Beiträge von klassikfreund

    Gestern war ich bei Reinhard Kaiser-Mühlecker (RKM), der aus seinem neuen Roman "Enteignung" las. Es gibt wohl kaum einen deutschen Gegenwartsautor, der empfindsamer wirkt als er. Und auch seine Bücher haben einen Ton, der an Stifter erinnert. Handke hat gesagt, RKM sei zwischen Stifter und Hamsun zu stellen. Insbesondere bei der Lesung des Autors mit seiner nicht sonderlich festen Stimme wirken einige Sätze so, als würden sie gleich wie Glas zerspringen. Dabei kommt RKM aus einem österreichischen, ländlichem Umfeld mit bäuerlichem Biobetrieb der Eltern. Und Landwirtschaft hat er selbst studiert. Dieses Umfeld wird auch für seine Bücher gewählt, aber es ist eben nur das äußere Umfeld. Sein Buch Enteignung beschreibt einen Protagonisten, der weltläufig ist und eben dadurch keine echten Ziele mehr hat. Er ist Journalist und wird in diese Kleinstadt vom Autor hineingesetzt. RKM versteht es, Leerräume zu lassen, damit die Phantasie des Lesers weiterspinnen darf. Eine kleine Anmerkung, ein Halbsatz, das ist magisch. Die Sprache ist sehr einfach, es sind oft knappe Sätze, dann auch mal wieder längere mit Adjektiven versehene Beschreibungen, die ihre Wirkung entfalten.

    In den nächsten Wochen/Monaten stehen einige interessante Lesungen an:

    Reinhard Kaiser-Mühlecker

    Günter Kunert

    Julian Barnes

    Herta Müller

    William Boyd

    Ales Steger

    Ingo Schulze / Esther Kinsky

    Feridun Zaimoglu

    Siri Hustvedt

    Pierre Lemaitre

    Alex Capus

    Bernhard Schlink

    Christopher Clark

    Maria Stepanova

    Donna Leon

    Nora Bossong

    Jetzt lese ich den im letzten Jahr erschienen Roman von Nino Haratischwili "Die Katze und der General". Ich war aufgrund der verhaltenen Kritiken etwas skeptisch, aber bislang (nach 100 Seiten) gefällt mir das Buch richtig gut. Dazu mag auch beitragen, dass ich die Autorin im Januar bei einer Lesung gehört habe und sie sehr sympathisch fand.

    Ich war nun auch auf einer Lesung der Autorin, die zwei Lesepassagen fand ich durchaus ansprechend. Im großen Forum wird das Buch (durchaus gut begründet) von Morwen zerrissen. Schreib doch mal ein paar Zeilen dazu, was die Autorin gut kann.


    Gruß, Thomas

    Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie gerade die Lektüre der Texte von Houellebecq ein Trost sein kann.

    Zitat Seite 9: "Zwei junge Frauen um die zwanzig stiegen aus, und selbst aus der Entfernung war zu erkennen , dass sie hinreißend aussahen; ich hatte in letzter Zeit vergessen, wie hinreißend Frauen sein konnten, ...."


    Da höre ich jede Menge Schmerz beim Ich-Erzähler heraus, aber eben auf eine Weise, dass man gern weiterlesen will. Dieser eine Satz spannt schon den ganzen Roman auf. Wir müssen Bücher ja nicht auf gleiche Weise lesen.

    Ich lese gerade den Sonderband von Text + Kritik über "Gelesene Literatur - Populäre Lektüre im Medienwandel" mit einer Vielzahl einzelner Beiträge, die sich mit dem Leseverhalten in der heutigen Zeit beschäftigen. Ausgangspunkt ist die im Sommer 2018 veröffentlichte Studie "Buchkäufer - Quo vadis?", die feststellt, dass immer mehr Erwachsene mit einer stabilen Lesebiografie in der Mitte ihres Lebens den Kontakt zum Medium Buch vollständig verlieren. Einige Beiträge beschäftigen sich direkt mit diesem Phänomen, die meisten beleuchten jedoch das Leseverhalten insgesamt. Mark-Georg Dehrmann untersucht beispielsweise, warum Dan Browns Bücher so erfolgreich sind und erläutert dabei, wie Brown die reale Welt (Kunstwerke, Plätze, Orte etc.) mit Fiktion verknüpft, so dass nach "The Da Vinci Code" (dt. "Sakrileg") eine ganze Reihe von Sekundärliteratur entsteht, die dem Wahrheitsgehalt der aufgestellten Thesen auf den Grund gehen. Man nennt die verwendete Technik "Referenzeffekt". So reisen nicht wenige Leute an die Schauplätze der von Brown verarbeiteten Orte. Brown hat diese Technik keinesfalls erfunden, nur perfektioniert, schon bei Doyle findet man im Sherlock Holmes die gleiche Verknüpfung von Wirklichkeit und Fiktion. Hirschi untersucht, warum "große Männerbücher", das sind populärwissenschaftliche, dicke geschichtliche Wälzer wie Christopher Clarks "Die Schlafwandler" so erfolgreich sind. Interessante Einsichten in das Verlagswesen werden hier präsentiert, da die Verlage große Honorare zahlen, die u.U. nicht mehr eingespielt werden. Sandra Kegel und Jürgen Kaube von der FAZ werden interviewt und unterhalten sich über die eingangs erwähnte Studie. In der knappen Zeit der Lebensmitte gibt es für den Leser zu wenig Orientierung. Wenn es eben zehn Bestsellerlisten gibt und auf jeder stehen andere Titel, dann ist man so schlau wie zuvor. Man muss also als Leser nach wie vor Eigeninitiative aufbringen, auszuwählen. Genau diese Eigeninitiative, die ja im Beruf ebenfalls ständig gefordert und dort auch aufgebracht wird, können sie - warum auch immer - für die Lektüreauswahl nicht mehr aufbringen. Einige Beiträge setzen sich mit der Literaturkritik im Netz, auch in Foren, auseinander. Julika Griem setzt sich mit konkurriendem Zeit-Regime am Beispiel von dicken Gegenwartsromanen auseinander, Thomas Steinfeld beleuchtet David Foster Wallace und die Selbstoptimierungsindustrie. Die Geschichte von Homo Faber als Longseller wird ebenfalls in einem Beitrag dargestellt. Es gibt zudem Beiträge über den Erfolg von Lyrics, Groschenheften und Graphic Novels. Tilman Spreckelsen sieht Grimms Märchen als Inspiration für die Bücher von Cornelia Funke, Henning Ahrens und Karen Duve.


    Die Lektüre ist ein bibliomanes Vergnügen. Jedoch nicht ganz preiswert. 39 Euro. 283 Seiten.