Beiträge von Sir Thomas


    Frischs Protagonisten sind für mich meist eher rätselhaft ... (z.B. Walter Faber in Homo Faber).


    Ich würde sie eher "eindimensional" nennen.


    Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses.“ (S. 13) Denn: „Ohne Gedächtnis kein Wissen.“ (S. 14). Herr Geiser spürt den herannahenden geistigen Verfall – und bedauert nicht etwa die ihm drohende Entmenschlichung, sondern das Vergessen des eigentlich nutzlosen Wissens. Das sagt viel über sein Weltverständnis aus, das in dem kruden Satz „Wissen ist Macht“* zu gipfeln scheint. Wahllos häuft er ausgeschnittene Lexikonartikel an, um diesem Wissensverlust entgegenzuarbeiten. Er klammert sich störrisch an sein faktenorientiertes, wissensbasiertes Bewusstsein und merkt nicht, dass er damit nicht nur sein Lexikon, sondern im übertragenen Sinn seine ganze Welt zerstückelt und zerstört. Hat Max Frisch hier erneut den homo faber im Visier, den von falschen Vorstellungen geleiteten Möchtegern-Beherrscher der Welt? Ich denke schon – und lese mit grausigem „Genuss“, wie dieser Menschentyp sein letztes Spiel im Dauerregen der Tessiner Bergwelt vergeigt.


    Der Mensch erscheint …“ liest sich imo mit jeder weiteren Seite wie ein hochkarätiger Abgesang auf einen Grundpfeiler der westlichen Welt: die sog. Wissensgesellschaft.


    LG


    Tom


    * Weiß übrigens jemand, wer das gesagt hat? Ich meine es war Francis Bacon.

    Herr Geiser baut einen Tempel aus Knäckebrot, der zusammenbricht. Herr Geiser systematisiert die Arten des Donners. Beides scheint mir mächtig sinnlos. Versucht hier jemand eine Ordnung in der sich auflösenden Dauerregen- und Gewitterwelt aufrechtzuerhalten?


    Die Erde war aber wüst und öde ...“ heißt es in dem Bibelauszug auf S. 17. Genauso öde, wie die „Bibliothek“ des Herrn Geiser, deren Beschreibung sich direkt anschließt. Dieser Mensch scheint ein überkorrekter und oberflächlicher Spießer zu sein, ein Technokrat, der die Welt systematisieren und nach seinen Vorstelllungen gestalten muss. Romane lesen? „Da geht es um Menschen …, um Seelen, um Gesellschaft ...“ (S. 16), damit kann Herr Geiser nichts anfangen. Großartig, wie Max Frisch mit wenigen Federstrichen diese Figur präsentiert!



    Sehr interessant fand ich einen Satz auf Seite 17:
    Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser.


    Das war der erste Satz bei dem ich mal gestoppt habe um ein wenig nachzudenken.


    Die Frage, ob es Gott nach dem Ende der Menschheit noch gibt, ist doch mindestens so sinnlos wie das Bauen einer Knäckebrotpagode. Mit der intellektuellen Fallhöhe des Herrn Geiser ist es nicht weit her, oder?


    LG


    Tom


    Vergesst "Botschaften", ignoriert Biografien. Nehmt das Kunstwerk als solches.


    Das ist lupenreines l'art pour l'art. So kann man ein Kunstwerk lesen, muss man aber nicht. Die Sache mit den "Botschaften" ist ein wenig zweischneidig. Ich persönlich suche nicht nach ihnen, verschließe mich aber auch nicht, wenn ich der Meinung bin, eine entdeckt zu haben. Biografien, Tagebücher, Briefe etc. sind aber sehr wohl nützlich, um den künstlerisch-ästhetischen Standpunkt eines Autors zu vertiefen oder zu hinterfragen.


    LG


    Tom


    Ja, Flaubert war der Erfinder eines neuen Stils.


    Hallo Hubert,


    deshalb nennt Heinrich Mann ihn den "Heiligen des Romans".


    Noch ein Wort zu Stendhal (dem ja immer noch dieser Ordner gehört): In einem anderen Forum las ich jetzt die Bemerkung unseres Kollegen sandhofer, "Rot und Schwarz" sei wohl u.a. aufgrund einer diesbezüglichen Goethe-Äußerung unter die wegweisenden psychologischen Romane gefallen. Ich müsste das Buch noch einmal lesen, um zu prüfen, wieviel "Psychologie" darin enthalten oder nicht enthalten ist. Dazu habe ich allerdings weder Zeit noch Lust. Glauben wir also vorerst unserem Goethe - selbst wenn sich sein Diktum nur als folgenschwere Fehleinschätzung durch die Literaturkritik ziehen sollte.


    LG


    Tom

    Walter Benjamin über Robert Walser:
    Seine Figuren "kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. ... All seine Helden ... wollen sich selber genießen. ... Sie haben ... darin einen ganz ungewöhnlichen Adel. ... Diesen kindlichen Adel teilen die Menschen Walsers mit den Märchenfiguren, die ja auch der Nacht und dem Wahnsinn, dem des Mythos nämlich, enttauchen.


    Schöner Zufallsfund! Ich glaube, Benjamins Literatur-Essays lohnen einen genauen Blick.


    LG


    Tom


    Kurzum, ich bin bei Seite 60 und habe somit deine Hürden schon gemeistert. :-)
    Ich finde das Buch sehr angenehm lesbar, witzig geradezu und bereue es nicht, mich nun doch dem alten Walser genähert zu haben.


    Das freut mich für Dich. Danke für Deine Meinung und weiterhin viel Spaß!


    Tom


    Ich habe die drei Romane als Trilogie gelesen, die - auf sehr unterhaltsame Weise - drei erkenntnistheoretische Positionen beschreibt.


    Interessanter Ansatz, den ich nachvollziehen kann.



    Andere Sachen von Eco habe ich dann nicht mehr gelesen, was sicher ein Versäumnis war.


    Versäumnis? Nachdem ich mich an "Baudolino" versucht habe, war der Autor für mich erledigt. Was für ein Schrott!


    LG


    Tom


    Dr. Faustus ist ein Mammutprojekt für mich. Als Theologe interessiere ich mich für den Aspekt der Verführung, hier der Verführung einer ganzen Nation - um nur einen Themenstrang zu erwähnen.


    Hallo Adrian,


    willkommen im Forum!


    Meine letzte Faustus-Lektüre liegt nur ein halbes Jahr zurück. Den von Dir angesprochenen Aspekt der Versuchung finde ich auch interessant, er ist aber für mich nicht der wichtigste. Als Theologe (welcher Glaubensrichtung?) müssten Dich doch die Exkurse über Luther und dessen als verderblich geschilderte Wirkung auf die Entwicklung des Christentums brennend interessieren - waren sie doch schon für mich, einen abgefallenen Jünger Calvins, mehr als aufschlußreich! Das eigentliche Thema des Faustus ist aber für mich das Problem der Genialität, dem Thomas Mann in all seinen Facetten mehr als gerecht wird.


    Was immer Du aus diesem Roman liest: Bleib eisern - es lohnt sich.


    LG


    Tom

    Eine leise Melancholie durchschimmert die Erzählungen in „Poetenleben“ aus dem Jahr 1917. Es handelt sich um Geschichten, die zuvor in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden waren und die Walser nach seiner Rückkehr aus Berlin zu einer lockeren, aber virtuos komponierten Autobiografie zusammenstellte. Die Geschichten sind unterschiedlich lang und kreisen größtenteils um Episoden aus Walsers flanierend-dichterischen Leben. Er bleibt den Maximen seiner drei großen Romane aus den Jahren 1907 bis 1909 treu, macht sich selbst klein und unwichtig, bindet sich weder an einen Ort noch an eine Person oder gar an eine feste Anstellung und lässt dabei aber immer unmissverständlich anklingen, dass dies für ihn die einzige Art und Weise ist, dem modernen Leben und dessen Überspanntheiten einigermaßen angemessen zu begegnen. Was Walser dazu bewogen hat, eine Nacherzählung des Dornröschenmärchens sowie eine Hölderlin-Miniatur in diese Sammlung aufzunehmen, bleibt mir ein Rätsel, allerdings eins der angenehmen Sorte.


    Robert Walser begleitet mich seit einigen Jahren. Dieser Autor spricht mich sehr an, seine Figuren sind sympathische Einzelgänger und Antihelden, hinter deren Schlichtheit sich sehr viel Menschlichkeit und natürliche Klugheit verbirgt. Robert Walser ist ein perfektes Gift gegen die selbstzerstörerische Hektik und Zielstrebigkeit unserer Zeit. Gemessen an seiner recht traurigen Lebens- und Krankheitsgeschichte ist er ein sehr glaubwürdiger und authentischer Autor. Vita und Werk sind absolut stimmig, die Sprache ist betörend, niemals simpel, aber auch nicht verkopft.


    Hesses Zitat „Wir müssen Dostojewski lesen, wenn wir elend sind“ würde ich gern abwandeln in „Wir sollten Robert Walser lesen, wenn wir unseren inneren Kompass verloren haben.“


    LG


    Tom

    Hallo Hubert,


    vielen Dank für das Bloom-Zitat. Interessant finde ich, dass er "Die Kartause ..." als romantisches Werk einstuft, was ich nachvollziehen kann und für richtig halte.



    ... Stendhal und Balzac als Gegenstück zu Flaubert ...


    Das halte ich für eine unglückliche Formulierung. Ich habe vor einigen Tagen noch einmal Prousts berühmte Analyse des Flaubert-Stils (enthalten in "Tage des Lesens") und die Flaubert-Briefe, die sich mit der Arbeit an "Madame Bovary" beschäftigen, gelesen. Um es kurz zu machen: Proust hält Flaubert für den Erfinder eines neuen Stils. Die Briefe Flauberts sprechen eine ähnliche Sprache. Da hat jemand jahrelang mit sich gerungen. Es ging Flaubert nicht darum, nur schön zu schreiben, sondern für den Roman die Sprache zu finden, die ihn endgültig vom Verdacht der seichten Unterhaltung befreit. Nicht ein abstraktes Stilideal ist sein Kriterium für künstlerisches Gelingen, sondern eine Sprache, die gegenüber dem Gegenstand des Erzählten absolut angemessen ist.


    Davon kann mMn. bei Balzac, dem Vielschreiber, keine Rede sein. "Was für eine Versessenheit auf Geld und wie wenig Liebe für die Kunst! … Er sucht den Ruhm, aber nicht das Schöne." Das Zitat stammt von Flaubert. Ich finde, dem ist nichts hinzuzufügen.


    Kommen wir zu Stendhal (dem ja schließlich dieser Ordner gilt). "Rot und Schwarz" (ein Buch, das ich sehr schätze) wird gern als erster psychologischer und realistischer Roman bezeichnet. Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt. Stendhal ist sicher ein Vorläufer Flauberts, ein typischer Autor des Übergangs, mit dem etwas Neues in die Welt kommt. Aber: Es steckt noch viel Ancien Regime und Romantik in seinen Büchern - und die "Vollendung" des französischen Romans im 19. Jahrhundert ist deshalb nicht Stendhals, sondern Flauberts Verdienst.


    LG


    Tom


    [Übrigens hätten gute Stilisten hier "für einen schlechten Stilisten" geschrieben (Der Oberlehrer)]


    ???



    Flaubert war halt kein Genie wie Stendhal.


    Flaubert war kein Genie, da stimme ich Dir zu. Aber er war ein sehr reflektierter Autor. Ob Stendhal genial war, vermag ich nicht zu beurteilen. Seine Werke kommen mir teilweise wirr und zerfahren vor, was den Lesegenuss erheblich schmälert.


    LG


    Tom


    Mag sein, dass der Beitrag von mir war.


    War er. Ich habe ihn mittlerweile auf litteratur.ch gefunden (einfach "Flaubert Goncourt" in die Suchfunktion tippen).


    Was das Verwöhntsein durch die Briefwechsel Goethe/Schiller u.a. betrifft, stimme ich Dir zu. Im Vergleich dazu sind Flaubert und die Goncourts harmlose Plaudertaschen.


    LG


    Tom

    Zur Abrundung der Bovary-Lektüre habe ich den Briefwechsel Flauberts mit den Brüdern Goncourt angefangen. Eine herbe Enttäuschung! Außer einer Menge Geschwätz über Pariser Moden und literarische Eitelkeiten findet sich dort kaum Interessantes, mal abgesehen von dem gelegentlichen Lästern der beiden Brüder über Flaubert (das allerdings Teil der Tagebücher, nicht des Briefwechsels ist) sowie der einen oder anderen Stilblüte, die der mondänen Langeweile der Pariser Bohème Ausdruck verleiht.


    Schade, aber ich war gewarnt (von einem Beitrag ähnlichen Inhalts in diesem oder einem anderen Forum).


    LG


    Tom