„ [...] Mit der Autorität des Eingeweihten erklärt er [der Priester im Dom-Kapitel]: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst“ / Tatsächlich umgibt der Prozess das Leben Josef K.s mit majestätischer Passivität; es lässt ihn kommen und gehen nach seinem Belieben. [ Es folgen die Ausführungen der Analogie Dom, Prozess]. Willentlich und bewusst sucht K. den Dom auf, in dem das Gericht ihm das Gesetz enthüllt, nach dem es verfährt. / Wenn es aber das Gesetz des Gesetzes ist, in völliger Ungerührtheit zu bestehen und die Bewegungsfreiheit aller zu respektieren, die zu ihm kommen oder von ihm gehen, dann hat das Gericht mit der Verhaftung K.s dieses sein eigenes Gesetz gebrochen. [...] Und wenn K., der den Widerspruch zwischen dem Geist des Gesetzes und seiner Durchführung witter, die Vermutung wagt: „Du [der Priester] weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht du dienst“, erhält er zunächst nur Schweigen zur Antwort. Dann aber schreit der Geistliche zu K. hinunter: „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?“ Hier weicht die überlegene Gleichgültigkeit des Gesetzes seinem Bedürfnis, den Mann zurückzuhalten, ihn zu fassen, Hand an ihn zu legen, damit es sich ihm mitteilen könne. [...] In diesem Augenblick des Schreckens demaskiert sich das Gesetz. Indem es sich dazu herablässt, Teilnahme an K.s Verzweiflung zu bezeugen, gesteht es seine Verantwortung für die Verhaftung ein, die diese Verzweiflung zum Ausbruch gebracht hat. / [...] Diese Beamten, Advokaten und Frauen sind bresthaft vor Schuld, weil das Gesetz, das sie zu kennen oder zu vertreten vorgeben, selbst ein Verbrechen begangen hat, als es sich selber verletzte. [...] Was Franz Kafka an diesem Roman faszinierte, ist die paradoxe Natur des Zwischenreiches und nicht die Schuld Josef K.s, die, in scih selber verschlüsselt, unentdeckt bleibt. [...] Max Brod [schrieb] ein Gespräch auf, in dem Kafka die Welt des Menschen als eine von Gottes schlechten Launen, einen schlechten Tag des Schöpfers bezeichnete. Brod fragte darauf, ob es ausserhalb unserer Welt Hoffnung gäbe. Kafka lächelte: „Viel Hoffnung – für Gott – unendlich viel Hoffnung -, nur nicht für uns.“ [...] Lesen wir jedoch den Prozess als die Parabel vom Abgrund, der Licht und Dunkel, Hoffnung und Verzweiflung trennt, dann kann die Einsicht Kafkas, dess es zwar Hoffnung gibt, aber nicht für uns, nur dunklere Schatten über eine Welt werfen, die diese Hoffnung eingebüsst hat. Denn dieses Wort bedeutet nicht, dass das Licht erloschen sei und aufgehört habe zu leuchten, sondern umschliesst den noch viel quälenderen Gedanken, dass das Licht niemals imstande sein wird, das Zwielicht zu zerstreuen, obwohl es leuchtet. Das Jahr, in dem K.s Prozess abrollt, ist gleichsam nur ein „schlechter Tag“ des Gerichts. Doch dieser Tag geht verloren, und zwar nicht nur für Josef K. sondern auch und vor allem für das Gericht. / Verglichen mit der Schuld des Gerichts ist die Schuld Josef K.s einfach [sic!], wenn auch nicht minder paradox. Der Katalog seiner Sünden – die ausserdem vorwiegend Unterlassungssünden sind – reicht nicht hin, um seine Verhaftung zu rechtfertigen. Was sich als K.s Schuld hat konstruieren lassen, seine Lieblosigkeit, die Abwesenheit einer echten Teilnahme an seinem Beruf, seine „Lebensschwäche“, seine Durchschnittlichkeit, die ihn zum Repräsentanten der modernen bürgerlichen Gesellschaft werden lässt, all dies teilt er mit einer Menge Unverhafteter, denen er auf seinem Weg begegnet. Auch die Unkenntnis des Gesetzes – jenes Gesetz nämlich, nach dem sein Prozess abläuft – kann ihm nicht unmittelbar zur Last gelegt werden, denn diese hat er wieder mit den meisten Sendboten des Gerichts gemein. [...] / Nun legt freilich Josef K. selbst ein Schuldbekenntnis ab, und zwar auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Er hat eingesehen, dass das einzige, was für ihn zu tun übriggeblieben sei, darin bestehe, „bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand zu behalten“ [...]. „Ich wollte immer“, bekennt er, „mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren [und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck.]“. Er gebraucht keine Metapher, sagt nicht „w i e mit zwanzig Händen“, sondern verzehnfacht die Zahl seiner Hände, das heisst, er übertreibt. [...] Wenn er [Kafka] Josef K. hier von seinen „zwanzig Händen“ sprechen lässt, dann distanziert er sich von der Aussage seiner Figur und stellt deren Erkenntnis in Frage. / [...] Tatsächlich aber ist sein Leben bis zu seiner Verhaftung geradezu ein Vorbild der Mässigkeit gewesen, und diese Mässigkeit eine Schuld, die seine Kritiker ihm in die Schuhe geschoben haben. [...] Wenn nun Josef K. nach seiner Verhaftung wirklich Zeichen des Un- und Übermasses an den Tag legt, dann ist dies Verhalten das eines Gehetzten und Ermüdeten und alles andere denn ein „Griff in die Welt“. [...] / Dennoch hat sich Josef K. schuldig gefühlt seit dem Augenblick, da das Verfahren gegen ihn eingeleitet worden war. [...] Am Ende fühlt sich der Leser zu der Annahme verführt, K.s Schuld bestehe darin, dass er sich ihrer nicht zu erinnern vermag. „Ja, ich vergesse mich“ hat er ausgerufen, als er während der ersten Nacht seines Prozesses vor Fräulein Bürstner seine Verhaftung wiederholt. Bis ans Ende fährt er fort, sich und seine Schuld zu vergessen. / Dies alles ist freilich noch Psychologie. Wenn wir jedoch den Roman auf dem ihm gemässen Niveau, der Ebene des Gleichnisses, deuten, dann finden wir in seiner Sprache selbst einen Hinweis auf K.s rätselhfte Schuld. [...] [Verweis auf die Parabel „Vor dem Gesetz“ und Analogie „Mann vom Lande“, Josef K.] Dennoch gewinnt die Bezeichnung „Mann vom Lande“ schlüsselhaften Sinn für ihn, wenn man sie nämlich ins Hebräische übersetzt, wo sie „Am-ha’arez“ heisst. [...] Ein „Am-ha’arez“ ist jedoch ein Unwissender in der Lehre und im Leben, ein Tölpel, der sprachlich ja im Deutschen auch ursprünglich Dörfler ist. Als „Am-ha’arez“ benimmt sich Josef K. unweigerlich, wenn er dem Gericht gegenübertritt: er ist arrogant und unterwürfig, linkisch und unsichcer, vorwitzig und inkonsequent, er fragt falsche Fragen und gibt rasche Antworten; der Figur haften ja auch sonst die Züge eines Schlemihl an. Vor dem Gesetz ist er ein Primitiver, der nur begreift, was er mit Händen greiffen, mit Sinnen fassen kann. [...] Da er ein „Am-ha’arez“ ist, hält er den Prozess zunächst „überhaupt für nichts“ [...]. Ein Amhorez lässt sich nicht selten an den Platitüden erkennen, mit denen er sich und die anderen über seine Ignoranz hinwegtäuschen möchte. / [...] Wenn Kafka im vierten Oktavheft anmerkt: „Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muss für Christus leiden“, dann liegt die Betonung auf dem Worte „leiden“, und das Wort „Erlösung“ bleibt unerwähnt. So kommt es, dass Kafka im Dom-Kapitel zwar szenisch und figürlich mit Symbolen der christlichen Heilslehre spielen, sie aber keineswegs in die gute Botschaft dieser Heilslehre umsetzen konnte. [...] Was immer der tiefere Sinn der Parabel sein mag, der Mann vom Lande wird niemals das Gesetz betreten, und K., dem die Geschichte zur Belehrung erzählt wird, missversteht sie von Grund auf und für immer. / K. ist ein „Am-ha’arez“ in seiner Konzentration auf die konkreten Tätigkeiten des Alltagslebens und in seiner Scheu davor, sich mit den unfassbaren Abstraktionen des Gesetzes abzugeben. [...] Für Kafka selbst übersetzt sich dieser Dialog in den Widerstreit zwischen Beruf und Literatur; in einen Konflikt also, den er selbst nie auszutragen vermochte. [...] Innerhalb der parabolischen Form, die Kafka dem Roman gegeben hat, gewinnt diese Schuld völlige Undurchdringlichkeit. Sie bleibt bis ans Ende dunkel und in diesem Dunkel allumfassen, genauso wie K. ein Jedermann ohne Eigenschaften bleibt und daher als allgemeingültiger Menschentypus erscheint. [...] Wenden wir jedoch den Blick von der Paradoxie Josef K.s ab und fassen den tieferen Widerspruch des Prozesses selbst ins Auge, dann erscheint K.s Fragwürdigkeit gering vor der Fragwürdigkeit eines Gesetzes, das sich selbst verletzte, als es ihn vor sich rief.“