Den Roman von Anne habe ich jetzt auch beendet. Insgesamt habe ich ihn gerne gelesen, wenn er mir auch an manchen Stellen zu ausführlich war, vor allem in den Dialogen. Was ich schon zu den Briefen von Gilbert Markham bemerkt habe, gilt auch für das Tagebuch von Anne: es erscheint mir unglaubwürdig, dass man seitenweise Dialoge in ein Tagebuch schreibt, zumal beim Tagebuch noch hinzukommt, dass Anne oft lange Zeit nichts schreibt (Pausen bis zu einem Jahr deuten eher auf ein Jahresbuch hin und nicht auf ein Tagebuch), dann aber noch genau weiß, was vor Jahr und Tag gesprochen wurde.
Nun beim Lesen vergisst man schnell, dass es sich um Briefe bzw. ein Tagebuch handelt und so stört es nicht all zu viel. Zwei andere Dinge haben mich mehr gestört:
1. Anne verwendet für meinen Geschmack zu viele Adjektive. Zwar würde ich nicht so weit gehen wie der französische Journalist und Politiker Georges Clemenceau (1841 – 1929), der einmal seinen Sekretär wie folgt instruiert haben soll: „Ein Satz besteht aus einem Substantiv und einem Verb. Wenn Sie ein Adjektiv verwenden wollen, so kommen Sie zu mir in den 3. Stock und fragen, ob es nötig ist“.
Was ich meine, will ich an einem kleinen Abschnitt aus dem ersten Absatz des 20. Kapitels verdeutlichen, aus dem ich Anne gerne die fünf unterstrichenen Adjektive gestrichen hätte:
It was a splendid morning; and I went out to enjoy it, in a quiet ramble, in company with my own blissful thoughts. The dew was on the grass, and ten thousand gossamers were waving in the breeze; the happy red-breast was pouring out its little soul in song, and my heart overflowed with silent hymns of gratitude and praise to heaven.
.
2. Im Gegensatz zu Emily, die in Sturmhöhe nur beschreibt und den Leser selbst urteilen lässt, versucht Anne permanent ihre gesellschaftliche und religiöse Meinung als die einzig richtige darzustellen.
Trotzdem kann ich das Buch empfehlen, auch um zu sehen wie drei Schwestern, mit der gleichen Erziehung zu drei sehr unterschiedlichen Schreibweisen gefunden haben, aber auch weil Anne manche Sachen wunderbar beschreibt z.B. das Schachspiel im 33. Kapitel. zwischen Helen und Hargrave. Auch die Entwicklung der Trunksucht bei ihrem Ex ist m.M.n. sehr genau beschrieben. Anschauungsmaterial hatte sie ja dafür an ihrem Bruder.
du meinst bestimmt Markham, auf den Helen sich einlässt, oder? Nun, die Wahl hat mich auch verwundert. Markham sehe ich dabei eher noch in einem schlechten Licht stehen. Unvergessen die Szene, in der kaltblütig seinen Freund Lawrence niederschlägt und seine Schuldgefühle auf sich warten lassen. Hingegen sehe ich Mr. Hargrave als durchweg positive Person. In seiner Zuneigung ist er mir sympathisch. Er hat einen Sinn für Dinge, die anderen durch den Kopf gehen, er schreitet ein, als die Männergruppe ihr Unwesen mit dem kleinen Arthur treibt. Warum Helen also Mr. Hargrave gar nicht in Betracht zieht, steht in den Sternen.
Das habe ich mir so erklärt, dass Helen mit einem der Freunde von Huntingdon nichts zu tun haben wollte, um nicht permanent an die alten Geschichten erinnert zu werden. und lieber einen Mann aus einer „anderen Welt“ vorzog.