Hallo zusammen,
ich habe nun die Lektüre von Stefan M. Mauls Neuübersetzung des Gilgamesch-Epos beendet. Mit "Gilgamesch-Epos" ist die Form des Epos gemeint, wie es der Überlieferung nach von einem gewissen Sin-leqe-uninni geschaffen wurde. Dieses Gilgamesch-Epos entstand nach heutiger Kenntnis um 1200 v. Chr. Im Vorwort von Mauls Übertragung erfährt man, daß uns heute insgesamt immer noch ein Drittel des Textes fehlt. Man kann zwar teilweise den Inhalt der fehlenden Passagen erschließen (u. a. aus einer altbabylonischen Fassung und einer hethischen Paraphrase des Epos), aber es bleiben dabei immer Unsicherheiten, denn Vorgänger oder Nacherzählungen des Gilgamesch-Epos sind kein Ersatz für das Gilgamesch-Epos selbst, weder inhaltlich (denn da gibt es etliche Abweichungen), und schon gar nicht was die sprachliche Ausgestaltung betrifft.
Die Neuübersetzung von Stefan M. Maul macht einiges klarer, als es (mir) vorher war. Nicht nur, weil neuentdeckte/wiederentdeckte Textteile hinzugekommen sind, sondern auch durch den hilfreichen Stellenkommentar. Ein Beispiel: Ziemlich am Anfang der vierten Tafel ist davon die Rede, daß Enkidu eine Hütte baut, um Gilgamesch das Träumen zu ermöglichen (Traumorakel). Die Vorbereitungen zu diesem Traumschlafritual werden von Maul so übersetzt:
Zitat
Da baute Enkidu ihm eine Traumhauch-Hütte.
Er befestigte eine Tür für den Sturmwind in ihrem Eingang.
Er ließ ihn sich betten in einem Kreise, aus Mehl war die Linie.
Er selbst aber, wie ein Fangnetz zu Boden geworfen,
legte sich nieder in ihrem Eingang.
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Im Kommentar erfährt man, daß die Hütte im Original "Haus des zaqiqu" heiße und das babylonische "zaqiqu" die Bedeutung "Wind, Hauch; Geist; Traumgott" habe. Der Sturmwind bringt den Traum durch die Tür zu Gilgamesch, und Enkidu legt sich als vermittelndes Medium ("Traumfänger") vor die Tür. Der Kreis aus Mehl soll böse Dämonen abhalten, nur gute Träume sollen Gilgamesch erreichen. Ein solcher Zauberkreis wird in vielen babylonischen Ritualbeschreibungen erwähnt, schreibt Stefan M. Maul.
Bei Raoul Schrott lautet diese Stelle so:
Zitat
Enkidu machte Gilgamesh eine hütte für den Gott des Traums;
er brachte eine tür an, um den sturm draußen zu halten,
zog einen kreis um das ganze, hieß Gilgamesh sich niederlegen
und legte sich vor dem eingang selbst flach auf den bauch
wie geknickte gerste.
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Hier ist also die Tür <i>gegen</i> den Sturmwind gedacht, und davon daß Enkidu als "Fangnetz" fungiert, ist auch nicht die Rede.
In noch älteren Reclam-Übersetzung, die auf der Übersetzung von Albert Schott aus den 1930er Jahren beruht, lautet diese Stelle folgendermaßen:
Zitat
Es bereitete ihm Enkidu für die Nacht das Lager.
Ein Regensturm zog vorüber, da befestigt' er ein Dach.
Er ließ ihn sich legen, und an einem Ring ...
Sie ...ten wie Korn des Gebirges ...
In der Übersetzung von Ranke kommt eine solche Passage überhaupt nicht vor, wenn ich das richtig gesehen habe.
Witzig finde ich, daß bei Ranke der Schiffer Ur-schanabi gerade Kräuter pflückt, als ihn Gilgamesch das erste Mal sieht. In der Reclamübersetzung sammelt er Warane. :breitgrins: Der aktuelle Stand ist, daß er Bäume entästet, was sich deutlich besser in den Kontext einfügt. Was die merkwürdigen "Steinernen" sind, die sich bei Ur-schanabi befinden, weiß man immer noch nicht so genau. Immerhin gibt es nun Hinweise, daß das keine bloßen Gegenstände sind, sondern handelnde Wesen.
Schöne Grüße,
Wolf