Ich habe jetzt den 14. Brief abgeschlossen – Zeit für einige Gedanken und Anmerkungen.
Während die Briefadressaten häufig aus der ersten Riege der mythologischen Heldengalerie stammen, sind die Briefeschreiberinnen oftmals nahezu unbekannte bzw. weniger bekannte Figuren. Von Deianira, Hypsipyle oder Hypermestra hatte ich zumindest noch nichts gehört, und auch Namen wie Penelope oder Briseis setzen mehr als eine nur oberflächliche Homer-Kenntnis voraus.
Warum hat Ovid Frauen wie Klytaemnestra, Andromache, Elektra oder Iphigenie ignoriert? Liegt darin eine Wertung? Erschienen ihm diese Geschichten und Schicksale nicht interessant genug? Gerade die beiden Erstgenannten bieten sich mMn. für dieses Briefprojekt an.
Welches Bild der Liebe vermittelt Ovid? In den Briefen 1 – 14 leiden und klagen Frauen, die sich nach ihrem Geliebten oder Ehemann sehnen oder sich hintergangen fühlen. Die Männer erscheinen oft als gefühllose Abenteurer und gewissenlose Schwerenöter, die von ihren Frauen/Geliebten nicht viel zu halten scheinen. Besonders schlecht weg kommen Theseus und Iason. Ich bin mir nicht sicher, ob die Treu- und Gefühllosigkeit dieser beiden Recken erst von Ovid herausgearbeitet und betont wurde, oder ob die Vorlagen eine ähnliche Bewertung enthalten.
Ovids Heldinnen entwerfen häufig ein verzweifeltes Bild unerfüllter, nicht erwiderter Liebe. Nur die wenigsten Geschichten haben das, was man als happy end bezeichnen kann. Einige Frauen werden sich anschließend gar umbringen. Ich kenne leider nicht die frühe Liebeslyrik Ovids (Amores, Ars amatoria, Remedia amoris) und kann daher nicht beurteilen, ob er eine grundsätzlich pessimistische Einstellung zu Herzensangelegenheiten hatte. In den „Heroides“ jedenfalls ist er weit davon entfernt, die Liebe als Glück, Erfüllung oder kreatives Spiel zu schildern. Das deckt sich weitgehend mit den „Metamorphosen“, in denen häufig der dumpfe Trieb regiert. Ich habe deshalb ein wenig die Idee, dass in der Antike unter „Liebe“ evtl. etwas anderes verstanden wurde als heute.
Welches Frauenbild steckt hinter all den Geschichten und Briefen? Ovids Heldinnen leben in einer Welt, in der Männer herrschen, Politik machen, Kriege führen, Frauen begehren, verführen oder einfach vergewaltigen. Das erzeugt Ohnmacht und färbt im schlimmsten Fall ab. Warum hat ausgerechnet die Rächerin Medea einen 2.000 Jahre währenden Siegeszug durch die Literaturgeschichte angetreten? Weil sie sich gewehrt hat? Weil sie mit den Mitteln der Männer den „Geschlechterkrieg“ angenommen und geführt hat? Wir wissen, dass Medea eine der Lieblingsfiguren Ovids war, dass er ihr einen ansehnlichen Teil der „Metamorphosen“ und sogar ein (leider verschollenes) Drama gewidmet hat. Möglicherweise hat sie seinem Frauenbild am ehesten entsprochen: Hilfsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe, gepaart mit Gnadenlosigkeit, wenn der Mann den Bogen überspannt.
Ich wünsche Euch allen einen (bitte nicht wörtlich gemeinten) guten Rutsch und ein Superjahr 2011!
Tom