Beiträge von litfink

    Sammlung lyrischer Zauberzeilen (von Goethe über Rilke bis zur Gegenwart)


    Frost im Herzen, hilflos, durchzog mich (Anna Achmatova). Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen (Peter Rühmkorf). Wisst ihr denn, auf wen die Teufel lauern? (Goethe). Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben (Trakl). Um sechs Uhr kam der Staatsanwalt (Johannes R. Becher). Flüchtig gelagert in dies mein Gartengeviert (Peter Rühmkorf). Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit (Brecht). Hier strotzt die Backe voller Saft (Wilhelm Busch).


    Ein dicker Junge spielt mit einem Teich (Alfred Lichtenstein). Der Abendfrieden ist hereingebrochen (Hans Scheibner). In dem Zug, der von A nach B fuhr (Hans Arp). Das Fräulein stand am Meer (Heinrich Heine). Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben (Günter Eich). Wenn der Schweigsame kommt und die Tulpen köpft (Paul Celan). Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand (H. v. Hofmannswaldau).


    Der lag besonders mühelos am Rand (Walter Höllerer). Im Teerfass-Schatten kauen sie gelassen (Heinz Piontek). So gehen sie hin, Gelächter im Hals, und zeigen (Krolow). Wenn man kein Englisch kann (Benn). Nur noch zwei Bäume (Kaschnitz). In Ebenen, die qualmten von Regen (Stephan Hermlin). Nun rieseln weisse Flocken unsre Schritte ein (Ernst Stadler). Grau und trüb und immer trüber (Goethe).


    Ach Liebste, lass uns eilen (Martin Opitz). Im Haselholz liebten sie sich (Wistawa Szymborska). Im Sessel du, und ich zu deinen Füssen (Theodor Storm). Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen (H.v. Hofmannsthal). Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt, - wir sind Freunde ( Paul Celan).


    Unter türkischen Linden, die blühn, an Rasenrändern (Rilke). In Apfelbäumen lehnen weisse Leitern (Hans Egon Holthusen). Gestern fuhr ich Fische fangen (Werner Bergengruen). Stehend an meinem Schreibpult (Brecht). Immer wieder strecke ich meine Hand (Krolow). Ich bin im braunen Cognac-See ertrunken (Carl Zuckmeyer). Mir grauet vor mir selbst, mir zittern alle Glieder (A. Gryphius). In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs (Benn).


    Ich bin wie schon gestorben (Alexander Xaver Gwerder). Wer kann gebieten den Vögeln (Goethe). Da es dunkelt, da es feuchtet (Wilhelm Lehmann). Schneefall, dichter und dichter (Paul Celan). Nun die Bäume wieder Blüten schnein (Villon). Die Hecken klirren (Siegfried Lang). Komm, wir gehen, du und ich (T.S. Eliot). Es kommen härtere Tage (Ingeborg Bachmann).


    unaufhörlich begegnen sich in den gegeneinander bewegten strömen dieselben gesichter (Helmut Heissenbüttel). Die Menschen stehen vorwärts in den Strassen (Georg Heym). Die Faulen werden geschlachtet (Erich Fried). Achtung wir senden den Lachmöwenschrei (Günter Bruno Fuchs). Er liebte sie in aller Stille (Wilhelm Busch). Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt (Erich Kästner). "tut mir doch die fahne aus dem gesicht, sie kitzelt" (Hans Magnus Enzensberger).
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    Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verlässt (Trakl). Der erste Tag im Monat Mai (Friedrich von Hagedorn). Schon, horch, hörst du der ersten Harken Arbeit, - wieder den menschlichen Takt in der verhaltenen Stille (Rilke). "mehr weiss niemand, die disteln gehn rückwärts" (Franz Mon). Drei Nächte geflochten aus deinem Leib (Boletaw Taborski).
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    Es schwamm der Mond in mein Gemach herein (Villon). Doch im Blauen eine weisse Taube (Josef Weinheber). In diesem Land kommt auf zwei Männer eine Zigarette (T.S. Eliot). Die Zeitung nehmen sie in die Finger wie Brei (Julian Tuwim). Geboren hat mich ein zwanzigjähriges Mädchen (Hans Egon Holthusen). Ach und weh! Mord! Zeter! Jammer! Angst! Pech! Polter! Folter! Henker! Geister! Kälte! Zagen! (Andreas Gryphius). In unseren Augenwimpern wimpern Widerhaken (Heike Doutiné).

    "Verteidigung der Poesie" ist ein Buch von Johanners R. Becher. Daraus zog ich folgendes Zitat - - "Manche Gedichte reichen nicht über den Anfang hinaus; vielleicht wird in einem späteren Gedicht das Gedicht ganz da sein . . . Oder das Gedicht verbirgt sich im Gedicht irgendwo in der oder jener Zeile; zwischen den Zeilen ist fühlbar eine poetische Substanz enthalten, aber sie bleibt unausgenutzt und wird nicht durch die Gestaltung in Freiheit gesetzt. Der Dichter arbeitet sich bis zu dieser Stelle vor, dichtet daran herum, dichtet eng daran vorbei und darüber hinweg; aber das eigentlich Dichterische in seinem Gedicht entdeckt er nicht; weiterdichtend entfernt er sich von der Stelle, wo in unmittelbarer Nähe das Dichterische verborgen lag.“

    Writer’s-Writer’s Writer
    Offenbar geht es bei dem Begriff um Schriftsteller, die besonders von der eigenen Zunft geschätzt werden, weniger aber (oder gar nicht) vom Publikum. Hier ein Beispiel, dass ganz Berühmte Henry Green den besten Romanschreiber seiner Generation nannten, - aber Erfolge bei den Lesern hatte er nicht.
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    Henry Green occupies a special but somewhat puzzling place in the history of modern English fiction. That his real name was Henry Yorke is symbolic of the general elusiveness of his literary identity. He seems to stand to one side of his fictional oeuvre, smiling enigmatically and challenging us to put a label, and a value, on it. He has been called a “writer’s writer,” and even, according to Terry Southern, “a writer’s-writer’s writer.” W. H. Auden, Eudora Welty, V. S. Pritchett, Rebecca West, and John Updike have all described him, at various times, and in various ways, as the finest novelist of his generation, yet he never enjoyed either the commercial success or the literary fame of contemporaries such as Evelyn Waugh, Graham Greene, and Christopher Isherwood.

    Inzwischen ist Zeit vergangen. Im Internet sind viele neue Texte zu Hölderlin verfügbar. Auch ganze Dissertationen. Gerne tausche ich mich euch darüber aus. Ich werde hier einige Aspekte und Links bringen. Auf bald!

    Joseph Brodsky. "Sie haben ja gar keine fachliche Ausbildung als Dichter" haben die Sowjets zu ihm gesagt. 'Dichter macht der Himmel, der liebe Gott', hat er geantwortet.
    Brodsky: 'Wie kommt man gute Literatur? Das Gedicht ist die beste Kompaßnadel. Nur extreme Subjektivität, Überempfindlichkeit und Vorurteile helfen, die Klischees zu vermeiden. Je mehr man Lyrik liest, desto unduldsamer wird man für jede Art von Weitschweifigkeit. Die Lyrik ist ein großer Zuchtmeister der Prosa. Sie lehrt sie nicht nur den Wert jedes einzelnen Wortes sondern auch die quecksilbrigen Denkmuster ihrer Gattung, Alternativen zur linearen Komposition, den Kniff, das Selbstverständliche wegzulassen, die Betonung des Details, die Technik der Antiklimax. Vor allem aber bringt die Lyrik in der Prosa jenen Appetit für das Metaphysische hervor.'

    Dies könnte ein Band einer vollständigen Ausgabe sein, bei http://www.amazon.de
    THE WORKS OF EDGAR ALLAN POE: VOLUME IV. von Edgar Allan (edit Edmund Clarence Stedman & George Edward Woodberry). Poe von Lawrence & Bullen (Unbekannter Einband - 1. Januar 1895)
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    Paula Becker-Modersohn
    Warum ich mich so auf sie zentriere? Man muß sich wundern, warum es die anderen auch alle tun. Es ist das Geheimnis der Wirkungsgeschichte. Und: Warum der eine Erfolg hat und der andere nicht. Die Optik, die Perspektive, die Blickrichtung: Wie wollen wir es nennen?


    Wer soll die "Hauptperson" sein, dass fragt man sich wohl oft auch in einem größeren Familienverband. Im Falle Paulas fällt auf, dass die jüngere Schwester Herma hochbegabt, hochintelligent ist. Herma klagt manchmal, wieviel Geduld sie aufbringen muß, wenn sie Paula als Modell dient. Angenommen nun, Hermas Talente, Lebens- und Kunstziele wären noch weitaus zugespitzter und vielversprechender als Paulas Begabung und Paulas Ziele? Hinsichtlich Paulas Kunstbeflissenheit, ihres Arbeitseifer, ihrer Intensität sprach die Familie von "Paulas Marotte". Es ist total unzulässig, auf das Jahr 1907 mit unseren Augen zu blicken. Man hat Hinweise - und dafür sprechen die Belege, die man nicht vernichtet hat - dass Paula regelrecht kaputt gemacht oder künstlerisch zu Tode "gehetzt" worden ist.


    Also nochmals: Paula oder Herma? Es ist ja Eigensinn, wenn eine junge Frau so handelt wie Paula es tat. Und ihre Kunst war eine Nervenkunst. Wie viele schrecken auch heute noch vor dieser Kunst zurück. Paula führt uns, wie Nietzsche, oft in die "Höhle hinter der Höhle".


    Und hier kann ich Ihnen erklären, warum mich die Figur Paula so fesselt. Weil keiner begriff, warum jemand so "verbohrt", so "versessen" und besessen sein kein kann, - bei der Herstellung von Weltausschnitten, Fenstern, die ihm nichts einbringen? Materiell schon gar nicht. Im Gegenteil. Man hat Ausgaben. Und den Hohn, die Verspottung erntet man außerdem.


    "Befremdendes" gab es bei Paula genug. Ihre Lachseite zum Beispiel. Ihr Stolz und ihre spitze Zunge, ihr "Ausnutzen" - alles war recht kraß. Paula hatte Übermut, einen fast schizoiden Schalk, sie hatte Veränderungslust und Verknüpfungszauber. Es gab Taktlosigkeiten, wechselnde Bewußtseinzustände, negative Durchhänger und dann wieder Schübe voll Feuer, Kraft, und Dral l....
    Paula ist manches Mal exzessiv, exaltierend, ungesteuert und ungehemmt.
    Paula erntete Kritik öffentlich und privat.


    Zeitungs-Kritik:
    «ihre Arbeiten sind "befremdend", [..] es gibt den Gegenständen etwas Unstoffliches, Gemauertes. Tritt uns als ungesund oder als Manier entgegen. [Anna Götze im Bremer Courier]

    Ich bin lange nicht hiergewesen. Hier ein neuer Ansatz. - Brief an die Isar


    Um die Ecke denken. Das Gegenstrebige Heraklits. Der griechische Handwerker. Ausgewogene Spannung der Gegensätze. Nichts limonadenhaftes.
    In den Zeiten wo das Geschwätz an der Tagesordnung ist, sind Gedichte wie Kraftkugeln, in denen es vibriert, funkelt und summt.
    Im bedrängten Munde die Zunge. Immer wieder klingt der Schlag der Uhr hinein – und so verbringst du deine kurzen Tage – das Stundenglas, der Sand, der fällt, der Wimpernschlag, der die Sekunde teilt.
    Es sind auch Notizen aus dem Erdreich, so der Titel eines Gedichts.
    Hier nun aber einige Beobachtungen, die ich gemacht habe. Sie sind nicht so ernst zu nehmen, denn es sind „Einfühlungen“, keine nachprüfbaren Dinge. Ich will Ihnen keineswegs Konkurrenz machen. Ich gehe ja auch von meiner Eefahrung mit Texten und Menschen aus. Und ich benutze meine „Nase“.
    Ihr Brief besticht durch eine Diszipliniertheit beim Formulieren. Ganz ungewöhnlich wirkt dann der Gegensatz, - Sie schreiben anschließend aufgelockert, einmal auch putzig, und salopp („sonst fasle ich noch Seiten weiter“).
    Ich gewinne den Eindruck, dass Sie sich klar ausdrücken und auch im täglichen Leben klare Entscheidungen fällen. Halbheiten sind Ihnen zuwider. Fühlen Sie sich „angefahren“, so wird es bitterer Ernst.
    Jede Bemerkung zu einem Menschen, die ein Rat sein könnte, muß sehr behutsam ausgesprochen werden; dabei ist auch zu bedenken, dass der Sprecher selber ein Mensch ist, der mancher Hilfe bedarf, der nicht frei ist von Anerkennungswünschen, ja, der vielleicht sogar „in der Tinte sitzt“. Und während ich dies schreibe, geht mein Blick immer wieder zu dem Gedicht „Die unvollkommene Vollkommenheit“. Hierzu fallen mir Ihre Worte ein, - man kann seine Schrift nicht verstellen. Kann man denn einen Wesenszug, den man hat, ändern? Ich glaube, es sind nur kleine Kurskorrekturen möglich, - unsere Eigenart kommt immer wieder durch, so wie die Kompassnadel nach Norden schwingt. Sie sehen, - ich bin bei den Inhalten. Wer pferfekt seinen Koffer packt, seine Zeilen aufs Papier bringt, wer exakt denkt, - für den ist doch schon von Bedeutung, wie sein Nebenan, wie sein Gegenüber ist. Denn meine Zuwendung, wenn ich das Absolute liebe, wird die nicht auch absolut sein – und meinen Partner möglicherweise überfordern?


    Alles dies sind Gedanken-Angebote. Aber eine Aussage will ich wagen. Ich fürchte, Sie haben zuweilen das Problem, entweder folgerichtig, sehr genau – oder aber spontan zu sein. Sind wir spontan, so wagen wir es, dass unser Handeln sehr rasch abläuft. Wie leicht geraten wir schnell dorthin, wo wir uns nie sehen wollten. Ihr Originalton, - „küsst sie kess aufs Knie, aufs Kinn, auf den Kopf“.


    Nun bitte ich Sie aber von Herzen um eins, - nehmen Sie diesen „Zwischenbrief“ als Dank und sehen Sie darin keine Besserwisserei und nicht Neunmalkluges. Denn natürlich taste ich mich voran, und der Kaninchenhügel ist wohl das Sprechende an diesem Bief, - plötzlich ist da eine Idee, mit einem Mal ist da eine Stimme, die einem etwas gibt, die einem etwas sagt, - bleiben Sie nicht mit kalten Händen stehen, wenn der Schnee mit kleinen festen Flocken den Münchener Hauptbahnhof zuweht und die Stadt fast ohne Licht ist, weil unablässig die weißen Bausch-Bällchen, die jetzt dicker werden und pluschiger, treiben. Sondern blicken Sie nach oben, wo etwas Helle ist, die uns das Leben leichter macht: Erwartung, ein Streifen Hoffnung, so dass wir wissen, dass es weitergeht, während, mit zwei ganz kalten Händen, das Pochen unsres Herzens bleibt.
    Gruß an die Isar

    WER WAR FRANZ SCHUBERT?
    [Zitate aus Paul Stefan, Marcel Schneider]


    Schuberts Lyrismus
    Dieser unschuldige, dieser kindliche Mensch, der selbst dann noch in den Wolken schwebt, wenn er Essen in sich hineinstopft oder sich betrinkt: Er gehört nicht auf diese Welt. Die Musik sprudelt aus ihm heraus, als sei er nichts als ein Filter. Die Musik bemächtigt sich seiner, wie ein Geist von einem Medium Besitz ergreift.


    Kraft und Wille?
    Er träumt. Er träumt sein Leben, er träumt die Welt, träumt sich selbst. Er sucht nicht seiner Umgebung das Merkmal seiner Persönlichkeit oder der Zeit die Spur seines Daseins aufzuprägen: dafür fehlen ihm Dynamik und Machtwille. Er will gar nicht "wichtig" sein: vor allem will er seinem Traum von der Musik keine Hindernisse errichten.


    Einer, der keinen Neid erzeugt
    Schubert war naiv. Er rechnete nicht mit der Gleichgültigkeit des Publikums. Er rechnete nicht mit dem Neid, auch nicht mit der Feigheit und Leichtfertigkeit der anderen. Sie alle waren nur zu sehr darauf bedacht, Schubert im dunkeln zu lassen, in der Dunkelheit, darin Schubert sich begnügte zu leben und niemanden weiter störte. Wenn man zuweilen, auf Bitten seiner Freunde, etwas von ihm spielte, dann deshalb, weil man von diesem friedfertigen Träumer nichts zu fürchten hatte...


    Doppelsinn
    Schuberts Lyrismus ist unbefangen und bewußt zugleich, instinktiv aber auch klar geformt. Ein Lyrismus, der selbst in aller strahlenden Freude sich noch eine geheime Verwundbarkeit bewahrt. Schubert bringt die Essenz des Doppelsinnigen in uns und unserem Dasein auf Erden zum Ausdruck. Schuberts verwundbare Seele prägt seine Musik. In ihr sagt er offen heraus, wie es in ihm aussieht.


    Magnetische Zustände
    Caroline Pichler schrieb später: "Das, was Schubert aus der Tiefe seines Gefühls hervorgeströmt hatte, ein sehr schön komponiertes Lied, das kannte er nicht mehr, als man es ihm wenige Wochen später zeigte. So bewußtlos, so unwillkürlich ist dieses Hervorbringen, und man kann nicht umhin, hier an magnetische Zustände und jene geheimnisvollen Fähigkeiten der Psyche zu denken, die in ihr verschlossen und zusammengewickelt liegen, wie die Schmetterlingsflügel in der Puppe, bis sie einst, wenn die Puppe zerbrochen wird, sich entfalten dürfen."


    Das Eigene nicht wiedererkennen
    Über diesen MAGNETISMUS sprach Vogl, Schuberts Sänger, von einer Art "Hellsehen", als Schubert das eigene Lied, als er es mehrere Tage nach der Niederschrift bei einer Probe mit Vogl hörte, nicht wiedererkannte. Schuberts Eingebungen waren in der Tat die eines Visionärs. Die Ausführung geschah allerdings in der Arbeit eines genialisch wachen Bewußtseins. Vogl nannte Schuberts Lied-Vertonungen "göttliche Eingebungen". Es waren für ihn "Hervorbringungen einer musikalischen »clairvoyance«. Vogl bedauert, daß es in Wien keine brauchbare Singschule gab: Was müßten sonst Schuberts Lieder für allgemein ungeheure Wirkung machen. Wie viele hätten, schreibt er, "zum ersten Mal begriffen, was es sagen will: Sprache, Dichtung in Tönen, Worte in Harmonien, in Musik gekleidete Gedanken."


    Magnetismus, Zauberei
    Schuberts Flucht in den Traum vollzieht sich mitunter, ohne daß er sich dessen bewußt war. Er erlebte die großen Augenblicke seines künstlerischen Daseins: Man hat von Halluzination, von Persönlichkeitsspaltung und von Somnambulismus gesprochen. Es war nicht er, sonder ein anderer, es war ein zweites Ich, das von ihm Besitz ergriff, das sein genialischer Dämon war, Doppelgänger und Fremder zugleich. Spaun beschreibt in seinen Erinnerungen den Zustand der Halluzination, in dem sich Schubert befand, als sein Dämon (dem Phänomen der Kristallisation vergleichbar, ihm den Erlkönig eingab.


    Kind und Riese zugleich
    Er ist naiv. Er läßt die Dinge treiben. Seine Güte und seine Liebenswürdigkeit haben ihm in dieser Welt genau so viel geschadet wie seine Nachlässigkeit. - Nietzsche zitierte an Carl Spitteler ein Urteil über (den nach der Körperlänge 152 cm messenden) Franz Schubert: "Schubert ist ein Riese; aber er hatte keine Idee von seinen Dimensionen und seiner Kraft; ein Riese, der im Grase liegt, mit Kindern spielt und sich selbst für ein Kind hält." Schubert war in der Tat "naiv". Die Braut des Malers Kuppelwieser schreibt nach Rom: "Schubert und Schwind leben in einer offenen Feindschaft mit Bruchmann. Sie kommen mir beide vor wie Kinder."


    Was tut die Welt für die Sonderbegabung?
    Einer Begabung treu zu sein, heißt: auf Vieles verzichten. Seine Kraft bündeln. Es bedarf schon einer sehr starken Willenskraft, sich niemals um eine amtliche Stellung zu bewerben.


    Wie motiviere ich die Umwelt?
    Schubert wußte, daß er als Mann nicht viel galt. Aber er hoffte, daß die gebildeten Menschen seiner Zeit sich schon noch erwärmen und unter der lächerlichen Hülle das Genie erkennen würden.


    Was wußten Musik-Profis, Zeitgenossen?
    Was sagte die Fachwelt über Schuberts Kompositionen? Nichts. Musikalische Dilettanten wußten eher Bescheid um Schubert als sie.


    Zwei Unzugängliche in Wien
    Allerdings: Beethoven wußte, wer Schubert war: »wahrlich, in diesem Schubert steckt ein göttlicher Funke!» Schubert aber hatte eine Scheu vor der menschlich-wirklichen Berührung mit seinem Ideal. Die Art des ewig verwundeten Schubert... Im April 1822 wurde das Schubert-Opus 10 gedruckt: Vierhändige Variationen, Beethoven gewidmet. Schubert trug das Heft selber in Beethovens Wohnung. Doch sein Abgott war nicht zuhause. Schubert übergab den Notendruck einer Dienstperson. Beethoven hat dann mit seinem Neffen die Variationen oft und oft gespielt. Es ist vielleicht wienerisch, wenn Schubert klagte, Beethoven sei "unnahbar" gewesen - während man, (die Konversationshefte geben darüber Zeugnis), dem nachfragenden Beethoven sagte, daß Schubert "sich verstecke".


    Schubert, der ideale Spielmann
    Nietzsche in "Der Wanderer und sein Schatten" (155.): "Franz Schubert, ein geringerer Artist als die andern großen Musiker, hatte doch von Allen den größten Erfahrungsreichtum an Musik. Er verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen: sodaß die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu zehren haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von unverbrauchten Erfindungen; Andere werden ihre Größe im Verbrauchen haben. - Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heißen."


    Ratschläge der musikalischen Gesellschaft
    Den Zeitgenossen war bei Schuberts Musik gar nicht immer "heimlich" zumute. Als Leopold Sonnleithner der "Gesellschaft" wieder einmal einen Chor von Schubert zur Aufführung vorschlug, hält der Sitzungsbericht der "Gesellschaft" fest: "Es ist zu wünschen, daß die angesagten Stücke des schätzbaren Herrn Schubert nicht zu düster seien." - Schubert zu Bauernfeld: "Kennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht."


    Sein Herz entblößen
    Es genügt ja schon, sein Herz zu entblößen und niemand versteht uns mehr. Als Schubert im Herbst 1827 seinen Freunden die "Winterreise" vorsang: Da waren die Freunde befremdet. Wie einsam mußte sich Schubert selbst unter denen gefühlt haben, die ihn doch am meisten liebten.


    Gemächliche Ruhe
    Schuberts schmerzlich-süße, diese dunkle, melancholische, ja tragische Musik steht so ganz im Gegensatz zu dem anspruchslosen, in ruhigen Bahnen verlaufenden Leben des Musikers. Sein ganzes Wesen, sein Hang zu Freundschaft und Geselligkeit, seine gemächliche Ruhe lassen uns ein liebenswürdiges, durchscheinendes Werk von echt wienerischer Leichtigkeit erwarten. Statt dessen bietet Schubert der Nachwelt eine beunruhigende, eine erhabene Schöpfung. Sie ruft in uns ein unbestimmbares Heimweh wach. Nach dem verlorenen Paradies oder einer anderen Welt. Was sich der Analyse entzieht, was sich weder von der Zeit noch vom Milieu ableiten läßt: das ist es, was ihm als so ganz eigenes zugehört.


    Am Rande des Abgrunds
    Wie im Volkslied und in aller Sprache der Natur fließen in Schuberts Musik Lust und Trauer ununterscheidbar zusammen. Sie bewegt sich am Rand des Abgrunds, ohne je in ihn hinabzustürzen.- "welche Schönheit über der Tiefe der Todestrauer schweben kann!" (Walter Muschg).


    Längen bei Schubert?
    Schubert war ein lyrisches Talent. Er war kein Baumeister. So sind seine Bühnenwerke eher verfehlt. Und Nietzsche konnte sagen: "Die lange c-Dur Symphonie von Schubert ist langweilig, weil die einzelnen Sätze nur scheinbar im Ganzen, in Wahrheit nur im Kleinen, Einzelnen, ihre Berechtigung haben." Soweit Nietzsche. Auch Strawinsky hat zu den Längen in der Musik Schuberts etwas gesagt. Als man fragte, ob ihn die Längen nicht einschläferten, da antwortete Strawinsky: "Was tut's, wenn ich mich beim Erwachen im Paradies wähne?"


    Schuberts Musik beschwört den Himmel
    Wäre Franz Seraph (der Engelhafte) jemals nach Italien gekommen, ihn hätte, gleich uns, ein Gemälde Giovanni di Paolos in der Akademie der Schönen Künste zu Siena sehr beeindruckt: Er hätte das Paradies so geschaut, wie er es immer erträumte.


    Der Schlafwandler
    In seiner Arbeitszeit ist Schubert mit seinem Genius allein, auf einer Ebene, von der sich die Übrigen fernhalten. Schubert tritt aus sich heraus: in dieser zweifachen Gestalt erst wird er in den Augen der Nachwelt er selbst. Seine Freunde nahmen diesen Wandel Schuberts mit betroffener Bewunderung, ja mit Bestürzung war: "Wer ihn nur einmal an einem Vormittag gesehen hat, während er komponierte, glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit einer anderen Sprache, einem Somnambulen ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen."


    Schubert: ein lieber Luftikus?
    Es gibt wienerische Wortklischees, Phrasen, wie das Gerede vom »gleichtmütigen Meisterlein Schubert« Er birgt, verbirgt alle Tragik Wiens, dieser Stätte seines Wirkens, die Tragik einer tief weltschmerzlichen Zeit, Tragik der eigenen Persönlichkeit, die in unablässigem Künstlerringen Höchstes begehrt und sich doch wohl zeitlebens früher Nacht und der Nachtseite aller Dinge nahe weiß. Blieb die eine sehnsuchtsdunkle Symphonie, blieb dieses ganze Leben unvollendet. ? Vielleicht war selbst das nur Schein vor dem höheren Sinn eines Schicksals.


    Schubert: der Dümmliche?
    Anton Ottenwalt über Schubert in Linz: "Wie er von Kunst sprach, von Poesie, von seiner Jugend, von Freunden und anderen bedeutenden Menschen, vom Verhältnis des Ideals zum Leben: - Ich mußte immer mehr erstaunen über diesen Geist, dem man nachsagte, seine Kunstleistung sei so unbewußt, ihm selbst oft kaum offenbar und verständlich...." Gewiß hat dieser Anton Ottenwalt von Schubert mehr geahnt als alle, die uns den gemütlichen, dumm vor sich hinschreibenden und zufällig von einem Einbläser verzauberten Schulmeister und Heurigentrinker beschert haben.


    Der Schubertkreis
    Die Bekannten und Freunde waren geistig angeregte Menschen, in Beziehung zu jeder Art Gesellschaft und zu allem Leben ihrer Zeit. Sie waren meist jung, froh, zukunftsgläubig, bewegt und bewegend. Eine Bohème, die sich nicht aufgab. Viele waren schon in Beamten-Rangklassen eingeteilt oder hatten doch ein reiches Leben noch vor sich. Wurde ein Neuer in den Kreis gebracht, so fragte Schubert kurz, sehr bezeichnend: »Kann er was?« Das bedeutete: Hat er, beiläufig, ein Recht, hier zu sein? Sich von den Banalen fernhalten: So kann man es nennen. Und die übrigen im Kreis? Schubert klagt (an Schober, der in der Fremde ist): Was soll uns eine Reihe von ganz gewöhnlichen Studenten und Beamten? Stundenlang hört man nur von Reiten und Fechten, Pferden und Hunden reden.


    Kein Freund der Anpassung
    Als einige Freunde fortgehen und es auch sonst Änderungen gibt, schreibt Schubert tadelnd über den Freund Bruchmann: "Er scheint sich in die Formen der Welt zu schmiegen, und schon dadurch verliert er seinen Nimbus, der meines Erachtens nur in diesem beharrlichen Hintanhalten aller Weltgeschäfte bestand."


    Schubert: anspruchslos?
    An den Freund Josef, der gerade von Linz wegversetzt worden war, schreibt Schubert: "Da sitz ich in Linz und schwitze mich halbtot in der schändlichen Hitz, habe ein ganzes Heft neuer Lieder und Du bist nicht da! Schämst Du Dich nicht? Linz ist ohne Dich wie ein Leib ohne Seele, oder wie ein Reiter ohne Kopf, wie eine Suppe ohne Salz. Wenn nicht der Jägermeyer so gutes Bier hätte und auf dem Schloßberg ein passabler Wein zu haben wäre, so müßte ich mich auf der Promenade aufhängen, mit der Überschrift: »Aus Schmerz über die entflohene Linzer-Seele«.....überhaupt ist es ein wahres Elend, wie jetzt überall alles zur faden Prosa sich verknöchert, wie die meisten Leute dabei ruhig zusehen oder sich gar wohl dabei befinden, wie sie ganz gemächlich über den Schlamm in den Abgrund glitschen. Aufwärts geht's freilich schwerer; und doch wäre dies Gesindel leicht zu Paaren zu treiben, wenn nur von oben aus etwas geschähe."


    Österreich schläft
    Keine Angst, es geschieht nichts. Österreich schläft. Stille. Ermüdung nach einem Stück Weltgeschichte: nach Napoleon. Schubert, der doch gesagt hatte: "Mich soll der Staat erhalten. Ich bin für nichts als das Komponieren auf die Welt gekommen..." - Österreich rührte für Schubert keinen Finger.


    Das Gegengewicht gegen den Bruder Lustig.
    Schubert trank, er verbrüderte sich. Er konnte nicht ohne Freunde und ihre Lustigkeit leben. Aber seine Unzugänglichkeit im Eigentlichsten und seine Schwermut nahmen zu. "Seine schroffe Weise," schrieb der Jugendfreund Holzapfel an Span, "kommt ihm sehr zustatten. Die Schubert näher kannten, wissen, wie tief ihn seine Schöpfungen ergriffen und wie er sie in Schmerzen geboren hat".


    Die Schatten wachsen
    1824 war Schuberts Krankheit ernster geworden. Seine Schwermut wuchs und bekam etwas Hoffnungsloses. Schubert schrieb an Kuppelwieser: "Denke Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr recht werden will und der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht..." - Schatten legen sich von nun an über Schuberts Leben, das an Wonnen und Erhebungen ohnehin so arm war. Nie mehr bricht das alte Licht in seinem Glanz durch. Nur Freundschaft, heitere Natur, Glück im Schaffen lassen ihn vergessen und froher sein. Vielleicht sucht er nun auch mehr die Wirkung des Weins, der sein schlecht genährter Körper jedesmal rasch erliegt. Er war kein Trinker, aber er geriet in Trunkenheit, nicht nur in geistigen Rausch. Teilnahmslosigkeit und menschliche Dummheit, Gemeinheit der "realen" Welt gegen den Künstler: das waren die durchaus nicht geheimnisvollen Mitursachen seiner letzten Leiden.


    Der Tod und das Mädchen
    1825, bei der Jahres-Schlußfeier des Kreises, war Schubert nicht dabei. Er war krank, konnte aber zwei Wochen später an einem "Würstel-Ball", den Schober gab, erscheinen. - oder vielmehr: er mußte Walzer spielen. Das war, die ganze Nacht hindurch, eine rechte Plage, aber da er weder tanzte noch verliebt war, fügte er sich gern. Wiederum zwei Wochen später wurde Schuberts Streichquartett in d-Moll "Der Tod und das Mädchen" vor Freunden aufgeführt. Wer so ein Werk geschrieben hatte, gehörte nicht mehr ganz dieser Erde an. Wie lange konnte er noch unter Menschen, unter Menschen seiner Zeit, einhergehen? - Denn diese Musik, lange unverstanden, war erst nach Jahrzehnten dann plötzlich Gegenwart.


    Dämonen, schwarze Flügel
    Bauernfeld schrieb: "In Schubert schlummerte eine Doppelnatur. Kam der österreichische Charakter .. derb und sinnlich .. bisweilen allzu stürmisch zur Erscheinung, so drängte sich zeitweise ein Dämon der Trauer und Melancholie mit schwarzen Flügeln in seine Nähe - freilich kein völlig böser Geist, der in dunklen Wegstunden oft die schmerzlich schönsten Lieder hervorrief."


    Die letzten Monate
    Schuberts letzte Zeit: Äußerste Not, Krankheit, Vereinsamung dieses freundschaftssüchtigen Menschen. Er führt wieder ein Tagebuch. Zum Papier sprach Schubert nur, wenn er nicht zu Menschen reden konnte. Schubert schrieb ins Tagebuch: Ich hasse die Einseitigkeit jener Elenden, die glauben, nur eben das, was sie treiben, sei das Beste, alles übrige aber sei nichts.


    Schubert über »Nähe«
    "Keiner, der den Schmerz des andern und keiner, der die Freude des andern versteht! Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander. O Qual für den, der dies erkennt! Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden. Jene [Erzeugnisse], welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen."


    Aufbruch: Die Schläfer verlassen
    Thomas Mann nannte "Die Winterreise" den schönsten Lieder-Zyklus der Welt. In der Radio-Auswahl seiner Lieblingsmusik brachte Thomas Mann Schuberts "Im Dorfe": Dieser Wandernde im nächtlich ruhenden Dorf ("Ich bin zu Ende mit allen Träumen / Was soll ich unter den Schläfern säumen?" ) ......


    Ein unerfülltes Leben?
    Grillparzer, der in seinem Grabspruch für Schubert von unerfüllten Hoffnungen sprach, ahnte nicht, daß gerade die in den letzten beiden Lebensjahren geschriebenen Werke Schuberts Ruhm in den Augen der Nachwelt begründen sollten. Moritz von Schwind, Schuberts Freund, schrieb später: "Je mehr ich jetzt einsehe, was er war, je mehr sehe ich ein, was er gelitten hat."


    Staunen und Zweifel: Ungläubigkeit
    Als Schubert tot war und bei Diabelli & Co aus dem Nachlaß nicht weniger als 50 Lieferungen erschienen, da wurden Zweifel laut: Ob es überhaupt möglich sei, daß ein Mensch von 31 Jahren das alles komponiert habe. Und die C-Dur-Symphonie war nicht darunter. Sie wurde erst später von Robert Schumann ausgegraben.


    Genius der Tonkunst
    »Der absolute Musiker Schubert ist nicht unvollendet. Er ist nicht Nachzügler oder Vorbereiter, sondern Vollender. Seine Vollkommenheit tritt fast unvermittelt ans Licht. Keine persönliche Entwicklung führt organisch zu dieser Vollkommenheit hin. Auch dies gehört zum Wunderhaften und rational Unerklärlichen seiner Erscheinung, daß Schubert nicht will und strebt und wählt, sondern gleichsam erwählt wird: Erwählt vom Genius der Tonkunst selbst, die nun in ihm aussingt als eigentlichste, als reinste, als weitgesuchte und doch nie gefundene Musik.« (Richard Benz)


    FAZIT zum Phänomen Schubert
    Bei Schubert, wie der englische Forscher George Growe es aussprach, bei Schubert sind wir der Musik näher als irgend sonst. - Und: was sprach Schubert einmal, beiläufig. vor sich hin: "Mir kommt es manchmal vor, als gehörte ich gar nicht in diese Welt."


    Z u s a t z
    Rumpelstilzchen
    Die Gestalt »Rumpelstilzchen«, dieser hochbegabte Behinderte, läßt an Hemingway denken und seine story "DER SIEGER GEHT LEER AUS". Und Nietzsche sprach gar davon: »dem Siege davon- und dem Verhängnis in den Rachen laufen«.


    Conrad Ferdinand Meyer
    war ein Künstler der Absonderung, der wie Flaubert in der kühlen Abgeschlossenheit eines wohlhabenden Privatmannes hauste. Conrad Ferdinand mußte alle Kraft aufbieten, um sein inneres Zerwürfnis mit der Umwelt zu ertragen und das Gesicht zu wahren [Nietzsche: »je mehr Geist, desto mehr Leid«]. Conrad Ferdinands Schwester erzählt, ihr Bruder, schon berühmt geworden, ein Sonderling, habe in seinen glücklichsten Momenten, wenn er sich unbeobachtet glaubte, leise vor sich hingesungen: »Oh wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß!«


    Jakob Burckhardt und "Aufgesparte Jugend": So nannte Jakob Burckhard, was die Künstler "geben". Paul Valéry meinte: Werke beginnen nach dem Tod des Künstlers zu wirken und zu leuchten aus Gründen, die der Urheber gar nicht beabsichtigt hat.


    Fazit: Das Genie sagt mehr, als es vermeinte. Es spricht nicht für "heute", sondern für »lange Zeiten«, Menschen nennen es EWIGKEIT. Und oft spricht ein Künstler aus, was ihm selbst kaum bewußt war. Der Künstler macht seine Person im Werk überflüssig.

    Mich begeistert, was Robert Walser in 'Die Kneipe' [ VIII 126 ] schreibt, wie er das gewisse Etwas bringt -
    Da saß aber noch eine Frau, die sozusagen betrunken war, die einen Körper von auffallendem Umfang besaß, den sie aber so schnell hin und her warf, dass man glauben möchte, es sei alles an ihr Gummi.

    Was ist wo in Worpswede?
    In einem Zeitungsladen, bei dem es sich aber, wie ich später las, um die renommierte Buchhandlung Netzel handelt, fanden wir einen "Führer" durch Worpswede. Wir hatten schon das Straßenschild "Im Schluh" gesehen, allerdings war das "L" weggekratzt, so dass es "Im Schuh" hieß. Wir machten uns, an der Hauptkreuzung an der Straße sitzend, in Angelos Garten, bei Apfelkuchen mit Zimt, erst einmal ortsschlau über das berühmteste und älteste Kunstdorf der Welt. "Bei Angelo" - heute ein ital. Spaghetti- und Pizza-Restaurant hat noch ein altes Emailleschild am Strohdach "Stadt Bremen", und als solcher wird der Gasthof auch in den alten Rilke-, Vogeler-, Modersohn-Texten erwähnt.


    Wo ist der Zauber?
    Wo einst ein Liebesfest im Bild festgehalten wurde, in Worpswede, wo Clara die Paula im Boot über die Hemme staakte, da deckt jetzt Asphalt die Flure(n) und sie feiern "100 Jahre Worpswede". Auch Paula Becker, zeitweise verheiratete Modersohn, wird mit zwei Vorträgen - im Rathaus und anderswo - bedacht. Ach, zwei Zeilen Paulas wecken uns da so richtig auf: 1.12.00 an Rilke. "Und sonst? Ich habe einen großen Strauß herbstlicher, weißer Beeren vor mir auf dem Tisch, von jenen, die Knall sagen, wenn man auf sie tritt."


    Rilke und Worpswede
    Rilke ließ sich, lange nach Worpswede, im schweren Automobil der Gräfin Thurn-und Taxis-Hohenlose von Paris an die österreicheische Adriaküste chauffieren, zum Schloß Duino. Dort sah er über die Brüstung gebeugt im Garten den Arbeitenden zu und fühlte sich «im Sog» zu ihnen hin- und hinuntergezogen: wie einer, der etwas schuldig ist, zu tun und mitzutun. Derselbe Rilke hat in so krasser und verblüffender Weise andere Dinge getan, die ihn unter die "ersten Menschen" seiner Zeit reihen. Er hat wie einer, der nicht ganz dicht ist, sich Rodin und Cézanne geöffnet. Und vorher hat er in der Reihe Knackfuß Worpswede eine Monographie gewidmet, von der der Paula Becker sagte: Im Grunde sind die doch alle viel einfacher!


    Wer zählt in Worpswede?
    Die meisten kommen wegen der toten Künstler. Das, was heute in Worpswede entsteht, beachten sie nicht. 100 Jahre Worpswede: Welch ein Aufschwung damals. Eine Goldmedaille in München. Otto Modersohn war eine Berühmtheit, als Paula ihn kennenlernte. Und als alles vorüber war mit der ersten Künstlergruppe in Worpswede, da sagte Overbeck zu Otto Modersohn: "Aus uns allen ist doch nichts geworden außer Deiner Frau."


    Unser Worpswede-Besuch
    Wir hatten diese Stationen: Höttgers Café Worpswede, die große Roselius-Kunstschau, die Lindenallee, der Barkenhoff, am Brünjes Hof vorbei und durch den Schluh, Teufelsmoor. Zweiter Tag: Frühstück, Weyerberg, Paulas Grab, Zionskirche, Alte Meierei, ein Architekt plant, ich kaufe ein Bild. Der Bahnhof (von Vogeler entworfen). Neu-Helgoland, die Hamme. Teufelsmoor.


    Wir gehen durch Worpswede
    100 Jahre Worpswede, und überall Autoverkehr, asphaltierte Straßen und, erstmal loslaufend, sahen wir nur Parkplätze für Busse, eine Zentraltoilette, ziemlich öde Kneipen, Klimper-Pimper-Läden auf Touristengeschmack getrimmt... Aber dann das Café Worpswede, auch «Café Verrückt» genannt, das gefiel uns gut in seinen bizarren Formen, Schwung im Dach, und selbst die Türdrücker ein Augen- und Handfühl-Schmaus. Wir hatten uns ja gerade in "Stadt Bremen", jetzt Angelo, gestärkt. Also gingen wir zuerst nebenan in die Kunstschau ins Roselius-Haus.


    [ 1 ] Kaffee HAG und die Musen
    Roselius, reicher Kaffeehändler in Bremen, hatte für seine herzkranke Frau den koffein-freien Kaffee erfunden und viel Geld damit verdient. Ähnlich wie der Keks-Bahlsen in Hannover, der dort eine «TET-Stadt» (durch Hoetger) bauen wollte, wollte Roselius eine "HAG-Stadt" bauen. Daraus wurde nichts, aber er baute in Bremen mit Hoetger die Böttcherstraße mit dem Paula-Modersohn-Becker-Haus. Roselius ist Paula persönlich noch begegnet, aber sie machte keinen besonderen Eindruck auf ihn.


    [ 2 ] Bilder: lauter Fenster ins Eigenste
    Wir gehen durch die reich behängten Räume. Es lohnt sich. Man hat nicht damit gerechnet und ist ganz benommen vom Schauen, Genießen und erfüllt vom Wunsch: wiederzukommen. Werde ich mich mit meiner Studie zu Paulas Eigenart zu den "Verzerrern" gesellen? Oder mich an die Reihe derer anschließen, die Paula für ihre Ziele, Zwecke und Wünsche ausgenutzt haben? Es geht ums Zentral-Thema: Was kann der Einzelne tun? Wozu sind wir da, auf der Welt? - Paulas Bilder gehen über die Realität hinaus. Was Paula anzieht, nennt sie am 10.12.97 "etwas Magisches, was mich beim Malen in schnellen zarten Gefühlsschwingungen vibrieren läßt".


    [ 3 ] Paulas Bilder: Ungewöhnlich, bis ins Extreme
    Da sind Menschen und Dinge in Paulas Bildern, die uns erschrecken. Sie verließ in Worpswede und in Paris die ausgetretenen Pfade. - Paulas malerische Ziele sind oft bizarr. Wiederholt fordert sie, das "Vibrierende" der Haut darzustellen, "das Krause in sich". Paula ist radikal. Sie folgte jenem Cézanne, der gesagt hatte: "Die Geschicklichkeit, man muß sie brechen. Sie ist der Tod der Kunst".


    [ 4 ] Paulas malerische Eigenart
    Ihre Identität: Was tat sie, um sich zu "kennen"? An Otto: "Ich weiß nicht, ob ich kompliziert bin. Und wenn ich es wäre, müßte ich wohl so sein. Und dann würde ich Kompliziertsein auch keinen Fehler nennen." - Sie malte viel. Zwingend, zwanghaft, besessen, im Arbeitsrausch. Sie rauht durch krasse Pinselführung die Oberfläche der Bilder auf, um den stofflichen Charakter der Dinge und Menschen herauszuarbeiten: eben jenes "leichte Vibrieren der Dinge". Sie wählt den Blick so, dass die Objekte in Bewegung scheinen: nach vorn kippen.


    [ 5 ] Paulas "Schnürchen"
    Um ein Gefühl "in seiner ganzen Stärke zum Ausdruck zu bringen", muß man, schreibt Paula am 18. Februar 1903, "alle Mittel am Schnürchen haben: die Technik, die Farbei, die große Form" ... "Technik unmittelbar im Dienste des Ausdrucks".


    [ 6 ] Das «KRAUSE IN SICH», das Leben
    Otto Stelzher "Die bewegte, pastose Oberfläche behält zwar den materiellen Reiz des Farbpigments, der dem Auge sinnlichen Genuß gewährt, sie bedeutet aber mehr als das, sie wird zum Sinnbild für die Bewegtheit des Lebens überhaupt." Paula lernt, sagt sie, von Rembrandts Bildern, "wenn sie auch gelb sind von Firnis, trotzdem viel von ihnen, das Krause in sich, das Leben".


    [ 7 ] Clara Rilke-Westhoffs Bildhauer-Arbeiten
    Wir sahen Arbeiten Claras: Rilke, Paula. Gerda Becker in der "Alten Meierei" erzählte uns von Clara, die sie noch gekannt hatte. Wie souverän sie war. Andererseits ihr Hang zur Mystik und zu einer amerikanischen Sekte. Ihr Rodin-Vortrag: sehr tastend, sehr unselbständig.


    Der Barkenhoff
    Weiter oben in Richtung auf den Weyerberg fanden wir Landschaft. Auf der Lindenallee konnten wir uns den Reiz der Gegend vorstellen. Am Ende der Lindenallee hielt ein Touristen-Bus, wir gingen hinter der Gruppe her, immer bergab durch die Büsche: und landeten vor dem Barkenhoff! Sehr schöne Präsentation im Erdgeschoß, auch die alte Druckerpresse stand dort, um die es dann noch Streit gegeben hat zwischen den Malern, sogar vor Gericht. Überhaupt war das eine zänkische und widersprüchliche Gruppe damals in Worpswede.


    Der "WEISSE SAAL" im Barkenhoff
    Uns kommt in Worpswede vieles recht "eigenartig", sonderbar und von bremischer und torfmoor-eigensinniger Färbung mit dem Zug ins Dröhnbüddelige und Verbohrt-Dumpfe vor. Nur durch Zufall finden wir im Barkenhoff die Treppe nach oben. Kein Hinweis, auch oben nicht, dass es sich um den "Weißen Saal" handelt, wo Rilke gelesen hat, vor Vogeler, Paula und Clara. Wo Paulas Schwester gesungen hat. Die nette junge Frau unten am Empfang entschuldigend: "Der weiße Saal ist erst vor acht Wochen mit einem Konzert eingeweiht worden!" - Im weißen Saal im Jahr 1900 erlebten "die sechs" festliche Stunden, einen Aufbruch. Später heißt es in Paulas Brief an Clara Westhoff: "Geht denn das Leben nicht, wie wir sechs es uns einst dachten?"


    Rilke und der Barkenhoff
    2.Oktober 1900, Rilke: "Wie schön wurden die Mädchen, als sie immer noch im Schatten meiner Worte inmitten des vielen Lichtes saßen, sinnend mit allen Linien ihrer weißen Gestalt, wie Reflexe, die aus Himmeln auf ein dunkles Wasser fallen...Später trat ich in meinem roten Gewand mit roten Schuhen unter sie und blieb später im russischen Hamd mit den kasanschen Stiefeln unter ihnen. So begleitete ich sie alle auch in die Diele herab, wo jemand aussprach, dass wir zwei Sonntage uns nicht zusammenfinden würden."


    Sternstunden in Worpswede
    27. September 1900, Rilke: "Zwei Dinge sind gewiß: ich muß viel von diesen Menschen lernen, aufmerksam sein und wach sein und dankbarer sein gegen alle Umgebung.... wie lieben sie mich hier. Wie gut war unsere Gemeinsamkeit in Hamburg.... ihr Frohester zu sein und der Lebendigste unter ihnen. Alle Kräfte steigen in mir. Alles Leben versammelt sich in meiner Stimme."


    Paulas Atelier bei Brünjes
    Wir gingen nur vorbei. Dort sprach Rilke mit Paula, die sich beim Bauern eingerichtet hatte: "4. Oktober 1900: Gestern war ein reicher Abend im Atelier mit den Lilien. Ich las, und anschließend daran waren gute Gespräche." Und "29. September 1909. Später war ich bei der blonden Malerin, die mich wie einen alten Freund empfing. Wir hatten uns seit Hamburg nicht gesehen, es war also viel nachzuholen."


    Das Dröge in Worpswede
    Ja, im Barkenhoff (und auch sonst) ist ein Zug ins Derbe, Dröge und Beknackte. Den schönen Garten sahen wir aus dem 1. Stock, aus dem "Weißen Saal. Aber was war denn das? Die lieben Worpsweder haben die Gartenwege des Barkenhoffs kreuz-quer überall verhängt und überspannt mit Plastikstreifen, deren Signalfarben nun mit ihrem Idioten-rot die Blumen überkreischen. Begründung: Die Streifen hindern die Besucher daran, den Garten zu betreten! In der Art finden wir noch vieles, kopfschüttelnd.


    Paulas Grab: fast zugewachsen
    und nicht zu finden. Keine Hinweisschilder, nicht nur hier fehlen sie. Ach ja, Paula, wie schrieb sie doch damals in einem Brief aus Worpswede: "Ich glaube, ich werde mich von hier fortentwickeln." Sie hat nicht das Grab bekommen, dass sie sich gewünscht hat: "wie ich es mir anders denke...Es sei ein viereckig längliches Beet mit weißen Nelken umpflanzt. Darum läuft ein kleiner sanfter Kiesweg..." [Tgb, 24.02.1902]


    Lichtwirkungen und Zauber
    Paula: -"...Meine Augen, die sich vor der Sonnenheiligkeit ganz geschlossen hatten, lüfteten sich auf Augenblicke.." - "Ich träumte im Wachen und sah wie aus einem zweiten Leben meinem Leben zu." Tb 29.5.02 Rilke: "Dann war Abend und Abschied. Der Abend ist immer groß, wenn ich aus diesem Hause komme. Ganz glashell steht der schlanke Mondanfang im gelben, bernsteinfarbigen Himmel. Schwarz ist der Wald, und seine Kühle geht ohne Wind über den Weg und in die Wiesen, die an den Wassern liegen. Dort sind die Laubbäume schon leerer, und aller Raum ist gewachsen. Mit weichen Konturen stehen die Dinge vor der Ebene, wie viele Inseln in dämmernder Luft."


    Wo sind die Hamme-Wiesen?
    Wir fanden Sie durch Zufall. Eigentlich wollten wir nur in das Gasthaus "Neu Helgoland". Es ist alles ziemlich trockengelegt und "zugebuttert" in dieser früher anziehenden und ins Unheimliche taumelnden Landschaft, wo die Hamme einst die Wiesen überflutete.


    Wo ist eine Ecke Moor?
    Noch schwerer war es, ein Stück Teufelsmoor zu finden, wo noch Torf gestochen wird. Wir schafften es am zweiten Tag mit viel List. Wir nahmen die kleinste Straße, die abbog, und dort hielten wir fleißig die Augen offen. Weit ab vom Weg leuchteten in der Höhe Umrisse von so etwas wie Torfsoden, die in der Sonne trockneten! - Wir fragten uns auch, wie es hier im Winter sein wird. Und ob man hier leben möchte.


    In Worpswede überwintern?
    Rilke wollte es: "Ich will Herbst haben. Ich will mich mit Winter bedecken und will mit keiner Farbe mich verraten. Ich will einschneien um eines kommenden Frühlings willen, damit, was in mir keimt, nicht zu früh aus den Furchen steige."

    Goethe riet, älterwerdend, sein Eigenes nicht zu beschneiden, sondern es noch zu steigern. Nietzsche, wie sein Freund Overbeck bezeugt, ist mit seiner seelischen und geistigen Gesundheit nicht behutsam umgegangen, sondern er hat seine 'Wahnsinns-Vorräte' sorgsam gehütet und sogar noch Zweiglein aufs Feuer gelegt. :rollen:

    Bei Jane Austen (EMMA) fiel mir auf, dass, wenn man die Heldin des Romans mit der Autorin gleichsetzt, es im Geschehen und in der Psychologie immer wieder zu einer Patt-Situation kommt. Fäden werden kunstvoll geknüpft. Sobald es "zum Schwur" kommt, geht das Erzählte in Leere. Liebenswert - und schade!

    Manchmal könnte man meinen, Shakespeare wäre super-modern, z.B. sein "all your yesterdays".
    "Abused her delicate youth with drugs or minerals" Titus Andr. 1.1.154


    Oder sein Schneemann - Mocking king of snow
    A muse of fire to ascend the brightest heaven of invention, Henry V, Eröffnung durch den Chor
    His thinkings are below the moon, H8, 3.2.134
    Being but a moonish youth (be changeable), AYL 3.2.410
    The capacity of your soft cheveril conscience would receive if you might please to stretch it
    (etwa - schenkt euch eure Gefühlsbedenklichkeit, dann würde euer süßes Breitbandgewissen nur gewinnen, wenn es euch nur gefiele, es zu strecken).

    Ich springe einfach mal in meinen Hinführungstext zu "Die ZimtZieg", Roman, Wiesenburg Verlag 1999, hinein.
    Was will DELTA?
    Ich erzähle das alles wegen der Aktion, die man mit uns veranstaltet. Ich fürchte mich. Denn für uns ist der Ansturm der Dinge aufdringlich und angstmachend. Wir haben keine Kraft der Abgrenzung, wir Leute mit dem Gefühl für Lücke. Uns fehlen die Wände. Wir, die wir nicht dicht halten, verströmen uns.
    .
    Aber, was noch schlimmer ist, in den, der nicht ganz dicht ist, in den laufen die anderen hinein wie ein sirupartiger Saft, der alles verklebt und besetzt. Und dann sind andere in uns Zuhause und nicht wir selbst. Wie das vor sich geht und mit welchen Folgen, das wurde mir auf der Insel klar. Die Leute von DELTA laden uns erst ein und bedüsen uns mit ihrem ganzen REISE-ins-ICH-Programm. Wir sollen auf der Insel aber gerade dieses eigene Ich verlieren. Ihnen gefällt nicht, wie anders, wie bizarr, wie komisch, wie einzelgängerisch wir sind. Wir, die Exzentriker, sind ihr Auslöschprogramm. DELTA ist das große Gummi, das uns wegradiert. Die Krümel, die wir nun sind, wischen die einfach vom Tisch wie nix. Frauen und Männer am Wendepunkt. Sie treffen sich zu einem Seminar. Ort: Insel vor Afrika. Thema: Die Reise ins Ich. Veranstalter: DELTA, eine obskure Organisation. Hat weitreichenden Einfluß. Verfügt über schier unbegrenzte Mittel. Ziele sind etwas unklar. Dr. Gudrun Brisewind, die nüchterne Berichterstatterin, hielt nichts von dem im Seminar kursierenden Gerücht. Es ging darum, daß DELTA mit hohem Aufwand und technischer Perfektion die Höhlen unter der künstlichen LICHT-Terrasse ausgebaut hatte. Gab es eine Vernetzung zu den Schaltstellen der Industrie-Nationen? Strebte DELTA auf lange Zeit an, die weltregierung zu übernehmen?
    .
    Der Roman hat nicht die Tendenz, das Innenleben einer Sekte darzustellen. Auch eine belehrende Wirkung ist nicht beabsichtigt. Lebensrisse, Todesbedrohungen und Endzeit-Ängste werden am Ende stehen gelassen. Sie werden nicht „verstärkt“, nicht erklärt, nicht „gelöst“.
    .
    Von vielen Dingen, die auf der Insel vor Afrika passierten, gibt es zwar Zeitungsmeldungen und Schilderungen der Betroffenen. Sogar einen Videofilm besitzen wir. Und lieferte den Bericht, der die entscheidenden Einblicke liefert, eine unscheinbare Frau. Es handelt sich um Dr. Gudrun Briesewind. Sie war es auch, der jener Priester, halb im Hotelzimmer, halb auf dem Balkon im Schatten der Palmen, das schauerliche Geständnis machte. Für Beichten fühlte sich Gudrun, die bestechend klar denkende und formulierende Wissenschaftlerin nicht zuständig. Auch nicht gewappnet. Ihr Feld war die Meteorologie. Auf der Vulkan-Insel hatte sie sich fachlichen Zuwachs an Wissen erwartet. Aber doch nicht diesen Skandal. Ein Priester mit nicht vollständigem Testikel. Von ihm sagte Nike auf Anhieb, dem fehlt etwas im Schritt. Ich sah es sofort. Wozu habe ich Herrenschneiderin gelernt?
    .
    In Bayern, in Bad Kissingen, gibt es eine Fachklinik "Heiligenfeld", wo sie ungefähr alles das machen, was die obskure Frauen-Gruppe DELTA auf der Vulkan-Insel im Psycho-Seminar anstellt. Ich war bass erstaunt, mein Buch war fertig gedruckt, und da kam es übers Radio. Seelen-Massage, Matratzenlager, Selbst-Enthüllungen (Outing), jeden Tag ein Seelen-Spruch als Geleit, ziemlich nervig. Dort werden Gottsucher geheilt und Sektenopfer. Ganz ähnlich wie in meiner ZimtZiege.
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    Mein Roman hat so einige Seiten-Lichter, da klingt Schelling an, da blitzt Ken Wilber herein.
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    Jeder Mensch erfindet sich selbst und seinen Lebenslauf so wie man eine Geschichte erfindet. So gibt es Familiengeschichten und Völkergeschichten. Dies ist ein Räucher-Roman. Es geht um Dinge, die aufsteigen, die duften, die Wirkung haben.
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    Die ZimtZiege ist ein Buch der Spiritualität geworden, in einer Weise. Nun bin nicht ich es, als Mensch und als Schreibender, der einen Platz (oder Rang) beansprucht, sondern die ZimtZiege stellt sich dem Markt. Quasi mein Weg von mir selbst weg hin zur Versachlichung. - - Ich hatte auf der Vulkan-Insel Siddharta von Hermann Hesse dabei. Ich entdeckte, dass Hesse vieles ausspricht, was auch mein kleiner Roman enthält. Das STIRB und WERDE. Zugrundegehen und wieder auferstehen. Die Sündenopfer der Menschen. Der Sündenbock , The Scape Goat, DIE ZimtZiege.
    .
    Wer beschreibt mein Erstaunen, als vor auf Lanzarote der Buchhändler mir einen Band aus dem Aurum-Verlag Freiburg in die Hand drückt. Ich zitiere.
    "Der einzelne Mensch ist eine Öffnung, durch die die ganze Energie des Universums sich ihrer selbst bewußt wird, - ein Wirbel von Schwingungen, durch den sie sich selbst verwirklicht "
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