Hrm, eine gute Auflistung von (freiwillig) Leidenden, aber sind das auch Beispiele für (künstlerisch) schöpferische Leiden? Ich weiß nicht, ob Wittgenstein mit der Ablehnung seines Erbteils beabsichtigt hat, dadurch kreativer zu werden. Und litt er überhaupt darunter?
Mir fiele als Ur-Vieh des Leidens der Hl. Antonius ein, der sich freiwillig in die Wüste zurückzog, um dort den Herrn zu finden. Und damit das Leiden. Von ihm ausgehend die Säulenheiligen und alles, was in diese Richtung geht. Eigentlich müsste man bei den Leidensfreudigen noch weiter zurückgehen auf die Märtyrer, tja und im Grunde auf Jesus daselbst, der seine Kreuzigung mehr oder weniger freiwillig auf sich nahm.
Georg Büchner soll auf dem Sterbelager diese Worte gesprochen haben:
"Wir haben der Schmerzen nicht zuviel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein."
Scardanelli -
Gerade diese These machte mich zuerst sehr nachdenklich. Es scheint beim Lesen der Expressionisten und der Moderne (wir Sir Thomas erwähnte) augenscheinlich, dass diese Dichter viel Schmerz verspürten. Sogar Morgensterns Tagebücher ("Stufen") sind tieftraurig. Ich nehme an, dass das meiste Leid von den politischen Umständen herrühren, mit dem langsamen Untergang der Monarchie, mit der mehr oder weniger spürbaren Verachtung des Individuums usw., doch sollte man wohl zur genauen Analyse gute Geschichtskenntnisse besitzen. Wenn ich aber weiter gehe, so frage ich mich doch: Entstanden "Wilhelm Meister Lehrjahre", um bei Goethe zu bleiben, aus Schmerz? Oder die Gessner'schen Idyllen? Gessner selbst hatte ein so idyllisches Leben! Freilich haben bestimmt viele Idylliker wie Voß ihre paradiesischen Zustände als bewussten Kontrast zur miserablen Wirklichkeit dargestellt; aber wie muss das bei Gessner gewesen sein? Er scheint nicht sehr gelitten zu haben.
Da fällt mir was sehr Gutes ein. Ich meine mich zu erinnern, dass Schiller die literarische Arbeit psychologisch analysiert hat, nämlich in Über naive und sentimentalische Dichtung. Auch das sollte ich irgendwann lesen. Setzt sich Schiller darin mit diesem Thema auch genauer auseinander?
Und ... verzeiht meine unerträglichen Assoziationen, aber noch etwas fällt mir von Clemens Brentano ein, der ein wenig betrübt darüber war, dass seine Bekannte Karoline von Günderrode Gedichte schrieb:
"Traurig werde ich oft, wenn ich einen neuen Schriftsteller auftreten sehe, denn es ist ein Beweis, daß die Menschen keine Freunde mehr haben, und jeder sich an das Publikum wenden muß."
Gruß