Lord Jim. Diogenes-Taschenbuch, detebe 66/I.
Keine Inhaltsangabe, wer die will, findet sie auch anderswo. Aber das nimmt der Lektüre doch die ganze Spannung :zwinker:
Wie der Autor im Vorwort zu einer späteren Ausgabe, 1917, schreibt, entstand der Roman aus einer geplanten Kurzgeschichte. (Falls das nicht eine Fiktion ist.) Er ist, grob formal, zweigeteilt; der erste Teil behandelt enthält die Episode des "Pilgerschiffs", der zweite die Fortsetzung im - fiktiven - Land Patusan.
Tatsächlich ist es wesentlich komplexer.
Nach einem quasi einleitenden Text des Autors, der uns Jim vorstellt, setzt mitten in der Pilgerschiff-Episode die umfangreiche Erzählung Marlows (the one from "Heart of Darkness") ein, die bis weit in den Patusan-Teil reicht.
Eingeführt wird er mit einem schönen Kunstgriff; er ist einer der Zuhörer in dem Gerichtssaal, wo gegen die Besatzung der "Patna" verhandelt wird.
Den Abschluss bildet eine "Rekonstruktion" aus Dokumenten, die Marlow einem Mitglied seiner Zuhörer-Runde schickt. Und auch Marlows lange Erzählung ist vielfach aufgelockert und unterbrochen durch wieder andere Erzählungen beteiligter Personen. Durch dieses nicht-linerare Erzählen bleibt's immer spannend.
Stilistisch gehört das fraglos zu den besten Romanen, die ich gelesen habe.
Es ist die Geschichte eines einfachen Mannes ohne übermäßige Gaben, der einen Fehler macht, und vor diesem und seinem durch diesen Fehler entstandenen Ruf davonläuft. Bis er, unterstützt durch Marlow, der versucht, Jims Lebensweg eine Wende zum Besseren zu geben, die Chance zu einem Neuanfang bekommt, in einem Land, in dem ihn niemand (er)kennen kann.
Eine Möglichkeit, Utopia zu verwirklichen? Auch dort lauern Gefahren ...
Eines der Themen benennt Conrad im Vorwort: "Jedenfalls würde kein romantisches Temperament etwas Morbides in dem durchdringenden Bewußtsein verlorener Ehre entdecken". Jim, der ehrlos geworden ist, jagt dieser Ehre hinterher.
Ein Heimatloser, Getriebener.
Und er ist, wie uns Conrad - Marlow - Stein mehrfach mitteilen, romantisch.
Was Mr. Conrads Vorstellung von Romantik war, weiß ich (bisher) nicht, aber man mag es sehen in der Suche nach etwas, das sich erzeugt aus grundlegenden, in seinem Werk immer wieder thematisierten Werten: Ehre, Männlichkeit, Mut, zu-sich-stehen. Und, zweimal im Roman so aufgeschrieben: "Das war der Weg. Dem Traum folgen, und abermals dem Traum folgen - und so - in alle Ewigkeit - usque ad finem ..." Stein in den Mund gelegt, einer der zentralen Personen in Marlows Erzählung.
Jim war "einer von uns", auch diese Charakterisierung mehrfach wiederholt. Was es bedeutet, bleibt mir fraglich. Es muss nicht so offensichtlich sein, wie im Patusan-Teil, wo festgestellt wird: Dain Waris, Jims Freund, ist einer von ihnen (den Malaien) und Jim einer von uns - den Weißen also. Jim kann auch einer von uns Sinnsuchern sein, von uns, die wir einmal feige gehandelt haben, von uns Träumern, von uns - Menschen.
Ein Unterschied zu Almayer (ich las den Roman vorher) liegt darin, dass Jim immerhin seinen Träumen nachjagt, anstatt in der Passivität zu verharren.
Conrad bringt es fertig, einen Abenteuerroman zu schreiben, in dem die Personen zugleich Ideenträger sind. Und in dem weitaus mehr steckt, als das bisschen, was ich jetzt aufgeschrieben habe.
Highly recommended!