. Er verkörpert nicht den Nationalsozialismus, sondern den historisch preußischen Militarismus. Das finde ich bemerkenswert, denn genau dieser Militarismus rieb sich im Dritten Reich mit dem Nationalsozialismus, war mit teils ihm im Gegensatz, manchmal sogar in offener Konkurrenz, andererseits in Übereinstimmung oder gegenseitiger Vorteilnahme und machte den Nationalsozialismus militärisch erst möglich und anfangs so erfolgreich. Die Verstrickungen von Militarismus und Nationalsozialismus begannen wohl schon zu Zeiten des Kapp-Putsches, haben ihre Wurzeln noch früher im Keiserreich Bismarks und kamen bei der Machtübertragung Hindenburgs an Hitler vollends schicksalsvoll zusammen. Letztendlich bediente sich der Nationalsozialismus des Militarismus... Das Bild, dass Lenz schließlich von Freiherrn von der Laube, einschließlich des Verlustes von dessen Frau und seines Hauses im Bombenkrieg, zeichnet, ist überzeugend und typisch für die Offiziersfamilien im historischen preußischen Militarismus. Dies wird noch durch ein erweitertes Familienporträt unterstrichen. Mit diesem Kommandanten ist nicht zu spaßen, allein schon wegen seiner Überzeugung, Herkunft und Konsequenz...


    Lenz hat sicher keine Prototypen und Allgemeinheiten bedient, das gibt seinem Roman eine große Glaubwürdigkeit und Wirkung. Die Moral wird nicht von Lenz bestimmt, die Moral muss sich die/der Leser(in) suchen. Das machen andere Schriftsteller auch, doch habe ich es noch nicht in diesem ausgeprägten Maße erfahren. Die Wucht der Motive, Feststellungen und Beschreibungen finde ich geradezu überwältigend!


    Ich möchte über so vieles schreiben, deshalb geht es mit der Leserunde nicht so schnell voran. Ich finde diesen Roman wirklich beeindruckend (ich wiederhole mich...) und will ihn nicht zu schnell fertiglesen...


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo FA,


    Zitat

    Das finde ich bemerkenswert, denn genau dieser Militarismus rieb sich im Dritten Reich mit dem Nationalsozialismus, war mit teils ihm im Gegensatz, manchmal sogar in offener Konkurrenz, andererseits in Übereinstimmung oder gegenseitiger Vorteilnahme und machte den Nationalsozialismus militärisch erst möglich und anfangs so erfolgreich.


    Interessant, diesen Zwiespalt habe ich zwar während des Lesens auch gespürt, konnte ihn aber nirgends einordnen. Als dritte Seite kommt dann noch der Quasi-Militarismus der Widerständler hinzu. Gerade dabei finde ich Christophs Tod so bezeichnend - zeigt es doch, dass der Mechanismus immer gleich funktioniert, egal, auf welcher Seite man steht. Christophs Tod dient zur Bestätigung und Aufrechterhaltung des Widerstands, dessen Apparatur genauso hierarisch gegliedert ist, wie die der Gegenseite.


    Was mir auch noch auffiel, ist, dass Lenz nur wenigen Beteiligten ein wirkliches Gesicht gibt - Daniel z.B. bleibt seltsam distanziert und stumm.
    Dadurch wird auch diese eingenartige, abgerückte Stimmung erzeugt.


    Gruß von Steffi

  • Keine Angst, ich werde nicht politisch.


    Der brutale und rassistische Mordversuch an Eremyas in Potsdam hat mich noch mehr, als die vielen anderen und ebenso verachtenswerten Übergriffe berührt, da Eremyas und wir im gleichen Semester zusammen studierten, im gleichen Wohnheim langjährige Nachbarn waren und im gleichen Studentencafé unser Bier zusammen tranken. Die persönliche Betroffenheit habe ich noch nie so nahe gespürt. Der Artikel im aktuellen "Stern" hat ein sehr treffendes Bild dieses Menschen vermittelt! Die Bilder haben mich sehr bewegt.


    Ich musste dies nur loswerden und dieser Ordner schien mir der geeignetste, da vom Thema verwandteste. Alles, was dem "Stadtgespräch" vorrausging, fing auch so an. Einzelne Übergriffe auf Andersaussehende und -denkende unter Zusicht der Demokratie bis hin zum allzubekannten Mord- und Zerstörungsrausch, der Europa und die Welt aufzehrte, von dem aber scheinbar immer noch nicht genug gelernt werden konnte. Die Mechanismen der Verselbstständigung der Gewalt sind sehr schön im "Stadtgespräch" beschrieben. Ebenso die lähmende Starre und die Hilflosigkeit der Opfer und Betroffenden. Es ist ein Buch, dass ich deshalb besonders einigen Politikern und Meinungsbildnern empfehlen würde, aber auch sonst gern zur Lektüre anrate.


    Seht ihr, ich bin nicht politisch geworden, sondern habe nur eine Empfindung niedergeschrieben, die mich besonders im Zusammenhang mit dem "Stadtgespräch" bewegte.


    An ein Buch muss ich in diesem Zusammenhang immer wieder denken: Theodor W. Adornos "Minima moralia". Auch an andere, aber an dieses immer und unbedingt. Ich werde mir die "Minima moralia" wieder hervorsuchen und im Anschluss an diese Leserunde noch einmal darin lesen...


    Morgen werde ich mich wieder der Leserunde widmen und auf die Mechanismen der Gewaltentfesselung achten, die Lenz im "Stadtgespräch" so wunderbar treffend nachgezeichnet hat, ich werde das Buch mit Disziplin weiterlesen und mir Zeit nehmen zum Schreiben...


    Grüße in die Runde,


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Die Szene mit Jutta Nilsen, ihrem Kind und Ole Dagermann zeigen die Zerissenheit der Menschen während Besatzung, Kollaboration/ Widerstand/ Tatenlosigkeit und die Wirkung die der Hass besitzt, zu entfalten vermag und dass Hass und Gegenhass so dicht beieinanderliegen. Die blindmachende und brennende Glut des Hasses, der alles in seinem Feuer aufzehrt. Letztendlich richtet sich der Hass der Besetzten gegen eine Frau unter ihnen, die unschuldig ist, was immer ihr Mann - der dazu noch unter den Geiseln ist - getan haben mag. Wieviele unschuldige Frauen und deren Kinder mussten durch Hass und Vergeltung sterben? Wie viele von Ihnen wurden ausgegrenzt, zu unrecht bestraft, Opfer? War dies nicht immer so, ist es nicht immer noch so? und ich ahne, das es immer so bleiben wird. Der Hass gegen Frauen und auch Kinder ist schrecklich. Die Schwachen und Wehrlosen müssen am Meisten bezahlen in den großen Ereignissen der Weltgeschichte, die eine einzige Vergewaltigung von Minderheiten und Mächtige durch Mehrheiten und Schwächere darstellt. Besonders in Zeiten des Krieges und während Diktaturen. In der Masse zuzuschlagen, jemand, der/die gefesselt ist zu schlagen, ist dann plötzlich so einfach, jemand der/die unschuldig ist für eingenes Zukurzkommen zu strafen, liegt dann auf einer viel niedrigeren Hemmschwelle... FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10