Beiträge von JHNewman

    Ich habe in der letzten Woche zwei russische Autoren neu entdeckt, die mich beide auf ihre Weise begeistert haben:


    Sigismund Krzyzanowski, Der Club der Buchstabenmörder, Dörlemann Verlag
    Der Autor schrieb trotz seines polnischen Namens vorwiegend Russisch. Das Buch ist ein wundervolles Beispiel literarischer Dekonstruktion. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe, die sich gegenseitig Geschichten erzählt, dabei Motive aufgreift, verändert, verwandelt - aber gegen die Drucklegung der Geschichten kämpft, da die Fixierung durch Drucklettern den Tod der Literatur bedeutet....


    Boris Sawinkow, Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen, Galiani Berlin
    Der Klappentext behauptet, dieser Geschichte schreibe sozusagen Dostojewskis dunkelste Fantasien fort. In der Tat - von den Dämonen bis zu den Attentätern dieses Romans, die einen Anschlag auf den Generalgouverneur planen und durchführen, ist es nicht mehr weit.


    Eine herzliche Leseempfehlung für beide Bücher!

    Menschen, die am Rand einer Gesellschaft stehen oder diese als 'Neulinge' betrachten, sehen oft Dinge, die die Alteingesessenen nicht wissen oder sehen. Das macht Bücher von Migranten so interessant und häufig auch klarsichtig.


    Ich lese gerade mit großem Erstaunen das sehr schöne und kluge Buch von Navid Kermani über das Christentum ("Ungläubiges Staunen"). Was hier ein Muslim zu sagen hat, ist schon wirklich bemerkenswert. Ein anderes Beispiel ist für mich Sasa Stanisic mit seinem Buch über ein Dorf in der Uckermark. Der Kerl kommt aus Bosnien und ist Migrant. Aber was er über dieses Dorf zu erzählen hat, macht mich staunen.

    Hoppla, jetzt hätte ich fast vergessen zu fragen: Wieso findest Du Richard nicht glaubwürdig, JHNewman?


    Gruß, Gina


    Ich bin erst jetzt aus dem Urlaub zurück, daher mit verspäteter Antwort. :winken:


    Richard halte ich als Person für recht wenig glaubwürdig. Als Pensionär wird er zunächst als recht einsam, kaum motiviert und etwas strukturlos dargestellt. Für jemanden, der jahrzehntelang in Forschung und Lehre aktiv war und Kontakt zu Studenten hatte, erscheint mri die Figur am Anfang des Romans seltsam passiv, einsam und wenig vernetzt. Erst im Lauf der Geschichte erfährt man dann von einigen engeren Freunden, aber die Exposition gefiel mir nicht. Es war aber für die Autorin wohl notwendig, Richard so darzustellen, um sein Anspringen auf das Flüchtlingsthema einigermaßen erklären zu können. Aus sich selbst heraus fand ich das nicht schlüssig.


    Problematischer erschien mir aber, dass Richard einerseits unglaublich gebildet ist, ständig Parallelen zur Geschichte und Literatur herstellt, Menschen, denen er begegnet, mit Figuren aus der klassischen Literatur vergleicht, aber dann nicht weiß, wer die Tuareg sind oder wie weit es nach Spandau ist. Für jemanden, der seit 25 im vereinten Berlin lebt, wenn auch im Osten, ist das einfach nicht glaubwürdig.


    Dazu kamen dann aber noch ein paar weitere Kleinigkeiten, die mich beim Lesen stutzig machten, die allerdings eher sachliche Fehler waren. So verwechselt die Erzählerin bei der Schilderung des Sprachunterrichts für Flüchtlinge Umlaute mit Diphtongen. Oder es wird behauptet, Deutschland heiße erst seit ungefähr 150 Jahren Deutschland. Das ist natürlich Unsinn, es hieß auch vorher schon so, bloß war es staatlich nicht geeint. Oder jemand murrt darüber, dass der Name 'Deutsche Reichsbahn' "faschistisch" sei. Wieso das denn? Auch zur Zeit der sog. Weimarer Republik war der Name des Staates 'Deutsches Reich' - und davor zur Zeit der Monarchie auch. Wieso soll der Name 'Reichsbahn' dann faschistisch sein?


    Und gänzlich seltsam fand ich dann den Anwalt, der beim Gespräch über die Rechtslage der Flüchtlinge zum Regal geht, um Tacitus zum Thema der Gastfreundschaft der Germanen zu zitieren.

    Auch Band drei und vier der Oberschlesischen Chronik habe ich nun beendet.


    Vor Ort in Jagniatkow (Agnetendorf) habe ich ie Villa Wiesenstein von Gerhart Hauptmann besucht. Dort befindet sich heute ein Museum. Das Haus selbst ist allerdings protzig und nicht schön. Man sieht, dass hier jemand mit viel Geld und leider recht wenig Geschmack gebaut hat. Eine Selbstinszenierung in überladener Architektur.


    http://www.muzeum-dgh.pl/de


    Überhaupt kann ich nur sagen, dass mich die wahrhaft europäische Kulturlandschaft Schlesien sehr begeistert hat. Hier treffen sich Nord und Süd, Ost und West. Deutschland und Preußen, das alte Österreich-Ungarn und natürlich Polen und Tschechen haben alle in der Region ihre Spuren hinterlassen. Evangelische und Katholische Heiligtümer, landschaftliche Schönheiten, die Weite der Oderniederung, die schönen Vorgebirge und das schon alpine Riesengebirge sorgen für viel Abwechslung. Ein tolles Land!

    Hallo Gina,
    berichte mal wie es dir gefallen hat.


    Gruß, Lauterbach


    Da bin ich auch gespannt. Mich hat das Buch nicht überzeugt - jedenfalls nicht als Roman. Die Autorin ist m. E. Opfer des Themas geworden, an dem sie sehr nah dran ist. Sie will informieren, aufrütteln und schildern, wie schlimm die Situation der Flüchtlinge ist. Daher sind ihr weite Teile recht reportagehaft geraten. Vor allem die Hauptfigur Richard fand ich nicht sehr glaubwürdig.


    Das Thema ist natürlich hochaktuell und rein auf der sachlichen Ebene habe ich von dem Buch schon einiges gelernt.

    Nach Band II der Oberschlesischen Chronik von Horst Bienek (Septemberlicht) habe ich nun mit August Scholtis' Roman 'Ostwind' begonnen. Nach gut einem Drittel kann ich sagen: das ist ja mal eine echte Entdeckung. Was für ein wundervolles Buch! Warum ist dieser Autor, warum ist dieses Buch nicht bekannter? Es gehört doch sicher in eine Reihe mit der Blechtrommel!


    "Gleiwitz: Eine oberschlesische Chronik in vier Romanen
    von Horst Bienek"


    ich habe es aber noch nicht gelesen.


    Band eins habe ich beendet - das hat mir sehr gut gefallen. Die weiteren drei Bände liegen bereit!


    'Ostwind' von Scholtis habe ich aus der Bücherei entleihen können. Lustigerweise kommt in Bieneks Roman eine engagierte Buchhändlerin vor, die ihren Kunden auch Scholtis nahebringen will. :-)

    Mit Horst Bienek und dem ersten Band der vierteiligen Oberschlesischen Chronik (Die erste Polka) habe ich mich literarisch nach Schlesien, genauer nach Gleiwitz begeben. Das ist sehr interessant zu lesen, historisch ausgesprochen informativ und literarisch überzeugend gestaltet. Der erste Roman erzählt die Geschichte eines Tages, der mit dem von den Deutschen fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz den Startpunkt für den Überfall auf Polen bildet. Die nächsten Bände werden folgen.


    Zuvor aber jetzt noch für eine Leserunde eine erneute Lektüre des Malte Laurids Brigge von Rilke. Dieses Buch habe ich bereits einigemale gelesen, es ist für mich ein wirklicher Meilenstein. Schon jetzt bin ich wieder hingerissen von Maltes Wahrnehmungen, von seinen Empfindungen, der unglaublich intensiven Verbindung von Sinnenwahrnehmung, Innenleben und ästhetisch-sprachlicher Gestaltung. Ein echter Triumph.


    Im Auto gab es nebenher eine Bearbeitung von Stendhals 'Rot und Schwarz' - was für ein Früchtchen, dieser Julien Sorel ... und nun auch ganz schlesisch Eichendorffs 'Taugenichts'.

    Danke, dass du darauf aufmerksam machst. Er hat mir die mittelalterliche Literatur, insbesondere Oswald von Wolkenstein, aber auch Neidhart und Gottfried nahegebracht. Ein wunderbarer Anverwandler, ohne übermäßig zu modernisieren oder historisierend zu verkitschen. Ein großer Verlust für die deutsche Literatur und -geschichte!


    Ja! Sein wundervolles Buch über Gottfried von Straßburg und seine Übertragung des Parzival haben sich dazu beigetragen, dass ich dann später die mittelalterliche deutsche Literatur im Studium der neuen vorgezogen habe...


    Allerdings: Seine eigene Prosa habe ich nie gelesen. Das Erinnerungsbuch 'Das magische Auge' steht zwar bei mir bereit, aber seine Romane haben sich scheinbar nie so durchgesetzt wie seine Bücher zur Literatur. Habt Ihr Leseerfahrungen mit Dieter Kühns Romanen?

    Ich habe gestern Uwe Johnsons ersten Roman, Ingrid Babendererde, beendet. Für mich das erste Johnson-Buch. Der Autor hatte in meiner Vorstellung immer den Makel, als 'schwierig' zu gelten. Die Babendererde las sich aber wunderbar, sodass ich nun Lust auf mehr habe. Wer von Euch kennt die Jahrestage und kann mir sagen, ob ich mich da auf etwas einlasse, das stilistisch ganz anders ist?

    Ah, danke! Rübezahl: ja, daran habe ich auch gedacht. Habe ich bereits als Kind als Buch gehabt. Ich muss mal im Keller suchen...

    Ich werde in diesem Jahr meine Urlaub in Schlesien verbringen (Nähe Hirschberg/Jelenia Gora), also nicht weit von Breslau und dem Riesengebirge. Mit historiographischer Lektüre zur Vorbereitung habe ich mich bereits versorgt - ich würde mich aber auch gerne literarisch schon ein wenig vorbereiten. Habt Ihr Tipps zur schlesischen Literatur oder Literatur, die in Schlesien spielt?

    Seltsam. Obwohl Rainald Goetz mein Leserleben seit Jahrzehnten irgendwo im Hintergrund begleitet, bin ich niemals von irgendetwas so angesprochen wurde, dass ich tatsächlich mal eines seiner Bücher gelesen hätte. Ich bin auch nicht sicher, dass der Büchnerpreis daran etwas ändern wird.


    Vielen Dank JHNewman! Damit hast Du meinen Eindruck bestätigt, dass ich mir das Buch wohl schenken muss ... :breitgrins:


    Ich habe es heute zufällig in der Herbstvorschau entdeckt und was ich dann darüber gelesen bzw. davon gesehen habe, hat mich sehr angesprochen.


    Gruß, Gina


    Es ist ein Kunstwerk. Für die Hersteller des Verlages eine echte Herausforderung, aber wahrscheinlich auch ein Spaß, den sie so nur einmal in ihrem Berufsleben haben werden... :winken:


    Beim Guardian gibt es einen Bericht und ein hübsches Video dazu:
    http://www.theguardian.com/boo…jj-abrams-ship-of-theseus

    Ja, dieses Buch besitze ich in der Originalausgabe. Es war ein Geschenk. Zunächst war ich irritiert, denn das Buch sieht aus wie ein Bibliotheksexemplar, mit Signatur, Stempeln und vielen Eintragungen. Erst langsam begriff ich, was ich da vor mir habe. Es ist ein ganzer Kosmos, darin liegen Postkarten, Fotos, beschriebene Servietten... Ich kann sagen, daß dies sicher das schönste und ausgefallenste Buch ist, das ich besitze. Ich habe es auch mal meinem Buchhändler geschenkt, der war davon auch ganz hingerissen. Mich freut es, daß es jetzt in Deutschland auch erscheint.

    Ich habe heute eine kleine Serie zu August Strindberg beendet:


    Per Olov Enquists romanhafte Biographie: Strindberg - Ein Leben
    Strindbergs Drama 'Fräulein Julie'
    und abschließend Strindbergs Roman 'Das rote Zimmer'


    Bleibt festzuhalten: am besten sieht man Strindberg auf der Bühne oder liest seine Dramen. Als Mensch war er 'ne fiese Möpp (nachzlesen bei Enquist), als Prosaschriftsteller resp. Romanautor hat er mich ebenfalls nicht wirklich überezugt. Der Roman 'Das rote Zimmer' bietet weniger eine stringent durchkomponierte Romanhandlung als vielmehr Szenen aus dem Leben der Künstler und Literaten des späten 19. Jahrhunderts in Schweden. Da sind wirkliche Perlen dabei mit nachgeradezu kafkaesken Qualitäten (der Besuch in der Zentrale der Missionsanstalt etwa), aber insgesamt ist der Roman doch recht heterogen.