Beiträge von Sir Thomas

    "Werde was du bist." Ich suche verzweifelt nach dem Urheber dieses Zitats. Meiner Meinung nach ist es Nietzsche, was ich aber leider bislang nicht verifizieren konnte. Wer es genau weiss - bitte posten, möglichst mit genauer Quellenangabe. Merci!


    Tom


    Soll ich dann den avisierten 15. September für Bleak House eintragen?


    Why not. Ich hoffe, meine Lust auf Dickens hält so lange an. Leserunden, die nicht relativ kurzfristig beginnen, finde ich immer problematisch. Ich plane niemals so weit im voraus eine Lektüre, aber sei's drum.


    So long,


    Tom

    Roger Willemsen auf die Frage, warum man Karl May so oft mit Häme überschüttet hat: "Wahrscheinlich war es den Kritikern peinlich, dass sie in ihrer Jugend so gern an der Seite von Karl May Abenteurer gewesen und dann Bettvorleger geworden waren. Und so war die Herabsetzung von Karl May auch eine Art Selbstbestrafung." Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 29.03.2012

    Beim Hören der 1892/1893 veröffentlichten Brahms-Klavierstücke (op. 116 – 119) fällt es schwer, nicht an das Goethe-Diktum zu denken, demzufolge „das Klassische das Gesunde und das Romantische das Kranke“ ist. Der kranke, resignierte und verbitterte Brahms scheint hier ganz der einsame Mann zu sein, der am Klavier in sich hineinblickt und mit Hilfe der Tasten phantasiert und improvisiert. Ausbrüche dunkler Leidenschaft und elegisch-melancholischer Weltverlorenheit wechseln einander ab. Die Tonsprache dieser Stücke erinnert wahlweise an die psychotischen Gedichte Baudelaires und Verlaines oder an die überfeinerten Verse Georges und Rilkes. Nicht unbedingt intensiver, aber nuancierter und feinfühliger als die ebenfalls in morbider Ästhetik schwelgenden Kollegen Wagner und Liszt, demonstriert Brahms die Möglichkeiten einer kulturell hochproduktiven Krankheitswelt und einer Romantik, die in Décadence und „Sympathie mit dem Tod“ (T. Mann) mündet. Besonders empfehlenswert sind die drei Intermezzi op. 117 und die sechs Klavierstücke op. 118.


    die Suiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach, gespielt von Julia Fischer, mal Musik für den Kopf.


    Tja, selbst die weltlichen Stücke sind bei Bach ein Art protestantisches Glaubensbekenntnis ... :zwinker:


    Eine gute Wahl zur Einstimmung ins Wochenende. Ich werde es Dir nachmachen.


    So long,


    Tom

    Ich setze die lockeren Berichte über die Lektüre der Thomas Mann-Essays fort. Heute: Leiden und Größe Richard Wagners (1933, Vortrag zum 50. Todestag Wagners an der Universität München)


    Wagner und das 19. Jahrhundert


    Die Kunst des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch einen Ehrgeiz des großen Formats, den Geschmack am Grandiosen und Massenhaften und durch einen Naturalismus, der sich ins Symbolische steigert und ins Mythische wächst (Beispiele: Goethes „Faust“, Balzacs und Zolas Romanzyklen).


    Psychologie und Mythos erheben Wagners Werk über das Niveau des älteren musikalischen Schaupiels. Figuren wie Kundry (Parsifal), zugleich sakrale Gralsbotin und weltliche Verfüherin, sind ausgefeilte Doppelexistenzen. Vor allem dem weiblichen Personal haftet häufig ein Zug von Edelhysterie, etwas Somnambules, Verzücktes und Seherisches an, das ihre romantische Heroik und mythische Pathologie mit eigentümlicher und bedenklicher Modernität durchsetzt.


    Wagners Künstlertum


    Seinem Verhältnis zu den Einzelkünsten (Musik, Literatur) haftet viel Dilettantisches an. Er hielt sich selbst zeitweise für einen absoluten Stümper und jämerlichen Musiker. Seine Libretti sind keine Literatur, sondern ergänzungsbedürftiger Musikdunst. Seine Musik ist so ganz und gar nicht Musik, sie ist Psychologie, Symbol, Mythik, Emphatik. Er ist kein Dichter und kein Musiker, sondern etwas Drittes, worin diese Eingeschaften verschmelzen: ein Theaterdionysos.


    Wagners Künstlertum unterhält ebenso Beziehungen zu Perioden, die von der unseren fernab liegen, wie es dem Modernen-Intellektualistischen angehört. Wagner liebte einerseits eine großbürgerlich-bourgeoise Aura und luxuriöse Umgebung für seine Arbeit, sprach andererseits aber auch von der Notwendigkeit künstlerisch-wollüstiger Stimmung, um seine blutig schwere Arbeit zu schaffen. Beides hat sich in seinem Werk niedergeschlagen.


    Wagners Romantik


    Besonders „Tristan ...“ zeugt von erzromantischer, morbider und zaubervoller Nachtverherrlichung (Novalis!) und dringt tief in die Sensiblitität und Mysterien dieser Geistesbewegung ein. Liebestod, Wollust und Verneinung des Willens sind Bestandteile einer dunkel erotischen Philosophie und einer atheistischen Metaphysik. Wagner war auf eine gesunde Art krank, er kultivierte eine morbide Art, heroisch und erotisch zu sein und gleicht darin seinen Brüdern im Geiste: Poe und Baudelaire. Sein Musiktheater war eine Wundergrotte für die Glaubenslüsternheit einer mürben Spätwelt, sein Personal eine Häufung extremer und anstößiger Ausgefallenheit. All das war mit der klassisch-humanen und eigentlich vornehmen Kunstszene nicht mehr vereinbar – es war nur noch romantisch und entsprach der seit dem Ende der Goethezeit leidender gewordenen Seelenlage des Abendlandes.


    Wagners Deutschtum


    Wagners Nationalismus ist politikfremd und von einer anarchischen Gleichgültigkeit gegen das Staatliche geprägt. Er verband jedoch seine Sache (Bayreuth!) mit der des Bismarckschen Reiches. Die europäische Hegemonie seiner Kunst ist das kulturelle Zubehör zur politischen Hegemonie Bismarcks.

    Wagner begann als Kulturutopist und Sozialist. Er ging den Weg des deutschen Bürgertums: von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten Innerlichkeit.


    Wagners Kunst mit ihrer Sinnigkeit, ihrem mythisch-metaphysischen Hang und ihrem tiefernsten Selbstgefühl ist deutsch und weltoffen zugleich, weil sie modern gebrochen, dekorativ, analytisch, intellektuell und zugleich Selbstdarstellung und Selbstkritik deutschen Wesens ist.


    Fazit: Ich kann nicht behaupten, dass Thomas Mann es geschafft hat, mir die Musik Wagners näher zu bringen. Trotzdem war es erneut ein großartiges Vergnügen, den Ausführungen des Zauberers zu folgen.


    LG


    Tom


    ... hat vielleicht wie du vermutest sogar jemand Interesse das Klassikerforum zu zerstören?


    Diese "Vermutung" hat ausser Dir niemand zum Besten gegeben. Der letzte Werbeeintrag wurde gelöscht. Außerdem: All die kleinen "Werbeblöcke" haben nicht das Potenzial, dieses Forum zu beschädigen. Wo also ist das Problem?

    Achtung! Dieser Beitrag ist eine Kopie aus dem Thomas Mann-Ordner! Ich denke, der Goethe-Thread kann das vertragen ...


    Thomas Mann: Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932, Rede an der preußischen Akademie der Künste zum einhundertjährigen Todestag Goethes)


    Goethe-Perspektiven:
    → Goethe als Herr und Meister der klassischen Bildungsepoche, einer Epoche des idealistischen Individualismus, die den deutschen Kulturbegriff begründet hat und deren humaner Zauber in einer psychologischen Verbindung von autobiographischer Selbstausbildung und Selbsterfüllung mit dem Erziehungsgedanken besteht; die Erziehungsidee bildet Brücke und Übergang aus der Welt des Individuums in die Welt des Sozialen
    → Goethe als Idealtyp einer auf ruhiger und gleichmäßiger Bildung beruhenden bürgerlichen Leitkultur, einer Kultur, die im italienischen Renaissance-Humanismus des 15. Jahrhunderts sowie in den deutschen Figuren Erasmus und (mit Einschränkungen) Luther wurzelt
    → Goethe als Repräsentant des Mittelstands, der ein idealer Nährboden für Talent, standhafte Humanität und schöne, ruhige Bildung ist
    → Goethe als Mensch der Mitte, als gesetzter Dichter, dem alles Exzentrische, Exaltierte, Sakrale, Himmelsstürmerische und Gespreizte zutiefst fremd ist
    → Goethe als erfolgreicher Geschäftsmann, der einmal Begonnenes mit Gründlichkeit fertigstellt, der den Prozess der Ausführung indes höher achtet als den des Beendens; ehrgeizloses, stilles und fast pflanzenartiges Wachstum aus unscheinbaren Anfängen ins Allbedeutende
    → Novalis' Kritik an Goethe: der „Wilhelm Meister“ sei gegen die Poesie gerichtet, ein die ökonomische Natur feierndes Buch über gewöhnliche menschliche Dinge, die in einer gebildeten und gefälligen Sprache vorgetragen werden. „Goethe ist ein praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden.“
    → Goethes Realismus steht dem Dichtertum Schillers entgegen, das vom Idealismus ausgeht; Goethe gab der Wirklichkeit poetische Gestalt, während Schiller das Poetische verwirklichen wollte
    → Goethe als der wahre Menschenfreund, der keinen hohen Begriff von der Menschheit hatte, während der Idealist Schiller so groß von der Menschheit dachte, dass er Gefahr lief, die Menschen zu verachten; der Idealist ist deshalb der glücklichere Geist, der Realist der kältere, boshaftere und mißmutigere
    → Goethe als Nihilist, der „seine Sach' auf nichts gestellt“ hat, der nicht an die Menschheit bzw. deren Befreiung und Reinigung glaubt und noch nicht einmal an die Kunst („Gedichte sind wie ein Kuss, aber aus Küssen werden keine Kinder“); den Aspekt des Nihilismus greift TM in seinem Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ von 1939 noch einmal auf, indem er den Goethe-Adlatus Riemer ähnliche Überlegungen anstellen lässt.
    → Goethe als Aristokrat des Lebens, der geringschätzig auf „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ blickt
    → der späte Goethe als Überwinder des bürgerlichen Individualismus und der klassisch-humanistischen Kultur, der in den „Wanderjahren“ den Blick auf ein Zeitalter der Einseitigkeit und Nüchternheit wirft, in der der Einzelne zu einem Rädchen im Getriebe der Gemeinschaft wird



    Thomas Mann: Phantasie über Goethe (1948)


    Goethes metapysische Gewißheit, ein Mann des großen Loses, für das Große geboren, ein Glückskind und großer Herr, ein Mann der Welt zu sein (diese Einstellung übernahm TM als Charakterzug für Joseph und Felix Krull); Goethe spricht von „angeborenen Verdiensten“; das ist ein Affront gegen das Wollen, Streben, Kämpfen, das höchst löblich, aber nicht vornehm und im Grunde aussichtslos ist; auf die Substanz des Menschen, aufs Existentielle kommt es ihm an: „Man muss etwas sein, um etwas zu machen.“


    Goethes Glauben und Moral wurzeln im Spinozismus, d.h. der Idee von der Vollkommenheit und Notwendigkeit alles Daseins (Natur-Ästhetizismus) sowie der Vorstellung einer Welt, die von End-Ursachen und End-Zwecken frei ist und in der das Böse wie das Gute sein Recht hat (Anti-Moralismus). Daraus leitet er eine Zweckfremdheit der Kunst- wie der Naturschöpfung ab. Selbst sein dichterisches Talent betrachtet er als Natur. „Wir kämpfen für die Vollkommenheit des Kunstwerks in und an sich selbst. Die Moralisten denken an dessen wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig wie die Natur, wenn sie einen Löwen oder einen Kolibri hervorbringt.“


    LG


    Tom

    Leiden und Größe der Meister - Essays von Thomas Mann


    Wie schon erwähnt: In der o.g. Sammlung gibt es gleich mehrere Aufsätze Manns über Goethe. Zwei davon habe ich mittlerweile gelesen. Hier die wesentlichen Früchte im stenografischen Stil:


    Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932, Rede an der preußischen Akademie der Künste zum einhundertjährigen Todestag Goethes)


    TM eröffnet eine Reihe von Goethe-Perspektiven:
    → Goethe als Herr und Meister der klassischen Bildungsepoche, einer Epoche des idealistischen Individualismus, die den deutschen Kulturbegriff begründet hat und deren humaner Zauber in einer psychologischen Verbindung von autobiographischer Selbstausbildung und Selbsterfüllung mit dem Erziehungsgedanken besteht; die Erziehungsidee bildet Brücke und Übergang aus der Welt des Individuums in die Welt des Sozialen
    → Goethe als Idealtyp einer auf ruhiger und gleichmäßiger Bildung beruhenden bürgerlichen Leitkultur, einer Kultur, die im italienischen Renaissance-Humanismus des 15. Jahrhunderts sowie in den deutschen Figuren Erasmus und (mit Einschränkungen) Luther wurzelt
    → Goethe als Repräsentant des Mittelstands, der ein idealer Nährboden für Talent, standhafte Humanität und schöne, ruhige Bildung ist
    → Goethe als Mensch der Mitte, als gesetzter Dichter, dem alles Exzentrische, Exaltierte, Sakrale, Himmelsstürmerische und Gespreizte zutiefst fremd ist
    → Goethe als erfolgreicher Geschäftsmann, der einmal Begonnenes mit Gründlichkeit fertigstellt, der den Prozess der Ausführung indes höher achtet als den des Beendens; "ehrgeizloses, stilles und fast pflanzenartiges Wachstum aus unscheinbaren Anfängen ins Allbedeutende" (Zitat TM)
    → Novalis' Kritik an Goethe: der „Wilhelm Meister“ sei gegen die Poesie gerichtet, ein die ökonomische Natur feierndes Buch über gewöhnliche menschliche Dinge, die in einer gebildeten und gefälligen Sprache vorgetragen werden. Novalis: „Goethe ist ein praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden.“
    → Goethes Realismus steht dem Dichtertum Schillers entgegen, das vom Idealismus ausgeht; Goethe gab der Wirklichkeit poetische Gestalt, während Schiller das Poetische verwirklichen wollte.
    → Goethe als der wahre Menschenfreund, der keinen hohen Begriff von der Menschheit hatte, während der Idealist Schiller so groß von der Menschheit dachte, dass er Gefahr lief, die Menschen zu verachten; der Idealist ist deshalb der glücklichere Geist, der Realist der kältere, boshaftere und mißmutigere
    → Goethe als Nihilist, der „seine Sach' auf nichts gestellt“ hat, der nicht an die Menschheit bzw. deren Befreiung und Reinigung glaubt und noch nicht einmal an die Kunst („Gedichte sind wie ein Kuss, aber aus Küssen werden keine Kinder“); den Aspekt des Nihilismus greift TM in seinem Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ von 1939 noch einmal auf, indem er den Goethe-Adlatus Riemer ähnliche Überlegungen anstellen lässt.
    → Goethe als Aristokrat des Lebens, der geringschätzig auf „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ blickt
    → der späte Goethe als Überwinder des bürgerlichen Individualismus und der klassisch-humanistischen Kultur, der in den „Wanderjahren“ den Blick auf ein Zeitalter der Einseitigkeit und Nüchternheit wirft, in der der Einzelne zu einem Rädchen im Getriebe der Gemeinschaft wird



    Phantasie über Goethe (1948)


    Goethes metapysische Gewißheit, ein Mann des großen Loses, für das Große geboren, ein Glückskind und großer Herr, ein Mann der Welt zu sein (diese Einstellung übernahm TM als Charakterzug für Joseph und Felix Krull); Goethe spricht von „angeborenen Verdiensten“; das ist ein Affront gegen das Wollen, Streben, Kämpfen, das höchst löblich, aber nicht vornehm und im Grunde aussichtslos ist; auf die Substanz des Menschen, aufs Existentielle kommt es ihm an: „Man muss etwas sein, um etwas zu machen.“


    Goethes Glauben und Moral wurzeln im Spinozismus, d.h. der Idee von der Vollkommenheit und Notwendigkeit alles Daseins (Natur-Ästhetizismus) sowie der Vorstellung einer Welt, die von End-Ursachen und End-Zwecken frei ist und in der das Böse wie das Gute sein Recht hat (Anti-Moralismus). Daraus leitet er eine Zweckfremdheit der Kunst- wie der Naturschöpfung ab. Selbst sein dichterisches Talent betrachtet er als Natur. Goethe: „Wir kämpfen für die Vollkommenheit des Kunstwerks in und an sich selbst. Die Moralisten denken an dessen wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig wie die Natur, wenn sie einen Löwen oder einen Kolibri hervorbringt.“


    Was immer man damit auch anfangen mag: Ich habe diese beiden Aufsätze als bereichernd empfunden.


    Diesen Beitrag stelle ich auch in den Goethe-Ordner.


    Es grüßt

    Tom


    Sehr schön Tom, das interessiert mich auch. Kannst Du nicht hinten anfangen zu lesen? [Dostojewski, mit Maßen] :breitgrins:


    Hi Klaus,


    Deinem Wunsch entsprechend, fasse ich kurz den o.g. Aufsatz Thomas Manns zusammen. Er ist als Vorwort zu einer US-amerikanischen Ausgabe der kleineren Romane Dostojewskis konzipiert und veröffentlicht worden. TM räumt eine gewisse Scheu vor dem dämonischen Russen ein, den er mit Nietzsche in Verbindung bringt – und zwar über das Element der Krankheit bzw. das Konstrukt der „kranken Genies“, über das er sich ausführlich verbreitet. Bei Dostojewski soll die Epilepsie eine ähnliche „Genialisierung“ bewirkt haben wie bei Nietzsche die Syphilis. Genialisierung – das ist das Konzept des „Doktor Faustus“ und meint eine krankhafte Steigerung der Empfindsamkeit und der Wahrnehmung, die in einer rauschhaften Produktivität ihr Ventil findet.


    Zwei wesentliche Nietzsche-Themen, die ständige Wiederkehr sowie der Übermensch, seien in Dostojewskis Werk vorgeprägt worden. Nietzsche habe sie bereitwillig von seinem "großen Lehrer" angenommen. Das ist, zumindest was den "Übermenschen" betrifft, wohl eine korrekte Einschätzung.


    Außerdem geht TM auf das „verbrecherische Element“ in Dostojewskis Denken ein. Er habe in seiner krankhaften Imagination die dunkelsten Seiten der menschlichen Seele gezeigt und sei wohl selbst nicht freizusprechen von gewalttätigen Phantasien und Gedanken. Insgesamt ist dieser Aufsatz bestenfalls mäßig erhellend ("Dostojewski, mit Maßen" :breitgrins:). Er scheint so etwas wie die Begleitmusik zu einem eigenen Werk zu sein – dem schon genannten „Doktor Faustus“.


    :winken:


    Tom


    Sehr schön Tom, das interessiert mich auch. Kannst Du nicht hinten anfangen zu lesen? [Dostojewski, mit Maßen] :breitgrins:


    Du wirst es nicht glauben, Klaus: Aber ich habe den Dostojewski-Aufsatz begonnen (Eure Leserunde und die "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" sind Schuld daran), lese ihn allerdings parallel zu einem längeren Stück über Goethe.



    ja, bitte berichte darüber! :winken:


    Ein wenig Geduld, Maria, dann werde ich über beide Themen etwas schreiben.


    LG


    Tom

    Ganz große Freude im Hause Tom! Soeben lieferte DHL die mehr als 1.000 Seiten umfassende Essay-Sammlung "Leiden und Größe der Meister". Erstes Blättern im Inhaltsverzeichnis ergab: TM hat sich überdurchschnittlich viel mit Goethe und Wagner auseinandergesetzt. Aber auch Kollegen wie Fontane, Keller, Storm, Tolstoi, Dostojewski u.a. werden in mehr oder weniger langen Aufsätzen gewürdigt. Ich schätze, auf mich wartet ein Lesefest ganz besonderer Güte (ich werde sicher sporadisch berichten).


    Wer mehr wissen möchte: http://www.thomasmann.de/thoma…erke_im_ueberblick/essays (und dann ein wenig runterscrollen bis zu den Essays der Frankfurter Ausgabe).


    LG


    Tom


    ... seine Vorliebe für sehr dunkle und "gescheiterte" Charaktere (es gibt dafür sicher schönere Bezeichnungen.) ist auch mir teils zuwider. Mir fehlen ebenfalls Entwicklungen in den Charakteren der Figuren, die dazu scheinbar unfähig und mir damit auch oft zu statisch sind.


    Manchmal können alte Aufzeichnungen ganz nützlich sein. Zum "Idioten" notierte ich einst: Man mag Dostojewskis Charaktere naiv nennen, was vielfach durchaus zutrifft. Aber sie sagen mehr aus über Lebensphilosophie, Moral (bzw. Unmoral) und Ethik als jeder Pfarrer. Vielleicht ist es etwas weit hergeholt, aber Dostojewskis Literatur erzeugt beim Lesen so etwas wie „Weltfremdwerden“ mit Hilfe von Figuren, die trotz aller Fiktionalität „realistisch“ sind, wenn auch nicht im Sinne eines „Fotorealismus“.


    :winken:


    Tom


    ... Dostojewski spielt mit den Dialogen, führt auf falsche Fährten, zeigt das wirklich Innere nicht, nur das was die Figur nach außen tragen/scheinen möchte.


    Hallo Anita,


    ich will es mal so formulieren: Es bedarf einer gewissen Eigenleistung, um sich den Figuren zu nähern. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Reizvoll finde ich es allemal.


    :winken:


    Tom


    Vladimir Nabokov hat dazu Folgendes zu sagen: ...


    Hallo riff-raff,


    auch wenn ich hier nicht mitmische: Vielen Dank für die interessanten Nabokov-Zitate! Ich teile dessen Kritik auch nur bedingt.



    ... wenn zig Seiten nur aus Dialogen bestehen, dann mag das zwar an Theaterstil erinnern, aber man fühlt sich den Charakteren als Leser gleich viel näher und unmittelbarer in die Handlung involviert, als wenn das Ganze von einem Erzähler zusammengefasst und vermittelt wird.


    Unbedingt. Die Dialoge Fontanes werden immer sehr gelobt, die Dostojewskis hingegen nicht. Dabei verraten sie mehr über die Figuren, als eine ausführliche Charakterisierung durch den Autor. Das muss man nicht mögen, aber wenn man sich mit D. beschäftigt, kommt man nicht darum herum, sich mit diesem Stil auseinanderzusetzen. Mir gefällt das grundsätzlich auch.


    Weiterhin dämonisch viel Spaß wünscht


    Tom

    Angeregt von der aktuellen "Dämonen"-Leserunde habe ich zu den "Aufzeichnungen ..." gegriffen, die ich den "großen" Romanen Dostojewskis immer noch vorziehe - nicht zuletzt, weil sie kürzer und konzentrierter sind und die Essenz des Autors wunderbar zusammenfassen.


    Dieses seltsame und einflussreiche Werk schrieb D. noch vor „Schuld & Sühne“, „Der Spieler“, „Der Idiot“ und „Die Dämonen“. Möglicherweise dienten ihm diese „Aufzeichnungen ...“ als Startrampe für die folgenden Großwerke. Das psychisch deformierte Ich dieser Aufzeichnungen, dessen zynisches, beinahe schon krankes Genussempfinden, scheint von Poe („Der Geist des Bösen“) und Baudelaire („Die Blumen des Bösen“) beeinflusst.


    „Jetzt aber lebe ich in meinem stillen Winkel und ziehe mich mit dem boshaften, wirkungslosen Trost auf, dass ein verständiger Mensch überhaupt nichts ernstlich werden kann, sondern etwas zu werden nur einem Dummkopf möglich ist. Ja, ein Mensch des 19. Jahrhunderts muss ein im höchsten Grade charakterloses Wesen sein; dazu ist er moralisch verpflichtet; ein charakterfester Mensch dagegen, ein Mann der Tat, ist ein in höchstem Grade beschränktes Wesen.“


    „Der Genuss rührt hier gerade von einer besonders klaren Erkenntnis der eigenen Erniedrigung her, von der Empfindung, dass man bis an die letzte Mauer gelangt sei, dass diese Handlungsweise schändlich sei; aber doch eben nicht anders sein könne, dass man keinen Ausweg mehr habe und niemals ein anderer Mensch werden würde [...] Gerade in der Verzweiflung liegen die stärksten Genussempfindungen, besonders wenn man seine Rettungslosigkeit bereits sehr genau kennt.“


    „Einen Menschen des unmittelbaren Handelns halte ich für den wahren Normalmenschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst haben wollte, als sie ihn liebevoll auf der Erde erzeugte. […] Er ist dumm, aber vielleicht muss der Normalmensch auch dumm sein.“


    Hier steht er bereits in früher Blüte: der Nihilist vom Stamme Zarathustras, der Übermensch Nietzsches, der Leutnant Glahn aus Hamsuns „Pan“, Colonel Kurtz aus dem „Herz der Finsternis“ sowie der Professor aus Joseph Conrads „Geheimagent“. Bedurfte es danach in Ds. Werk noch eines Raskolnikow? Eines Rogoschin? Eines Stawrogin? Sie alle sind grob, aber effektiv vorgezeichnet in dem namen- und identitätslosen Autor der „Aufzeichnungen ...“, der sich aus Gründen, die wir nicht erfahren, der Menschheit überlegen glaubt. „Kann denn ein Mensch, der zur Erkenntnis gelangt ist, noch irgendwelche Selbstachtung besitzen?“ Es blieb allerdings den Figuren der Nachfolgewerke vorbehalten, dieses Denken in Handlungen zu überführen.


    Dies nur als Randbemerkung zur derzeitigen "Dämonen"-Runde.


    LG


    Tom


    @ Sir Thomas, mich würde trotzdem interessieren, ob Dir der Roman gefallen hat. Ein kurzes Statement?


    Here we go:
    Ich hatte einen Künstlerroman erwartet - und als solcher funktioniert "Weltlicht" recht ordentlich. Ästhetizismus, l'art pour l'art, Sympathie mit dem Tode: Diese Zutaten werden von Laxness zu einem appetitlichen Menü zusammengestellt. Natürlich sind Verzerrungen und Überzeichnungen unübersehbar, aber das muss man einem Autor einfach nachsehen, denn er lebt schließlich über einen langen Zeitraum mit seinen Ideen und Figuren.


    Gefallen hat mir die immer wieder hervorgehobene Ambivalenz, mit der ein Dichter in Island gesehen wird: Einerseits als arbeitsscheuer Faulpelz und Nichtsnutz, der aber durchaus geschätzt wird, wenn er den rauhen Alltag ein klein wenig mit Versen verhübscht. Gefallen haben mir die Naturbeschreibungen, die immer etwas mystisches an sich haben. Und natürlich die unverwechselbaren Charaktere, die Laxness sehr lebendig zu zeichnen versteht.


    Aber: Das Ganze hat Längen, verursacht durch Nebenhandlungen. Insbesondere der zweiten Hälfte hätte ein wenig Straffung gut getan.


    "Weltlicht" war nach "Islandglocke" mein zweiter Laxness-Roman. Der Autor verbleibt damit auf meinem Radar, wenn auch nicht unbedingt als sich mir annäherndes Flugobjekt. Er wird mich weiter umkreisen - in angemessener Entfernung.