Und weiter gehts mit Material zu Philoktet:
Ich kann wirklich nur empfehlen, dieses Werk kennenzulernen. Es ist ein großartiges Alterswerk des Sophokles, zeitlos und sehr intensiv. Wer mal eine "Katharsis" durch ein Sophokles-Werk erlebt hat, der weiß, wovon ich spreche.
Auf der homepage des "Theater des Wandels" habe ich folgende Beschreibung einer Aufführung gefunden:
Die Geschichte des Philoktet wurde bereits von den beiden Tragikern Aischylos und Euripides in zwei nicht erhaltenen Tragödien behandelt. Sophokles greift den Stoff 20 Jahre später als Euripides auf: Er macht Lemnos zu einer unbewohnten Insel auf der Philoktet, als kranker Mann, ausgesetzt, abseits jeder Zivilisation sein Schicksal erträgt. Folgend der Sage kommt dann auch bei Sophokles das Orakel ins Spiel; Odysseus bietet sich an, diese Aufgabe von „höchster staatlicher Priorität“ zu übernehmen.
Sophokles bringt jetzt eine neue Figur ins Spiel „Neoptolemos“, Sohn des Achill: Ein junger Mann der sich in seinem Wesen der Aufrichtigkeit und der Wahrheit verpflichtet fühlt, gleichzeitig voller Tatendrang, die Anerkennung der Gesellschaft suchend.
Neoptolemos ist in gewissem Sinn der Schlüssel des Odysseus zu „Philoktet und seinem Bogen“. Odysseus weiß, daß er Philoktet, den er vor Jahren auf der Insel zurückließ, nicht ohne Todesgefahr gegenübertreten kann. Er bedient sich des Neoptolemos und einer Intrige – Odysseus nennt es „List“ um sein Ziel zu erreichen.
Neoptolemos widerstrebt es „das Vertrauen“ des Philoktet mit Hilfe einer Geschichte „zu gewinnen“, die sinngemäß sagt „auch ich wurde von Odysseus betrogen“, um in den Besitz des Bogens zu gelangen. Doch letztendlich willigt er ein; die Versprechung des Odysseus man werde ihn „mutig“ und „scharfsinnig“ nennen, und der Hinweis auf die höchste staatliche Priorität haben gewirkt. Neoptolemos trifft auf Philoktet, dieser ist zuerst mißtrauisch, freut sich dann aber, bis jetzt abgeschieden von jeder sozialen Gemeinschaft, endlich wieder mit einem Menschen sprechen zu können. Philoktet erzählt Neoptolemos seine Leidensgeschichte und nun ist die Zeit reif für die „List“ des Odysseus. Neoptolomos erfüllt den Auftrag „gewinne sein Vertrauen“ ist aber gleichzeitig zunehmend berührt von jenem leidenden Mann, der ihm sein Vertrauen schenkt.
Gleichzeitig nützt Sophokles den Dialog, in den die Intrige eingesponnen ist, um mit seiner Gesellschaft ins Gericht zu gehen. Eine degenerierte Form der Rhetorik gewann in dieser Zeit zunehmend die Oberhand. Dem Wahrheitsgehalt und Wert eines Arguments wurde immer weniger Bedeutung zugemessen; vielmehr ging es darum die Argumente des „Gegners“ außer Kraft zu setzen, ohne auf diese wirklich einzugehen. „Argumente würden nicht helfen, nicht mehr als Gewalt“ sagt Odysseus in der ersten Szene. Philoktet vertraut dem jungen Mann und in ihm keimt die Hoffnung, daß er ihn auf sein Schiff nehmen und ihn heim nach Thessalien bringen werde. Als sich beide bereit machen zu gehen, überkommen Philoktet starke Schmerzen, er übergibt Neoptolemos den Bogen, und schläft, völlig erschöpft, ein. Neoptolemos ist am Ziel, in seiner Hand der Bogen; doch bereits jetzt beginnt er zu zweifeln.
Philoktet erwacht: entgegen seiner Erfahrung vor Jahren, als Odysseus und seine Schiffsmannschaft ihn auf Lemnos zurückließen, ist Neoptolemos bei ihm geblieben. Seine Freude ist groß und er glaubt, daß ihn der junge Mann, dem er vertraut, in seine Heimat bringen werde. Als sie aufbrechen kann Neoptolemos, gepackt von Zweifeln, das Ziel ihrer Reise nicht mehr verheimlichen. Den Bogen in der Hand gesteht er Philoktet, daß sie nach Troja fahren werden. Philoktet ist wütend und verzweifelt. Ohne Bogen, völlig wehrlos, appelliert er an das Gewissen des jungen Mannes ihm den Bogen zurückzugeben. Odysseus erscheint: jener Mann der ihn vor Jahren auf dieser Insel zurückließ. Philoktet steht seinem Feind, ohne Bogen völlig ausgeliefert, gegenüber; in dieser Situation hat er nur eine „Waffe“, die der „Wahrhaftigkeit“ und der „Moral“ und mit dieser versucht er Neoptolemos an seiner Redlichkeit „zu packen“. Sophokles nützt dieses Aufeinandertreffen, die Anklagerede des Philoktet gegen Odysseus, für eine geradezu „beißende Kritik“ an der Gesellschaft.
Als Odysseus erkennt, daß ihm Philoktet nur Schwierigkeiten bereitet, der Bogen in ihren Händen ist, gehen sie, und lassen den verzweifelten Philoktet (erneut) zurück. Aber die „Waffe“ des Philoktet, seine Rede gegen Odysseus, hat gewirkt: Neoptolemos, gemeinsam mit Odysseus auf dem Weg zum Schiff, entscheidet sich, Philoktet den Bogen zurückzugeben. Odysseus droht Neoptolemos „das ist Verrat an deinem Land“, aber weder Zuspruch noch Drohung zeigen Wirkung. Der junge Mann bringt Philoktet, der zuerst mißtrauisch reagiert, seinen Bogen zurück. Im Augenblick der Übergabe betritt Odysseus noch einmal die Szene und versucht mit Hinweis auf die staatliche Priorität dieses zu verhindern. Doch Philoktet hat bereits den Bogen und zielt sofort auf ihn. Nur das Eingreifen des Neoptolemos verhindert den Schuß auf Odysseus, der sofort verschwindet. Neoptolemos weiß, daß auch er jetzt von der Gesellschaft ausgeschlossen ist; er versucht Philoktet zu überzeugen, er möge doch „freiwillig“ mit ihm nach Troja kommen. Doch dieser lehnt ab: er wurde bereits einmal instrumentalisiert. Er versucht Neoptolemos zu überzeugen, ihn „heim“ nach Thessalien zu bringen.
An diesem Punkt endet der heutige Theaterabend. Sophokles löste diese „heillos verfahrene“ Situation durch den Auftritt eines Deus ex Machina: Herakles, Mensch zum Gott geworden, Freund des Philoktet, der ihm den Bogen vererbte, befiehlt Philoktet nach Troja zu fahren und die Schlacht zu gewinnen. Doch brauchen wir Menschen einen Herakles um diese Situation lösen zu können?
Diese letzte Frage ist sehr interessant und im übertragenen Sinne von großer Wichtigkeit. Ich schätze Sophokles sehr, da er "ewige" Themen auf die Bühne gebracht hat. Dennoch ändert sich die Menschheit über die Jahrhunderte. Brauchen wir immer noch den "deus ex machina", können wir inzwischen selbst große Konflikte lösen?
Aus dem Reclam-Schauspielführer::
Ein ergreifendes Drama, das nicht nur in der Zeichnung der Charaktere meisterhaft gearbeitet ist, sondern erstmals in der Gestalt des Neoptolemos einen Charakter in der Entwicklung zeigt. In den Konflikt gestellt zwischen Staatsinteressen, die Odysseus vertritt, und menschlichem Mitgefühl, das das Schicksal des Philoktet ihm erweckt, ringt sich Neoptolemos, ein geistiger Bruder der Antigone, ganz zu reiner Menschlichkeit durch. Das Erscheinen des Herakles als „deus ex machina“ am Schluß des Werkes wirkt auf uns als äußeres Dazwischentreten, doch war es für den Griechen Ausdruck der Gebundenheit des irdischen Geschehens an den Willen der Götter, wie sie in der Sage vom Fall Trojas vorgebildet war.
Aus dem Harenberg-Schauspielführer:
Bereits Aischylos und Euripides hatten die aus Homers „Ilias“ bekannte Leidensgeschichte des Philoktet dramatisiert. Ihre Werke sind jedoch nicht überliefert. Typisch für Sophokles, den Verfasser der dritten Version, ist die Gegenüberstellung von drei scharf profilierten Repräsentanten sehr unterschiedlicher Charaktereigenschaften und Verhaltensmöglichkeiten: Auf der einen Seite Odysseus, der politisch versierte Pragmatiker, daneben Philoktet, der aus der Gesellschaft ausgestoßene Held, der als „antiker Robinson“ auch im größten Elend Stärke zeigt, und Neoptolemos, der Heranreifende, der sich für Betrug oder Aufrichtigkeit, Befehlsausführung oder Mitleid entscheiden muß.
Das deutschsprachige Publikum lernte „Philoktet“ 1968 in Heiner Müllers sehr eigenständigen Version kennen. In seinem Lehrstück über Lüge und Betrug als ganz normal brutale Staatsaktion wird sogar der edle Neoptolemos zum Handlanger der politischen Infamie, indem er den beraubten und geschundenen Krüppel Philoktet nicht rettet, sondern liquidiert.
Von Wilhelm Kuchenmüller:
Mehr als sonst nimmt hier die Elementare Natur, die Meeresbrandung, die Felsenhöhle, der Vulkan, aber auch die Tierwelt am tragischen Geschehen teil. Schon die Bühne bot ein seltsam tragisches Bild: Eine schroffe Felswand mit Ausblick aufs Meer, oben zwei dunkle Pforten, durch die aus- und eingegangen wird, zu denen man hinaufsteigt, von wo man herunterkommt. Durch seine Vereinsamung ist Philoktet mit der Natur verwachsen. Nur sie ermöglicht ihm die Zwiesprache, ohne die ein Hellene nicht leben kann.
Nietzsche und Philoktet (gefunden auf vitusens.de):
In den Fragmenten vom Sommer 1871 (KSA 7, S. 394) notiert Nietzsche: "Der Philoktet des Sophokles – als Lied vom Exil zu verstehen"
Warum nennt sich Nietzsche also mit seinem allerersten Pseudonym gerade einen "Philoktet"? Das sollte nun wohl naheliegen: Er empfindet sich ebenso ausgesetzt wie Philoktet, und auch er leidet an Wunden, körperlich und geistig. Wie Philoktet schreit er seine Verwundungen wie seine Verlassenheit/ Vereinsamung durchaus nach außen ... Und auch er meint über eine Art "Munition" (Zarathustra!) zu verfügen, deren die Menschheit noch bedarf.
Daß die Verwendung des Philoktet-Bildes in diesen beiden Bedeutungen gemeint ist, geht im übrigen auch aus dem Schreiben an Heinrich von Stein hervor (18. September 1884; KSB, 6, Nr. 534, S. 533), in dem er sich wiederum mit "Philoctet" vergleicht: "Ohne meine Pfeile wird kein Illion erobert!"
Für Musikfreunde: Franz Schubert hat ein Mayrhofer-Gedicht über Philoktet als Lied vertont. Hier der Text:
Da sitz ich ohne Bogen und starre in den Sand.
Was tat ich dir Ulysses, daß du sie mir entwandt?
Die Waffe, die den Trojern des Todes Bote war,
Die auf der wüsten Insel mir Unterhalt gebar.
Es rauschen Vogelschwärme mir über'm greisen Haupt;
Ich greife nach dem Bogen, umsonst, er ist geraubt!
Aus dichtem Busche raschelt der braune Hirsch hervor:
Ich strecke leere Arme zur Nemesis empor.
Du schlauer König, scheue der Göttin Rächerblick!
Erbarme dich und stelle den Bogen mir zurück.
Nun zu einem Vergleich zweier Übersetzungen, der erste Textausschnitt ist stets die Kuchenmüller-Übersetzung, der zweite die von Wendt. Wir beginnen mit den ersten Versen des Dramas.
Dies ist der Strand des meerumströmten Lemnos,
Von Menschen unbewohnt und unbesucht.
Hier war es, Kind des tapfersten Hellenen,
Sohn des Achilleus, Neoptolemos,
Wo ich einst Philoktet, des Poias Sohn,
Aussetzte auf Befehl der Herrschenden,
Weil ihm am Fuß die Eiterwunde fraß.
Sein Stöhnen, Jammern füllte rings das Lager
Mit wüstem Mißklang Tag für Tag: Wir konnten
Kein Opfer ungestört noch heilige Spende
Begehen.
Hier ist das meerumspülte Eiland, hier der Strand,
Vom Fuß des Menschen unbetreten, unbewohnt,
Wo ich, o Neoptolemos, du Sohn Achills,
Des besten Helden der Achäer, einst den Sohn
Des Poias aus dem Lande Malis ausgesetzt,
Weil fressend ihm der Wunde Eiter troff vom Fuß.
Denn keine Spende und kein Opfer konnten wir
Beginnen ohne Störung, sondern wild erscholl
Von seinem Klagen, von seinem Stöhnen rings der Ruf
Durchs ganze Lager.
Hier sieht man bereits, daß Kuchenmüllers Übersetzung moderner ist. Wendts Sprache haftet stärker am Original. Zudem erwähnt er die Namen Philoktet und Lemnos gar nicht, die ja dem antiken Publikum bekannt waren. Kuchenmüller fügt sie für heutige Rezipienten, die nicht so sattelfest mit griechischen Sagen sind. Er fügt auch das Adjektiv "heilige" zu Spende hinzu, um den Sinn klarer zu Machen.
Nun zu dem "berühmten" "Schlaflied" des Chores:
Schlaf, der Schmerzen vergaß,
Schlaf, der Leiden nicht weiß,
Nahe mit sanftem Hauch,
Labe, labe ihn, Mächtiger!
Banne des Tages Glanz,
Der sein Auge umfängt,
Komm, o komme zu heilen!
Schlaf, der du Schmerz nicht kennst,
Schlaf, und vom Leid befreist,
Mit sanftem Hauche nahe
Du Herrscher, uns zum Heile!
Wehre vom Auge ihm
Das Licht, das jetzo herniederstrahlt!
Komm, o komme, zu heilen!
Bei Wendt ist der Schlaf noch deutlicher personifiziert, da er als "Herrscher" bezeichnet wird. Man muß dazu wissen, daß auch der Schlaf eine entsprechende Gottheit (Morpheus) hatte. Beide Passagen sind schön, aber Kuchenmüller gebe ich den Vorzug - nicht nur, weil "jetzo" veraltet ist.
Große Abweichungen gibt es bei Philoktets Flüchen:
Du Feuerschlund! du scheußliches Gebild
Aus List und Schurkerei! O wie betrogst
Du mich! Und ohne Scham schaust du mich an,
der meinem Schutz befohlen war, du Unhold!
Mit meinem Bogen nimmst du mir mein Leben,
Kind, gib ihn, ich beschwör dich, gib mir ihn!
Raub mir mein Leben nicht, bei unsern Göttern!
Verderblicher! Verhaßter! O nichtswürdger List
Verrucht Gewerbe! O was hast du mir getan!
Wie hast du mich betrogen! Fühlst du keine Scham,
Ins Auge mir zu blicken, der so flehend bat?
Mein Leben raubst du, wenn du mir den Bogen nimmst.
O gib, ich flehe, Jüngling, gib ihn mir zurück!
O, bei der Heimat Göttern, nimm mein Leben nicht!
Das Schlußwort gebührt Sophokles, es sind die Worte des Chores, mit denen das Stück endet. Hier sind sich Kuchenmüller und Wendt einig - bis auf gnädig/günstig.
Es wäre schön, wenn jemand, der auch "Philoktet" gelesen oder gesehen hat, sich hier mal äußert. Ansonsten gehts irgendwann mit "Aias" weiter.
So lasset uns ziehn in vereinigter Schar,
Doch betet zuvor zu den Nymphen des Meers,
Auf der Fahrt uns gnädig (günstig) zu schützen.