Hallo Steffi,
die Lesung ist klasse. Habe beim Selbstlesen schon empfunden, dass es eines der Werke ist, bei dem das laute Lesen den Genuß deutlich erhöht und man länger dem Faden folgen kann, den man beim schnelleren Hinwegfliegen eher verliert.
Und wenn nun der Altmeister der Lesung das laute Vortragen übernimmt, ist das eine große Freude. Joseph z.B. ist mir wieder sympathischer geworden, während ich ihn beim Lesen als zu schwatzhaft (und eine Petze ist er ja auch noch) empfand.
Wir sind heute schon bis auf Seite 100 gekommen. Geht fix voran. Einleitend gibt es immer einige Anmerkungen von Hanjo Kesting, heute z.B.:
"Thomas Mann hat, einer Anregung Goethes folgend, in den Jahren zwischen 1926 und 1943 die knappe biblische Erzählung von Jaakob und seinen zwölf Söhnen zu einem zweitausend Seiten starken Epos ausgesponnen: Darstellung der Urvorkommnisse des Menschenlebens, von Liebe und Hass, Segen und Fluch, Bruderzwist und Vaterleid, Hoffart und Buße, Sturz und Erhebung. Verständlicherweise kann nicht der komplette Romantext Thomas Manns gesendet werden, sondern nur etwas mehr als die Hälfte. Es mag für Hörer lohnend erscheinen, auch den Bibeltext selbst noch einmal zur Hand zu nehmen und ihn mit Thomas Manns Ausgestaltung zu vergleichen, vielleicht auch nur um die biblischen Geschichten und Geschehnisse in Erinnerung zu rufen.
Keine chronologische Erzählung
Thomas Mann erzählt sie, anders als das Erste Buch Mosis, nicht chronologisch, zumindest was die Geschichten Jaakobs betrifft. Gleich zu Anfang sind wir auf den Weiden Hebrons, am Brunnen, und es wird von einer Begegnung Jaakobs mit seinem Lieblings- und Gunstkind Joseph erzählt, dem älteren Sohn aus seiner Ehe mit Rahel, der aber erst als elftes Kind Jaakobs geboren wurde. (Benjamin folgt dann als zwölfter.) Joseph wurde uns am Brunnen als etwa Siebzehnjähriger vorgestellt, den Vater müssen wir uns daher beinahe schon als Greis denken. Was ihm in seinem Leben widerfuhr, sein Bruderzwist mit Esau, der Streit mit dem Zwillingsbruder um das Erstgeburtsrecht, sein listiger Betrug, die Flucht nach Haran, der Dienst bei Laban um dessen Töchter Lea und Rahel, Jaakobs Erwerbssinn, der ihm Reichtum bringt, die neuerliche Flucht, diesmal vor Laban, die Versöhnung mit Esau, das Blutbad von Sichem, der Kindersehen und das späte Kinderglück mit Joseph und Benjamin, schließlich der Tod Rahels, alle diese Geschichten Jaakobs werden bei Thomas Mann später erzählt, in der Form einer großen Rückblende.
Jaakob im Gespräch mit Joseph
Wir treffen vorerst den alten Jaakob mit dem jungen Joseph am Brunnen von Hebron, an einem Frühlingsabend, in Gesprächen. Die Bibel weiß nichts von diesem Gespräch, dort heißt es aber: "Jakob aber wohnte im Lande, in dem sein Vater ein Fremdling gewesen war, im Lande Kanaan. Und dies ist die Geschichte von Jakobs Geschlecht: Joseph war siebzehn Jahre alt und war ein Hirte bei den Schafen mit seinen Brüdern; er war Gehilfe bei den Söhnen Bilhas und Silpas, der Frauen seines Vaters, und brachte es vor ihren Vater, wenn etwas Schlechtes über sie geredet wurde. Israel aber hatte Joseph lieber als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war, und machte ihm einen bunten Rock." So Kapitel 37 im Ersten Buch Mosis. Vom bunten Rock werden wir erst später erfahren, im zweiten Band der Tetralogie "Der junge Joseph". Dass Jaakob aber den Joseph lieber hat als die anderen Söhne, das ist hier am Brunnen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgedrückt. Joseph erscheint als hübscher, lebhafter, etwas eitler Mondschwärmer, und der Vater ist besorgt, ihn an der Brunnentiefe sitzend und halb entblößt zu finden. Warum er nicht bei den Brüdern sei, fragt Jaakob, obwohl er es selber weiß. Aber ungern hört er, dass der Silpa-Sohn Gad seinen Liebling "Laffe und Hürchen" genannt hat, und man fragt sich, warum Joseph dem Vater so Ärgerliches erzählt."
Gute Nacht
Holk