Beiträge von JHNewman

    Ich aktiviere diesen Faden einmal. Über Weihnachten wurde im DLF aus den 'Stahlgewittern' gelesen. Der Schauspieler, der den Text las, war Tom Schilling. Ich habe einige Male in die Lesung hereingehört und fand sie exzellent. Jetzt habe ich aus der Bibliothek die vollständige Lesefassung (10 CDs) mitgenommen.


    Jünger ist ein Autor, der mich fasziniert und interessiert. Ich schwanke bei ihm zwischen Bewunderung, Interesse und Abscheu. Bewunderung, weil er ein glänzender Stilist ist und wunderbar beobachten und beschreiben kann. Interesse, weil er eine Geisteshaltung und eine Geisteswelt repräsentiert, die heute als lange verloren angesehen werden muss. Das finde ich faszinierend, zum Teil auch erhellend. Abscheu regt sich aber immer dann, wenn ich ein wenig vom Text zurücktrete und mir Fragen stelle - vor allem Fragen, die Jünger sich offenbar selbst nicht stellt. Themen, die er nicht aufgreift, Aussagen, die er nicht macht. Beobachtungen, die er nicht bewertet.


    In seinem Essay 'Waldgang' etwa schreibt er des langen und breiten über den Widerstand, den der freie Geist gegen einen um sich greifenden Ungeist leistet, die Konsequenzen, die er daraus ziehen muss, wenn er in den inneren oder sogar äußeren Widerstand gehen muss, wie sich sein Leben in der Opposition gegenüber der Masse verändert etc. Davon kann man vieles unterschreiben und sich zueigen machen. Schaut man dann allerdings auf das Entstehungsjahr des Essays (1951), reibt man sich die Augen. Denn es wird deutlich, dass mit dem 'heraufziehenden Ungeist', den der Autor offenbar im Blick hatte, die pluralistischen demokratischen Gesellschaften des Westens gemeint sind. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hinter all dem sprachlich polierten Geistesadel lauert die Ablehnung der Werte, die unser Gesellschaft heute prägen. Das liegt m. E. auch hinter der Erzählung 'Auf den Marmorklippen'.


    Nun also die Stahlgewitter. Da ist es ähnlich. Der Erzähler WILL den Kampf, er definiert sich als 'Krieger', der ganz im Ethos der 'Schlacht' aufgeht. Das Erlebnis der grausamen Realität erschüttert ihn zwar, aber es ändert nichts an dieser Grundhaltung. Und: er stellt keine Sinnfrage. Für den 'Krieger' ist der Kampf alles, es gibt kein Darüber und kein Dahinter. Es gibt zwar das Vaterland, das so schön ist, dass es sich dafür zu kämpfen lohnt. Aber das liegt irgendwo im Hintergrund. Der Kampf trägt seinen Sinn und seine Legitimiation in sich selbst.

    Tja, spannende Frage.


    Dafür, dass die Geschichte reale Geschehnisse wiedergibt, spricht, dass im Anschluss auch Otto darüber spricht und die Erzählung weiter ausschmückt. Allerdings ist Otto natürlich Teil der gleichen 'Mythengemeinschaft', d.h. auch ihm wird diese Geschichte erzählt worden sein, sodass er sie gegenüber dem Kleineren weiter ausspinnen kann. Man hört hier förmlich die Kinder miteinander reden und sich gegenseitig ihre gruseligen 'Beobachtungen' erzählen.


    Allerdings wird auf den folgenden Seiten mehrfach auch darauf hingewiesen, dass die Mutter eben nicht immer die Wahrheit spricht. Mehrere Personen weisen darauf hin, dass den Erzählungen der Mutter nicht immer zu trauen ist...


    Gina, ich lese dieses Buch auch gerade und bin davon ebenso angetan. Keine leichte Kost, aber auf seine Art wunderschön.


    Gestern habe ich mir übrigens die Literaturclub-Sendung vom Januar angeschaut. Darin wurde das Buch auch ausführlich diskutiert. Elke Heidenreich bezieht sich in der Diskussion auf eine Szene des Buches, die sie zutiefst erschüttert hat. Es ist die Beschreibung der Dorfbewohner, die ihren Kindern das Träumen abgewöhnen. Du wirst Dich erinnern.


    Nun stellt E. H. dieses Szene m. E. insofern falsch dar, als es ja eine Erzählung der Mutter ist, bei der der Sohn mehrfach nachfragt, ob es denn auch wahr sei. Ich lese diese Erzählung nicht als eine Darstellung der Wirklichkeit, sondern als ein Mittel der Mutter, den Sohn von der Dorfbevölkerung zu distanzieren. Gib dich nicht mit ihnen ab - so sind die Leute hier!


    Was meinst Du dazu?
    http://www.srf.ch/sendungen/li…r-literaturclub-im-januar


    Interessant fand ich ebenfalls, den Roman als eine Beschreibung der Verhältnisse in Ungarn zu lesen, die bis heute die Probleme Ungarns mit einer 'offenen Gesellschaft' erklären.

    Ich mag Uwe Tellkamp auch sehr gerne, spätestens seit seinem Roman 'Der Eisvogel'. Den Turm habe ich sehr gerne gelesen und als Wessi damit einen Einblick in das Leben der DDR bekommen - wobei natürlich die Gesellschaft am Weißen Hirsch auch ein besonderes Biotop ist. Seither habe ich das Buch noch einmal als Hörbuch gehört und auch teilweise wieder gelesen. Tellkamp ist für mich so ein wichtiger Autor geworden. Ich warte wirklich mit Spannung und sehnsüchtig auf die Fortsetzung des 'Turms', die ja schon seit einiger Zeit halb angekündigt ist. Leider teilt der Suhrkamp Verlag mit, der Erscheinungstermin sei noch unklar. Ich hoffe jetzt doch sehr auf diesen Herbst. In einem älteren Zeitungsbericht hieß es, der Abgabertermin für das Manuskript sei im Jahr 2013 gewesen. Aber man weiß ja, dass auch Autoren gelegentlich solche Termine verpassen... :zwinker:


    Danke für die Eindrücke,
    Stephan Thome war bisher für mich, bis auf den Namen, ein unbeschriebenes Blatt.


    Gruß, Lauterbach


    Ich kann den Autor sehr empfehlen. Er stand sowohl mit seinem Erstling 'Grenzgang' wie auch mit dem Roman 'Fliehkräfte' auf der Shortlist zum Dt. Buchpreis. Bemerkenswert ist aus meiner Sicht, dass diese starke Stimme der dt. Gegenwartsliteratur komplett ohne jeglichen Firlefanz auskommt. Er schreibt über klassische Themen wie Heimat und Paarbeziehungen, und das in einem sehr klassischen Stil. Somit auch für Leserinnen und Leser klassischer Literatur durchaus zumutbar. Der einzige literarische Kunstgriff, den er sich erlaubt, ist das Erzählen des gleichen Stoffes aus der Perspektive einer anderen Figur.

    Ich habe Stephan Thomes wieder sehr meisterlichen Roman 'Gegenspiel' beendet. Das Buch ist von einer erstaunlichen Reife und virtuos geschrieben. Die Sicherheit der Dialoge und die allgemeine psychologische Analyse sind beeindurckend. Besonderen Reiz erhält das Buch dadurch, dass hier im Grunde die gleiche Geschichte erzählt wird wie im Vorgängerroman 'Fliehkräfte', diesmal jedoch aus der Perspektive der Frau. Einige Szenen sind identisch, natürlich mit den gleichen Dialogen - und doch wiederum ganz anders.


    Jetzt hoffe ich für den Autor, dass der Roman auf die Auswahlliste des Leipziger Buchpreises kommt. Verdient hätte er es.


    Kleine Fußnote: Vorgestern fuhr ich durch Biedenkopf (ein Teil des Romans spielt dort, der Autor wuchs dort auf) und kam durch die Hainbachstraße. Da wurde mir auch klar, woher der Autor den Namen seiner Hauptfigur hat.


    Moin, Moin!



    Das halte ich für unvereinbar. Sobald ich etwas verstanden habe, ist es mit der Heiterkeit zumeist ganz ganz schnell vorbei. Immer von der Prämisse aus, daß es auf dieser Welt nichts wirklich Gutes gibt und man, wenn man tiefer blickt und eben Einblick gewinnt, nur noch mühsam seinen Brechzeit zurückhalten kann.


    Ah Dostojewski, alter Misanthrop, Du meinst nicht 'verstehen', sondern 'durchschauen' und 'entlarven'?
    Schon Goethe wusste ja, dass 'verstehen' zugleich auch 'vergeben' bedeutet. :zwinker:

    Volker, :winken:


    herzlich willkommen. Fontane ist ganz wunderbar und verzaubert auch mich immer wieder. Der Stechlin ist ein wundervoller und meisterlicher Roman, wobei ich persönlich 'Vor dem Sturm' noch den Vorzug geben würde.


    Auf fröhliches gemeinsames Lesen,
    JHN


    Das war seit längerem auch mal wieder ein McEwan, der mich überzeugt hat. Er ist dem Thema (eigentlich sind es mehrere Themen) wirklich gerecht geworden. Die vielschichtigen Fragen etwa, die sich um die Frage nach medizinischer Behandlung gegen den Willen religiös gebundener Eltern drehen, hat er sehr differenziert und angemessen dargestellt. Und die Geschichte einer in die Jahre gekommenen Ehe hat er auch sehr berührend erzählt.


    Für mich ein erster Höhepunkt in diesem Lesejahr.

    Genau, und die Promotion seines Buches ausgesetzt.
    Ich halte ihn überhaupt für unterschätzt und verkannt.



    Diese Aussage überrascht mich. Ich kann das inhaltlich nicht beurteilen, da ich fast überhaupt keine Franzosen lese und auch von ihm noch kein Buch gelesen habe. Aber zumindest kann ich sagen, dass er einer der ganz wenigen Namen der frz. Gegenwartsliteratur ist, die ich überhaupt wahrnehme, weil über ihn so viel geschrieben und gesprochen wird.

    Genau das wollte ich wissen. Aber nicht von google, sondern von Dir. Ist irgendwie menschlicher, oder?


    Na, bei Google hätte es so schön ja nicht gestanden. Die Gründe, warum mir das mhd. Original besser gefiel, sind ja psychologischer Natur und daher für Google nicht zugänglich. Aber für die Psychologie werde ich bestimmt gleich geschimpft. :zwinker:

    Gib's zu, Du wartest förmlich auf die erstaunte Frage, was das denn wohl bedeuten mag ... Also: Raus mit der (hochdeutschen) Sprache! :breitgrins:


    Nee, das neuhochdeutsche Wort passt da irgendwie nicht so ganz. Außerdem kann man googlen. Der mittelhochdeutsche Begriff vereinigt so schön einen physischen wie auch einen geistigen Widerstand im Betrachter mit den abstoßenden Eigenschaften des Objektes. :breitgrins:


    Lest ihr sein neues Buch?


    [kaufen=' 978-3832197957'][/kaufen]


    Ich habe eigendlich beschlossen Zeit, Energie und Geld nicht auf sowas zu verschwenden. Aber jetzt sollte man ja fast dass man mitreden kann. :cry:


    Zu dem Autor fällt mir ein Begriff ein, den ich mal im Mittelhochdeutschkurs gelernt habe: widerzaeme. :breitgrins: Daher habe ich wenig Freudigkeit, sein Buch zu lesen.

    Karl Ove Knausgards 'Sterben' habe ich nun beendet. Das Buch ist zwar als literarisches Werk von mittlerem Rang, aber als menschliches Dokument durchaus beeindruckend. Deshalb wandern die weiteren Bände von 'Mein Kampf' auf meine Leseliste (als nächstes steht 'Lieben' an).


    Jetzt aber habe ich begonnen mit Stephan Thomes neuem Roman 'Gegenspiel'. Das Buch erzählt die Geschichte einer Hauptfigur aus dem Vorgängerbuch 'Fliehkräfte' aus deren eigener Perspektive. Das Eingangskapitel - die Schilderung einer Autofahrt von Marburg nach Biedenkopf - erzeugt daher ein spannendes déjà-vu. Als Modell finde ich das reizvoll, nun will ich mal sehen, was der Autor daraus macht.

    Also ohne Psychologie geht´s nicht beim Textverständnis der Klassiker. Ich sehe das eben eher aus Autorensicht: Gerade die klassischen Autoren sind wahre Zauberer, wenn es darum geht, solche unbewussten Regungen der Seele einzufangen und psychologisch aufzufächern. Es ist also immer eine Frage, wie jemand damit umgeht und was er daraus macht. :zwinker:


    Die Psychologie im Text und die psychischen Befindlichkeiten der Leser sind aber doch zwei unterschiedliche Dinge (wobei natürlich das eine das andere beeinflussen kann).

    Nanu, sollte ich der erste Leser sein, der sich hier meldet?


    Ich habe jedenfalls die Geschichte von Anton Tschechow gerne wiedergelesen. Tschechow erweist sich auch hier wieder als der psychologische Meister der knappen Form, den ich aus anderen Erzählungen von ihm kenne. (Seit ich Turgenjews 'Aufzeichnungen eines Jägers' gelesen habe, weiß ich auch, woher Tschechow seine Vorbilder bezog, btw...)


    Die Geschichte um eine Urlaubsliebe wird präzise, ökonomisch, aber doch nicht ohne psychologische Rafinesse erzählt. Dmitri Gurow, ein gelangweilter Angehöriger der russ. Oberschicht, sucht ein flottes kleines Abenteuer. Anna Sergejewna lässt sich darauf ein. Weitaus weniger leichtfüßig, sondern überaus skrupulös, aber von tieferen Sehnsüchten getrieben, ist für sie die Affäre weitaus bedeutsamer als für den Lebemann Gurow. Aber es kommt anders als zunächst erwartet. Nach dem Ende der Affäre wächst sie sich für Gurow in der Erinnerung so sehr zu einer lebensverändernden Erfahrung aus, dass er das Risiko eingeht, wieder Konakt zu Anna Sergejewna aufzunehmen. Er sucht sie ihn ihrer Heimatstadt auf und beide nehmen die Affäre wieder auf. Der Moment, in dem beide sozusagen ihre gegenseitige Verfallenheit akzeptieren und nach Wegen suchen, ihre Beziehung zu leben, bildet den Schlusspunkt der Erzählung.


    Das ist der Stoff für einen Roman, aber Tschechow gelingt es wirklich hervorragend, diese dichte Handlung auf wenigen Seiten schlüssig zu erzählen. Gleichwohl hatte ich beim Lesen den 'großen Bruder' der Erzählung (Tolstojs Anna Karenina) mehrfach im Kopf, nicht zuletzt bei den Bahnhofsszenen... Bemerkenswert finde ich vor allem, wie hier Ungleichzeitigkeiten eine Rolle spielen: Bei beiden Hauptfiguren spielt die Langeweile eine Rolle, aber Anna Sergejewna ist diejenige, die weitaus mehr von dunklen Sehnsüchten getrieben ist. Zunächst ist Gurow unbelastet, nur auf einen Flirt und eine Affäre aus. Später ist es dann umgekehrt - seine Leidenschaft entwickelt die größere Intensität, sodass er die Initiative ergreift, Anna Sergejewna wieder aufzusuchen. Sowohl ihre Skrupel wie auch seine Leichtlebigkeit und sein Vergessen hätten die Affäre verhindern bzw. ihre Fortsetzung vereiteln können. Dass sie trotzdem zusammenkommen und dann eine dauerhafte Beziehung eingehen, ist vor diesem Hintergrund eigentlich ganz und gar unwahrscheinlich. Hier kommt gleichsam die Schicksalsverfangenheit der beiden voll zum Zuge.


    Aber jetzt höre ich erstmal auf... :zwinker: