Beiträge von Antonius EY

    Der erste Herausgeber, Jochen Meyer, hat an der unbekannten Fontane-Erzählung, die ich hier vorstellen wollte, kein Copyright.
    Sie liegt als Faksimile der Handschrift vor; für eine schrifttechnische Übertragung und erste Kommentierung bei der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach (Ausgabe 1991).
    Ansonsten ist es ein freier Text, der recht lang (105 Jahre) nach Fontanes Tod hier auftauchte, ohne dass ein Erbe oder ein Verlag ein Recht daran hat.


    Da ich dort in der Schiller-Gesellschaft und im SNM Marbach - als Buchhändler und Germanist - jahrzehntelanges Mitglied bin, glaube ich, dass ich den Text zitieren kann - und durch eigene Worterklärungen und Interpretationsvorschläge ergänzen darf.
    D a s habe ich als Einleitung angekündigt, neben einer Einschätzung und Informationen zum Text.
    So viel zu dem Quatsch vom "sinnfreien Posting". Mit solch einer philologischen Arbeit hast Du Dich noch niemals auseinandergsetzt.
    *
    Das als Qualifikation genügt dem "löschenden" Banausentum wohl nicht - da fehlt es einfach an Lesefähigkeit. Da wird aus meinem Text gelesen, was dem Gequengel passt; ohne mich zu fragen - oder sich anderswo zu informieren.


    Der Meister-Leserin ("Lektorin" ist das falsche Wort) ad notam: weiteres Gequäke - und Unkenntnis - und das wichtigtuerische Gefühl, "gefährdet" zu sein - wg. Urheberrechtsquerelen...! Geschenkt!


    Da nimmt sich jemand (weibl.) wichtig - wie - na, ich verzichte.

    Schöner ist es, i h n zu h ö r e n: ihm, dem Wortkünstler Emil Steinberger zuzuhören...


    Was von OGTERN...


    Emil Steinberger: Der Telegrafenbeamte



    Der Telegrafenbeamte sitzt am Tisch und versucht, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Links steht ein Telefon.
    Also, vier senkrecht - Grautier - das hat vier Buchstaben und fängt mit einem E an, dann fehlt einer und dann geht's mit EL weiter. Ein Grautier mit EEL - EGEL - EGEL - EGEL? IGEL? IGEL? - ah das ist eher ein I, ja, aber dann stimmt es ja aber waagrecht nicht mehr.
    Die Hühner tun es - LEGEN - ja, dann gibt es aber senkrecht genau gleichwohl wieder EGEL - das ist doch kein Tier das - EGEL - das ist jetzt ein dummes Kreuzworträtsel das.


    Ja und dann sechs waagrecht hieße es ja dann OG, OG... OGTERN - OG... OG... OGTERN - was ist denn das wie­der? OGTERN »kirchlicher Feiertag« - hab ich noch nie gehört das. Gibt es acht noch einen ändern Feiertag mit einem G drin? WEIH-NACH-TEN - nein, das hat keinen G - ... PFINGSTEN, PFINGSTEN, PFINGSTEN - PFING-NG-NG ... das könnte einen G haben - ja, dann wäre aber das O wieder falsch - woher kommt denn dieses O her?
    »Kirchliches Instrument« - ORGEL -ja, aber wenn es jetzt PFINGSTEN heißen würde, dann hieße es ja dann statt ORGEL »PRGL« - und beim kirchlichen Feiertag PG... PG... PGTERN -


    trr - trr -
    Ja, ja, ja PRGL - PGTERN -
    trrr ... trr ...


    Ja, Telegrafenamt. Wie? Nein, wir haben hier nur eine Über­lastung gehabt. PRGL - PG PG PGTERN - wie, was meinen Sie was? Nein, ich habe hier nur noch rasch ein indisches Tele­gramm durchgegeben.
    Also, immer zuerst gerade den Namen angeben - wie ist der Name? Keller - mit CK? Ah, normal, ah das sagt man gleich am Anfang oder? -Ja und nachher, was kommt nachher?
    »Bitte Ziegel an Bianco zum doppelten Tarif«. Ist in Ord­nung, wir wollen das sofort notieren he: bitte Ziegel an Bianco - au -jetzt ist mir noch der Spitz abgebrochen, ja das ist jetzt noch's Beste das. Hab' doch noch irgendwo ein zweites Bleistift gehabt.
    Ja, hören Sie, überlegen Sie sich das Ganze noch einmal, he, wie? Ah, das ist definitiv - eh ja, das kann ich ja nicht wissen.
    Also, wohin gehen die Ziegel? »An Tegula AG in Lissabonn«
    - ist in Ordnung - Wir machen, daß das alles nach oben kommt. Ja, auf Wiederhören...
    Ausgerechnet Lissabonn, Lissabonn, wo ist jetzt auch noch dieses Lissabonn? Es muß irgendwie ein Vorort sein von Bonn.
    - So jetzt muß ich hier ein Messerli holen, damit ich das Blei­stift -
    trrr ... trrr ... wo ist jetzt das Messerli - ich habe doch da ein Messerli gehabt, ich habe doch da immer ein Messerli hier gehabt.
    Trrr ... Ja, ja. -Telegrafenamt - Herr, Herr Messerli? - Ja, Sie hab' ich soeben gesucht, Sie. Ja - was ist, was?
    Was? Ein Telegramm? Also geben Sie's an.
    »Herrn Zrotz, Berghaus Pragel« - PRGEL? - Nein, ich wollte nur rasch sehen, ob etwa am Pragelpaß eine Lawine hin­untergekommen ist. Ja, und nachher, was kommt nachher? »Fünfzig Jahre stark und froh, Herbert mach nur weiter so!«
    Ist in Ordnung, das werden wir alles so durchgeben. Auf Wiederhören Herr Messerli.


    So - jetzt müssen wir's aufschreiben, sonst nachher - trrr – trrr-
    Ja, jetzt kommt schon wieder eins - zuerst muß ich das doch aufschreiben - sonst nachher -
    Trrr ... trrr ... so,ja wahrscheinlich, ausgerechnet noch ein ... Ja, Telegrafenamt. - Herr Iseli? Was ist? Ein Telegramm? Wohin? Nach New York - bei diesem Wetter?
    Nein, ich mache nicht Spaß, aber ich kann's nicht selber bringen, he - also, geben Sie's an.
    »Herrn Hanspeter Iseli, Quarkey-Street, New York« In Ordnung, ja, was? Buchstabieren?
    Q wie Quark - A wie Angst - R wie Rückversicherungsge­sellschaft - K wie Kakao - E wie Emil und am Schluß ein Ypsi­lon wie ein -Ypsilon.
    Und nachher, was kommt nachher? »Überraschung für Mami, bitte an Ostern heimkommen.« Ist in Ordnung, wir werden das gerne so dem Hanspeter berichten, ha.
    Eh, Moment, rasch, sind Sie sicher, daß er an Ostern heim­kommen soll, nicht etwa an OGTERN? Ja, ja der kommt sowieso nach Hause, he. Ja, auf Wiederhören, Herr - eh Herr ... Heißen Sie eigentlich Iseli oder ISEL? Ah, Iseli - sonst hätte ich noch fragen müssen, ob er ein Grautier sei.
    Trrr ... trrr ... ja wahrscheinlich, mehr kann ich nicht im Kopf behalten.
    Ja, ja Telegrafenamt. Herr Meier. Ja, hab' ich auch schon gehört. Ja, was ist was? Ein Telegramm? - Warum? Wie? Aha, aha Ihr Freund ist gestorben. Ah, sehr gut, sehr gut...
    »Rudolf soeben gestorben, bitte heimkommen, Dein Schwa­ger«. Ist in Ordnung. Muß das ein Glückwunschtelegramm sein - so mit diesen Blümchen oben durch? Ah normal.
    Ja, der kann es auch so lesen. Ja, ja, das werden wir so durch­geben. Auf Wiederhören ...
    So jetzt, so jetzt, trrr ... trrrr ... das ist jetzt aber das letzte, das ich noch annehme.


    Ja, Telegrafenamt - Herr Dürrenmatt? - kenn ich nicht - ja halt! Bist Du etwa der von der letzten Reserveübung? Den wir in den Säulitrog geschmissen haben, he? Hehehe -
    Ja, ich notiere alles, ja. Wohin? »Schauspielhaus Zürich«. In Ordnung - ja und dann? »Ist die Meisel nächste Saison frei? Habe neues Stück auf Lager. Gruß Dürrenmatt.«


    Ist in Ordnung, jawohl, muß das auch ein Glückwunschtele­gramm sein? Nein, sonst hatten wir dann aus diesem Text einen Vers daraus gemacht.
    Nein, nein, das hätten wir schon übernommen. Ja, es können ja schließlich nicht alle Leute dichten.
    Ja, ah, Sie wollen es lieber in Prosa - Ausgezeichnet, dann werden wir für Sie alles so durch-eh-brosamen, he.
    So, jetzt muß ich einmal alles notieren, sonst gibt es eine Katastrophe - au! - da wäre ja ein zweiter Bleistift gewesen. Natürlich am dümmsten Ort.


    So, was haben wir jetzt alles gehabt?


    - Ja, ich glaube, ich beginne am besten von hinten. »Fünfzig Jahre stark und froh, Dürrenmatt mach weiter so«.


    »Ist die Meisel noch am Lager, sende Ziegel - Gruß Dein Schwager«.
    »An Regula in Lissabonn, bitte an Ostern zum doppelten Tarif«.


    Ja, es war noch etwas mit dem ... Aha ja, »Überraschung für Mami, bin soeben gestorben«.


    Ah, es war noch etwas, dort, das mit dem, das mit dem Quar­key, Quarkey - nimm ... ich Esel -


    ESEL? - Vier senkrecht!


    *


    (Aus: Meta Lepus: Der kleine Hasenbegleiter. Ein Osterbrevier. München Serie Piper 2615. 164-167)

    Dank fürs Mitwandern - liebe Brechtin, liebe "Christin"!


    Osterspaziergänge, von „kommod“ bis „poetisch“:
    In Ilmenau erfunden...; ein Kultur-"Event" - ob erfolgreich, wiederholt....?


    Goethe
    URL: http://www.maschinenbau.tu-ilmenau.de/ham/goethe.JPG



    ':blume:'


    URL: http://www.wortschatz.de


    - eine UNI-Datei -eine teilnahmslos registrierende Wortquelle, zur Beurteilung von alltäglichen oder sonntäglich feierlichen Bewegungen, genannt "Spaziergang" zur rechten Zeit:


    In Provincetown, dem alten Walfängerhafen auf Cape Cod, gibt es nicht nur schöne Sandstrände für den Osterspaziergang, sondern auch die höchste Konzentration von Anti-Bush-Memorabilia in den USA. (Aus: Der Spiegel ONLINE)


    Zum Beispiel, als verfrühter Osterspaziergang, endlich einmal nach Leipzig! (Quelle: Die Zeit 1997)


    DAS KOMMT AUF UNS ZU! Ein Osterspaziergang mit dem Spezialisten Johann Wolfgang von Goethe. (Aus: Die Zeit 2001)


    In kühl teilnahmsloser Manier zitiert er den berühmten Monolog "Habe nun, ach!", oder den "Osterspaziergang". (Aus: Die Welt Online)


    Vorsicht beim Osterspaziergang an der Alster: Nicht jedes Ei auf der Wiese ist aus Schokolade. (Aus: Die Welt Online)


    Osterspaziergang um den Fernsehsessel (Aus: Die Welt Online)


    Beim Osterspaziergang Sonne und Musik genießen (Aus: Die Welt Online)


    Er wandelte das Finale von Goethes Osterspaziergang ab: "Ich hör schon Potsdamer Getümmel - hier ist des Volkes wahrer Himmel: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!", rief er als künftiges Motto der Bundesgartenschau aus. (Aus: DIE WELT 2001)


    Verzichten mussten die Bayern an den Feiertagen nicht nur auf eine traditionelle Pferdewallfahrt, sondern auch auf einen Osterspaziergang im Sonnenschein. (Aus: DIE WELT 2001)


    Der eigene Osterspaziergang im Nymphenburger Schlosspark - das ist Tradition bei der Schauspieler-Familie - fiel heuer buchstäblich ins Wasser. (Aus: DIE WELT 2001)


    Der Osterspaziergang im verregnet-kalten Berlin? (Aus: DIE WELT 2001)


    Dort werden ab 11 Uhr Auferstehungsbilder gezeigt, ein Osterspaziergang von Beuys zu Rubens. (Aus: DIE WELT 2001)


    "Wir erwarten in Sanssouci an diesem Wochenende einen regelrechten Besucheransturm, denn der Schlosspark lädt traditionell zum Osterspaziergang ein", sagt Gert Streidt von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. (Aus: DIE WELT 2001)


    Das Schloss Sanssouci lädt zum Osterspaziergang ein. (Aus: DIE WELT 2001)


    Den Osterspaziergang kann man auch in den kommenden Monaten gut noch nachholen - bei der Bundesgartenschau in Potsdam. (Aus: DIE WELT 2001)


    Vom Eise befreit sind Strom und Bäche", heißt es in Goethes Osterspaziergang. (Quelle: DIE WELT 2001)


    Vielleicht doch lieber Osterspaziergang, obwohl der Gesichtserker, kurz aus dem Tageleuchter gereckt, die nasse Kälte spürt? (Aus: DIE WELT 2001)


    Nachhilfe für den Osterspaziergang: Die Sportsprache wird so lange international, bis sie falsch verstanden wird (Aus: DIE WELT 2001)


    [Teleempfehlung, verspätet, versäumt - nie mehr gutzumachen:]
    Nach einem entspannenden Osterspaziergang mit der Familie gibt es dann noch was fürs Herz: "Tage wie dieser" auf Pro 7 um 20.15 Uhr, ein wunderbarer Familienfilm mit der schönen Michelle Pfeiffer und dem Frauenschwarm George Clooney. (Aus: DIE WELT 2001)


    :blume:


    URL: http://www.maschinenbau.tu-ilmenau.de/ham/goethediplom.gif


    Nein, kein Leistungsnachweis nötig, damit kein Erlebnis-, pardon: Ergebniseinbruch verkraftet werden muss...

    Leitmotto:
    Wolfdietrich Schnurre: Kommt der Messias ?


    „Kommt der Messias, Schimon?“
    „Natürlich nein. Mit seinem Kommen würden doch alle Hoffnungen zunichte gemacht.“
    „Aber warum wird sein Kommen trotzdem verkündet?“
    „Um auch denen, die tiefer verzweifelt sind als wir, noch den Ausweg in die Hoffnung zu lasen.
    „Aber dann ist er doch eine Lüge, ein Popanz!“
    „Was noch nicht ist, kann auch keine Lüge, kein Popanz sein, Lea.“
    „Aber was kommen soll, muß schon irgendwo existieren.“
    „Ja. Als Verheißung.“
    „Schimon: Was ist eine Verheißung, die nicht eingelöst wird?“
    „Das Wesen des Glaubens.“


    (Stenografischer Eintrag aus: Wolfdietrich Schnurre: Der Schattenfotograf 1978. Neuauflage: Berlin Verlag, 2010


    **


    Frühlings-Bildleiste aus der vorjährigen ZEIT
    URL: http://zeus.zeit.de/bilder/200…ezial/spriessende_385.gif



    Osterspaziergänge

    durch Raum und Zeit, Aue und Wald, Stadt und Land, Buchregal und Internet...:



    Frühling


    URL: http://www.sirius-arts.de/imag…test/osterspaziergang.jpg]


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    Vom Eise befreit... Goethes allbekannte, routiniert zu absolvierende Verse aus der Szene „Vor dem Tor“ im Faust-Drama sind im „Urfaust“ und im „Fragment“ von 1790 noch nicht enthalten. Sie ist wohl im Februar 1801 entstanden; sie zeigt Faust nicht mehr als einsamen Gelehrten in der Osternachtsszene im Studierzimmer, sondern als geehrten Bürger der Reichsstadt und kennzeichnet in einer Revue typisierter Figuren die gesellschaftliche Umwelt Heinrich Fausts, gleichzeitig das banale Volksgerede und die philiströse Enge Wagners. Faust wieder belebte Lebensenergie – nach der entscheidenden Osternacht – entspringt dem frühlingshaften Naturgeschehen und der religiösen Auferstehungsüberzeugung; doch führt ihn die Gedankenfülle des reflektierenden Monologs wieder in ein geistiges Außenseitertum zurück, in seine „faustische“ Versuchung. Das für den Handlungsfortgang der Szene wichtige Motiv ist das Auftauchen des Pudels, der sich als Verführer Mephisto entpuppen wird; hier wird nicht nur die Standardfassung des Lesebuch-„Osterspaziergangs“ geboten, sondern auch Wagners Antwort; auf den dialogischen und pragmatischen Kontext der gesamten Dramenszene verweise ich zusätzlich.
    Als ein besonders beliebtes Thema ist Fausts „Osterspaziergang“ wiederholt variiert worden; die Vergleichstexte werden hier geboten, um ein klassisches Motiv hinsichtlich Religion und Naturgefühl zu diskutieren: Frühling und Auferstehung; Glaube und Naturwissenschaft; Ichbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft.
    Ostern ist das älteste christliche Kirchenfest, ursprünglicher als Weihnachten und Pfingsten; direkt in der Übernahme des jüdischen Passahfestes (Pessach) verständlich.
    In der jüdischen Bedeutung und dem Ritus des Opfer- und Erntefestes der Israeliten liegen die Wurzeln der christlichen Gestaltung und Symbolik; doch dieses Thema soll hier nicht aufgearbeitet werden.


    [size=18px]Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)[/size]
    Vom Eise befreit...
    (Aus: Osterspaziergang. Faust I)


    FAUST:

    Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
    Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
    Im Tale grünet Hoffnungsglück;
    Der alte Winter in seiner Schwäche
    Zog sich in rauhe Berge zurück.
    Von dorther sendet er fliehend nur
    Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
    In Streifen über die grünende Flur;
    Aber die Sonne duldet kein Weißes,
    Überall regt sich Bildung und Streben,
    Alles will sie mit Farben beleben;
    Doch an Blumen fehlt's im Revier,
    Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
    Kehre dich um, von diesen Höhen
    Nach der Stadt zurückzusehen.
    Aus dem hohlen, finstern Tor
    Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
    Jeder sonnt sich heute so gern.
    Sie feiern die Auferstehung des Herrn;
    Denn sie sind selber auferstanden:
    Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
    Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
    Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
    Aus der Straßen quetschender Enge,
    Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
    Sind sie alle ans Licht gebracht.
    Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
    Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
    Wie der Fluß in Breit und Länge
    So manchen lustigen Nachen bewegt;
    Und bis zum Sinken überladen
    Entfernt sich dieser letzte Kahn.
    Selbst von des Berges fernen Pfaden
    Blinken uns farbige Kleider an.
    Ich höre schon des Dorfs Getümmel;
    Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
    Zufrieden jauchzet groß und klein:
    Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!


    WAGNER:


    Mit Euch, Herr Doktor, zu spazieren
    Ist ehrenvoll und ist Gewinn;
    Doch würd ich nicht allein mich her verlieren,
    Weil ich ein Feind von allem Rohen bin.
    Das Fiedeln, Schreien, Kegelschieben
    Ist mir ein gar verhaßter Klang;
    Sie toben wie vom bösen Geist getrieben
    Und nennen's Freude, nennen's Gesang.


    (Aus Goethes “Faust. Erster Teil“. Verse 903-948; bildungsbeflissen „Osterspaziergang“ genannt. Die Entgegnung Wagners, des Famulus, ist hier für den Vergleich mit dem folgenden Tucholsky-Text mit wiedergegeben)


    **


    Doch an Blumen fehlt’s im Kohlen-Revier,
    Forsythien stehn tapfer dafier:


    URL: http://www.n-tv.de/images/200404/5233597_Bottrop.jpg



    Tucho:
    URL: http://www.miscelle.de/_imgroot/kurt-tucholsky.gif


    [size=18px]Kurt Tucholsky:[/size]
    OSTERSPAZIERGANG
    (Aus einer aufgefundenen Faust-Handschrift)


    Faust:


    Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
    durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
    das deutsche Volk zahlt des Krieges Zeche,
    und keiner bringt das Verlorene zurück.
    Die alten Monarchen, in ihrer Schwäche,
    zogen sich in die Versenkung zurück.
    Von dorther senden sie, fliehend nur,
    ohnmächtige Schauer körniger Reden.
    Und sie beschuldigen jeder jeden,
    und schütten Memoiren auf die Flur.
    Überall regt sich Gärung und Streben.
    Aller, will sich mit Rot beleben.
    Doch an Blumen fehlt es im Revier.
    Nehmt kompromittierte Führer dafür!
    Kehre dich um, von diesen Höhen
    auf das Land zurückzusehen.
    Aus dem hohlen, finstern Tor
    dringt ein buntes Gewimmel hervor.
    Jeder sonnt sich heute so gern:
    die Kriegsgesellschaft, der Stahlkonzern,
    denn sie sind wieder auferstanden
    aus Reklamierungs- und andern Banden,
    aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
    aus dem Druck Von mitunter beschossenen Dächern,
    aus der Straßen quietschender Enge,
    aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
    sind sie wieder ans Licht gebracht.
    Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
    durch die Dörfer zum Hamstern schlägt.
    Mancher bezieht manchmal etwas Senge,
    weil er zu wenig Geld hinlegt.
    Hier fühl ich wahrhaft mich erhoben:
    Was kümmert uns ein verlorener Krieg!
    Amerikanisches Mehl wird verschoben -
    nur der Schieber reitet den Sieg!
    Hätten wir nur genug zu essen,
    wär das Alte mit Gunst vergessen;
    Ludendorffen entbieten wir Huld ...
    Keiner ist schuld! Keiner ist schuld!
    Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
    hier ist des Volkes wahrer Himmel.
    Zufrieden jauchzt die Reaktion:
    Keine Angst! sie vergessen schon!


    Wagner:


    Mit euch, Herr Doktor, zu spazieren
    ist ehrenvoll und ist Gewinn;
    Doch würd ich nicht allein mich her verlieren,
    weil ich ein Feind von allem Rohen bin.
    Das Schreien und Sozialisieren
    ist mir ein gar verhaßter Klang;
    das will ja nur das Volk verführen -
    uns Reichen wird ganz angst und bang.
    Wir wollen wieder die alten Zeiten,
    wir wollen wieder die Menge leiten -
    Zufrieden jauchzt dann Groß und Klein:
    Ich bin kein Mensch! Ich darfs nicht sein!
    (1919; erschienen am 20.04.19; in der Berliner Volkszeitung; in K.T.: G.W. Bd. 2. S. 78))


    *


    Eduard Mörike


    Url: http://www.onlinekunst.de/fruehlingsgedichte/e_moerike.jpg


    [size=18px]Eduard Mörike:[/size]
    Auf ein Osterei geschrieben


    Ostern ist zwar schon vorbei,
    Also dies kein Osterei;
    Doch wer sagt, es sei kein Segen,
    Wenn im Mai die Hasen legen?
    Aus der Pfanne, aus dem Schmalz
    Schmeckt ein Eilein jedenfalls,
    Und kurzum, mich tät's gaudieren,
    Dir dies Ei zu präsentieren,
    Und zugleich tät es mich kitzeln,
    Dir ein Rätsel drauf zu kritzeln.
    Die Sophisten und die Pfaffen
    Stritten sich mit viel Geschrei:
    Was hat Gott zuerst erschaffen,
    Wohl die Henne? wohl das Ei?
    Wäre das so schwer zu lösen?
    Erstlich ward ein Ei erdacht:
    Doch weil noch kein Huhn gewesen,
    Schatz, so hat's der Has gebracht.


    **


    [size=18px]Emmanuel Geibel:[/size]
    Ostermorgen

    Die Lerche stieg am Ostermorgen
    Empor ins klarste Luftgebiet
    Und schmettert', hoch im Blau verborgen,
    Ein freudig Auferstehungslied,
    Und wie sie schmetterte, da klangen
    Es tausend Stimmen nach im Feld:
    Wach auf, das Alte ist vergangen,
    Wach auf, du froh verjüngte Welt!

    Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen,
    Und lobt den Herrn mit frohem Schall!
    Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen,
    Ihr grünen Halm' und Läuber all!
    Ihr Veilchen in den Waldesgründen,
    Ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,
    Ihr sollt es alle mit verkünden:
    Die Lieb' ist stärker als der Tod.

    Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen,
    Die ihr im Winterschlafe säumt,
    In dumpfen Lüsten, dumpfen Schmerzen
    Ein gottentfremdet Dasein träumt.
    Die Kraft des Herrn weht durch die Lande
    Wie Jugendhauch, o laßt sie ein!
    Zerreißt wie Simson eure Bande,
    Und wie der Adler sollt ihr sein.

    Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen
    Gebrochen an den Gräbern steht,
    Ihr trüben Augen, die vor Tränen
    Ihr nicht des Frühlings Blüten seht,
    Ihr Grübler, die ihr fern verloren
    Traumwandelnd irrt auf wüster Bahn,
    Wacht auf! Die Welt ist neugeboren,
    Hier ist ein Wunder, nehmt es an!

    Ihr sollt euch all des Heiles freuen,
    Das über euch ergossen ward!
    Es ist ein inniges Erneuen
    Im Bild des Frühlings offenbart.
    Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte,
    Jung wird das Alte fern und nah,
    Der Odem Gottes sprengt die Grüfte -
    Wacht auf! der Ostertag ist da.
    *
    (Emanuel Geibel - 1815-1884 -; aus Geibels „Juniusliedern“)



    Ein Stück üppige Geibel-Verehrung


    URL: http://www.onlinekunst.de/herbstlyrik/Geibel.jpg


    **
    Das Grab Rilkes in Raron:
    URL: http://www.vs-natura-beef.ch/images/Grab.jpg


    [size=18px]Rainer Maria Rilke:[/size]
    Vor-Ostern
    - Neapel -


    Morgen wird in diesen tiefgekerbten
    Gassen, die sich durch getürmtes Wohnen
    unten dunkel nach dem Hafen drängen,
    hell das Gold der Prozessionen rollen;
    statt der Fetzen werden die ererbten
    Bettbezüge, welche wehen wollen,
    von den immer höheren Balkonen
    (wie in Fließendem gespiegelt) hängen.


    Aber heute hämmert an den Klopfern
    jeden Augenblick ein voll Bepackter,
    und sie schleppen immer neue Käufe;
    dennoch stehen strotzend noch die Stände.
    An der Ecke zeigt ein aufgehackter
    Ochse seine frischen Innenwände,
    und in Fähnchen enden alle Läufe.
    Und ein Vorrat wie von tausend Opfern


    drängt auf Bänken, hängt sich rings um Pflöcke,
    zwängt sich, wölbt sich, wälzt sich aus dem Dämmer
    aller Türen, und vor dem Gegähne
    der Melonen strecken sich die Brote.
    Voller Gier und Handlung ist das Tote;
    doch viel stiller sind die jungen Hähne
    und die abgehängten Ziegenböcke
    und am allerleisesten die Lämmer,


    die die Knaben um die Schultern nehmen
    und die willig von den Schritten nicken;
    wahrend in der Mauer der verglasten
    spanischen Madonna die Agraffe
    und das Silber in den Diademen
    von dem Lichter-Vorgefühl beglänzter
    schimmert. Aber drüber in dem Fenster
    zeigt sich blickverschwenderisch ein Affe
    und führt rasch in einer angemaßten
    Haltung Gesten aus, die sich nicht schicken.


    *


    R. M. Rilke; im Sommer 1908 (vor dem 15.7.08), Paris. (Aus: R.M.R.: Gesammelte Gedichte. 1962. S. 351ff.)


    *
    [size=18px]Mascha Kaléko:[/size]


    Mascha Kaléko:
    Osterspaziergang


    Ganz unter uns: Noch ist es nicht so weit.
    Noch blüht kein Flieder hinterm Heckenzaune.
    Doch immerhin: Ich hab ein neues Kleid,
    Bürofrei und ein bisschen Frühlingslaune.


    Was hilft uns schon das ganze Trübsalblasen –
    Da weiß ich mir ein bessres Instrument.
    Ich pfeife drauf... Mich freut selbst kahler Rasen
    Und auf das Frohsein gibt es kein Patent.


    Mich fährt die Stadtbahn auch ins freie Feld,
    Mir weht der Märzwind gleich den Weitgereisten
    Ich hab mein’ Sach’ auf nichts gestellt.
    - Das kann man sich noch leisten.


    Blau ist der Himmel wie im Bilderbuch.
    Die Vögel zwitschern wie in Frühlingsträumen.
    Herb mischt die Waldluft sich mit Erdgeruch
    Und frühem Duft von knospig reifen Bäumen.


    Die Sonne blickt schon ziemlich interessiert.
    Und wärmt beinah. - Doch, während ich sie lobe,
    Verschwindet sie, von Wolken wegradiert.
    Es scheint, sie scheint nur Probe.


    Ganz unter uns: Noch kam der Lenz nicht an,
    Obgleich schon Dichter Frühlingslieder schrieben.
    - Erst wenn man frei auf Bänken sitzen kann,
    Dann wird es Zeit, sich ernstlich zu verlieben...
    *
    (1933; in: Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft. 11986. Rororo 1784. S. 35)


    *
    [size=18px]Heinz Kahlau:[/size]
    Osterspaziergang


    Vier Wochen vorher sah ich sie im Dorfkrug.
    Sie lehnte an der Tür, trug Holzpantinen,
    blies sich von Zeit zu Zeit die Locke aus der Stirne
    und sah mit leerem Blick auf die Papiergirlanden,
    die über dem Gestampf der Paare schwangen.
    Die Blasmusik war nur zum Schweigen gut.
    Sie stieß sich mit der Schulter ab vom Pfosten,
    zog ihre Jacke fester, ging hinaus.
    Ich fragte sie, ob wir uns sehen können.
    Sie sah mich an und sagte: Ostermontag.
    Ich bin um neun am ersten Luftschutzbunker.
    Dann gab sie mir die Hand und lief davon.


    Wir gingen schweigend zwischen Kiefernstämmen.
    Der Wald war überschwemmt, an trocknen Stellen
    war alles aufgewühlt von wilden Schweinen.
    Die Wasserreiser an den grauen Weiden
    besetzt mit großen Kätzchen - kükengelb.
    Die Sonne fiel in hellen, warmen Rhomben
    auf gelbe Kätzchen und auf nasses Moos.
    Ich war schon neunzehn, sie war achtzehn Jahre.
    Ich mager, rotblond, sie war schwarz und rund.
    Ich trug zerfetzte nasse Leinenschuhe,
    gefärbte Khakihosen, Drillichjacke
    und einen wehrmachtsgrauen langen Schal.
    Sie schwarze Holzpantinen, wollne Strümpfe
    und einen weiten Rock aus einer Decke,
    ein weißes Turnhemd, eine enge Jacke,
    die nicht zu knöpfen ging, sie hielt sie oben zu.
    Wir küßten uns und sprangen über Pfützen,
    wir sprachen über Blasmusik und Essen,
    wir rissen Kätzchen ab und färbten uns die Nasen
    mit Blütenstaub und küßten sie uns sauber.
    Wir setzten uns auf einen Eichenstubben,
    wir sagten uns, daß wir uns wirklich liebten.
    Ihr war es ganz egal, daß wir nicht wußten,
    wie spät es war. Sie hatte keinen Hunger.
    Es gab zu Mittag nur Kartoffelsuppe,
    die hatte sie am Tag davor gekocht.
    Mein Zug fuhr erst um fünf. Wir gingen weiter
    und suchten einen trocknen Flecken Erde.
    Am Rande einer überschwemmten Wiese
    stand ein verbrannter Heereskübelwagen.
    Wir setzten uns auf eine Panzerplatte
    und legten meinen grauen Schal darunter.
    Da war die Sonne weg, und es begann zu gießen.
    Durchnäßt und traurig liefen wir zurück.


    Ihr Vater wartete vor der Barackentür.
    Er durfte mich nicht sehn, wir trennten uns
    und fragten nicht, wann wir uns wieder sehn.
    Ich stand im Wald und sah den Vater schimpfen,
    sie ging an ihm vorbei durch ihre Tür.
    Ich weiß nicht, wie sie hieß. Ich sah sie nie mehr.
    Doch an den Wald, die Kätzchen und den Regen
    kann ich mich noch, so oft ich will, erinnern.
    (H. K.: Du. Liebesgedichte. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag. 1980. S. 8ff.)


    **


    Der letzte Osterspaziergang ist bestimmt noch nicht gewandert,
    gesurft,
    gelesen -


    geschrieben...

    Bei Bernhard, dem unglückseligen Thomas...?
    Da denke ich an eine wunderschöne Satire von Fritz S c h ö n b o r n:


    D i e B e r n h a r d d i s t e l :


    die graue (Wiesenfrost, Totenblume, Nichterl, Bleichdistel, Trauerling), ausdauernd bis austrocknend. Familie der Tristizeen. Friedhofsblume.


    Die graublauen Blüten einzeln, hängend bis herablassend, langgestielt. Die handförmigen, gezinkten Blätter ballen sich bei Kritik leicht zur Faust. Blattstiele ranken.


    Die zierliche Pflanze, die immer ein wenig so wirkt, es würde sie sich ihrer Eloquenz schämen, wächst auf Friedhöfen, in alten Urnen, in angereicherten Beziehungslosigkeiten, in Österreich und im Nichts. Sie blüht im Nebel auf und trägt noch im Frost Blüten, von Dissertationen und Kulturkritikern bestäubt werden. Sie ist selbst in 1000 Meter Höhe noch anzutreffen, behauptet sich jedoch auch in Niederungen und auf den Brettern, die nicht immer die Welt bedeuten. Ihre Widerstandskraft ist sprichwörtlich, ebenso ihre Blütefreudigkeit.
    Fritz J. Raddatz schreibt in seinem von ihm selbst als fundamental eingestuften Werk "In der Natur geblättert": »Die graue Bernharddistel überrascht mich immer wieder. Ihre augenfällige Gebrechlichkeit steht in einem krassen Gegensatz zu ihrem Behauptungswillen. Sie macht das Nichts direkt heimisch.«


    Als Viehfutter taugt die Pflanze wenig. Sie ist zäh und nachgerade unverdaulich. Der Duft der Blüten soll den Tränenfluß erleichtern, weswegen sie wohl von Klageweibern als Trauerelixier gesammelt wird.
    In der Homöopathie wird der Saft der grauen Bernharddistel als ein sicheres Mittel gegen ins Kraut schießende Lebensfreude benutzt. Rolf Michaelis schreibt in seinem Aufsatz "Was uns noch im Winter blüht" (In: Zeitschrift für Pflanzenfreunde. I,1; mehr nicht erschienen): »Die Bernharddistel vollendet sich im Frost. Ihre amethystblauen Blüten werden zur Chiffre des Winters: der Triumph der Form über das Verwelken.«
    Chemische Untersuchungen haben ergeben, daß Kälte bei der Pflanze einen verschönernden Mumifizierungsprozeß auslöst. Sie kann dann geradezu mit den Eisblumen am Fenster der Innerlichkeit konkurrieren.
    Die Suhrkamp-Universalgärtnerei hat sich diesen Umstand zunutze gemacht und verkauft tiefgefrorene graue Bernharddistelblüten an Sammler und anderweilig Verzweifelte. »Was dem einen schöne Trauer, füllten den anderen die Kasse«, sagte schon Heinrich Heine.


    *


    Fritz Schönborn: Deutsche Dichterflora.
    Anweisungen zum Bestimmen von Stilblüten, poetischem Kraut und Unkraut.
    München 1980: Carl Hanser Verlag. S. 25f.

    *
    Diese lustige poetoflorische "Bestimmungbuch" enthält noch viele Pflanzenporträts von deutschsprachigen Autoren, gefertigt von Fritz S c h ö n b o r n, der Herbert Heckmann heißt.

    Eine kleinere Reportage, nicht nur Münchhausen betreffend:


    Baltische Porträts
    Folge B – Themen und Figuren


    [size=18px]Freiherr Hieronymus von Münchhausen - wie kommt denn der Lügen-Baron ins Baltikum?[/size]


    Ja, nun, was war er denn?
    Ein Kriegsknecht, pardon: Baron - 1738 holte ihn, den ehemaligen Pagen, Anton Ulrich von Braunschweig als Soldat nach Russland; beide - mit vielen anderen, unterprivilegiert Gezwungenen oder adelig Freiwilligen - nahmen am russisch-türkischen Krieg teil. Für 1741 vermuten Münchhausen-Forscher ihn im russisch-schwedischen Krieg in Finnland
    Und 1744, am 2. Februar, heiratete er eine livländische Adelige, die Jacobine von Dunten aus dem Hause Ruthern. Okay, also als Obrist und interessierter Teilnehmer an Gelagen und Festen und offen für Schwänke und ulkige Geschichten...
    Auf seine Spuren stieß ich bei einer Urlaubsfahrt entlang der Weser: Bodenwerder... Eine überraschende Entdeckung: das Städtchen, das Museum, die Erkundung der Ausstellung.


    Deshalb füge ich hier einige Adressen ein, wenn man sich einen virtuellen Besuch in Bodenwerder leisten mag:


    Die Schulenburg ist das eigentliche Münchhausen-Museum in Bodenwerder:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    [Blockierte Grafik: http://www.bodenwerder.de/rathaus-start.jpg]
    *
    Über den freiherrlichen Erzähler ist hier mehr zu erfahren:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    Über die bewunderswerten Preisträger (z.B. Dieter Hildebrandt u.a.) des (leider fast unbekannten) Münchenhausen-Preises finden sich hier viele, lobenswerte Gutnachrichten:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    Einen - pardon: zwei - aus der Schar der heutigen Gern-und Erfolgslügner, als Münchhausianer in Bodenwerder geehrt, möchte ich hier präsentieren:


    [Blockierte Grafik: http://www.bodenwerder.de/ftp/bilder/mhausenpreis1998.jpg]




    Münchhausens Wunderhorn, frosterprobt:


    http://www.literaturatlas.de/~ld1/museum/horn.jpg



    *
    Aber - was nun: Märchen...?
    Oder der Münchhausen als Märchenerzähler? Er hat doch nicht russische Märchen oder Schwänke als seine eigenen Erlebnisse ausgegeben...?


    Die Letten haben dem Münchhausen einen Ehrenplatz bewahrt:
    Auch den berühmtesten deutschen Fantasten aller Zeiten, den Freiherren von Münchhausen, zählt Riga zu den seinen. Von 1739 bis 1750 hat er in Riga gewohnt und in der Armee des russischen Zaren gedient. Im Februar 1744 eskortierte er durch Riga die Prinzessin von Anhalt-Zerbst, Sophie Friederike Auguste, die spätere Kaiserin von Russland, Katharina II., die Große.


    In Dunte/Lettland (nahe Riga) - das Münchhausen-Gedenkzimmer


    In Dunte lädt das Münchhausen-Museum zum Verweilen ein. Hier soll er sich selbst am "Zopf aus dem Sumpf gezogen" haben...; in Wahrheit hat er hier am 2. Februar 1744 geheiratet.


    Wir verlassen den Gauja-Nationalpark und fahren auf der A1 an der Küste entlang Richtung Estland. Kurz vorm Örtchen Dunte liegt auf der linken Seite das Münchhausen-Gedenkzimmer. "Eintritt für Lügner verboten" steht auf deutsch an der Tür. Ganz in der Nähe lebte nämlich Freiherr Hieronymus Karl Friedrich von Münchhausen sechs Jahre mit seiner Frau Jakobine von Dunte(n) (er war von 1740 - 50 Offizier im Rigaer Kürassierregiment). Ein Stück weiter im Örtchen Lielupe stehen noch die Trümmer der Kirche, an deren Turm Münchhausen sein Pferd angebunden haben soll.
    Dunte(n) - Münchhausen-Gedenkzimmer


    *


    Aber, nun, wie verlaufen Münchhausens Fahrten, d.h. diese Ge-Fahren, die er selber so glänzend besteht, indem er - gut versorgt mit Speisen und Getränken aller Art - sie erfindet...?


    Also, wie erzählt er von sich und seinen Phantasien?


    Schon früh gab es die deutsche Ausgabe in England:


    [Blockierte Grafik: http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchen_deutschland/muenchhausen/images/titelblatt.jpg]



    Hier die erste Seite der Bürgerschen Übersetzung von Münchhausens Abenteuern:


    http://gutenberg.spiegel.de/buerger/muenchhs/muenchhs.htm




    Die Reisen und Abenteuer des Baron von Münchhausen


    Aus dem ersten Kapitel:


    Die Reise nach Rußland und St. Petersburg


    Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Polen, Kur- und Livland, welche nach der Beschreibung aller Reisenden fast noch elender sind als die Wege nach dem Tempel der Tugend, endlich, ohne besondere Kosten hochpreislicher, wohlfürsorgender Landesregierungen, ausbessern müßte. Ich reisete zu Pferde, welches, wenn es sonst nur gut um Gaul und Reiter steht, die bequemste Art zu reisen ist. Denn man riskiert alsdann weder mit irgendeinem höflichen deutschen Postmeister eine Affaire d'honneur zu bekommen, noch von seinem durstigen Postillion vor jede Schenke geschleppt zu werden. Ich war nur leicht bekleidet, welches ich ziemlich übel empfand, je weiter ich gegen Nordost hin kam
    Nun kann man sich einbilden, wie bei so strengem Wetter, unter dem raschesten Himmelsstriche, einem armen, alten Manne zumute sein mußte, der in Polen auf einem öden Anger, über den der Nordost hinschnitt, hilflos und schaudernd dalag und kaum hatte, womit er seine Schamblöße bedecken konnte.
    Der arme Teufel dauerte mir von ganzer Seele. Ob mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über ihn her. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Himmel, die dieses Liebeswerk ganz ausnehmend herausstrich und mir zurief. »Hol' mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!«
    Ich ließ das gut sein und ritt weiter, bis Nacht und Dunkelheit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf zu hören noch zu sehen. Das ganze Land lag unter Schnee; und ich wußte weder Weg noch Steg.
    Des Reitens müde, stieg ich endlich ab und band mein Pferd an eine Art von spitzem Baumstaken, der über dem Schnee hervorragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder und tat ein so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieder aufgingen, als bis es heller lichter Tag war. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorf auf dem Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch hörte ichs bald darauf irgendwo über mir wiehern. Als ich nun emporsah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wetterhahn des Kirchturms gebunden war und von da herunterhing. Nun wußte ich sogleich, wie ich dran war. Das Dorf war nämlich die Nacht über ganz zugeschneiet gewesen; das Wetter hatte sich auf einmal umgesetzt, ich war im Schlafe nach und nach, so wie der Schnee zusammengeschmolzen war, ganz sanft herabgesunken, und was ich in der Dunkelheit für den Stummel eines Bäumchens, der über dem Schnee hervorragte, gehalten und daran mein Pferd gebunden hatte, das war das Kreuz oder der Wetterhahn des Kirchturmes gewesen.
    Ohne mich nun lange zu bedenken, nahm ich eine von meinen Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glücklich auf die Art wieder an mein Pferd und verfolgte meine Reise.
    Hierauf ging alles gut, bis ich nach Rußland kam, wo es eben nicht Mode ist, des Winters zu Pferde zu reisen. Wie es nun immer meine Maxime ist, mich nach dem Bekannten »ländlich sittlich« zu richten, so nahm ich dort einen kleinen Rennschlitten auf ein einzelnes Pferd und fuhr wohlgemut auf St. Petersburg los. Nun weiß ich nicht mehr recht, ob es in Estland oder in Ingermanland war, so viel aber besinne ich mich noch wohl, es war mitten in einem fürchterlichen Walde, als ich einen entsetzlichen Wolf mit aller Schnelligkeit des gefräßigsten Winterhungers hinter mir ansetzen sah. Er holte mich bald ein; und es war schlechterdings unmöglich, ihm zu entkommen. Mechanisch legte ich mich platt in den Schlitten nieder und ließ mein Pferd zu unserm beiderseitigen Besten ganz allein agieren. Was ich zwar vermutete, aber kaum zu hoffen und zu erwarten wagte, das geschah gleich nachher. Der Wolf bekümmerte sich nicht im mindesten um meine Wenigkeit, sondern sprang über mich hinweg, fiel wütend auf das Pferd, riß ab und verschlang auf einmal den ganzen Hinterteil des armen Tieres, welches vor Schrecken und Schmerz nur desto schneller lief. Wie ich nun auf die Art selbst so unbemerkt und gut davongekommen war, so erhob ich ganz verstohlen mein Gesicht und nahm mit Entsetzen wahr, daß der Wolf sich beinahe über und über in das Pferd hineingefressen hatte. Kaum aber hatte er sich so hübsch hineingezwänget, so nahm ich mein Tempo wahr und fiel ihm tüchtig mit meiner Peitschenschnur auf das Fell. Solch ein unerwarteter Überfall in diesem Futteral verursachte ihm keinen geringen Schreck; er strebte mit aller Macht vorwärts, der Leichnam des Pferdes fiel zu Boden, und siehe, an seiner Statt steckte mein Wolf in dem Geschirre. Ich meines Orts hörte nun noch weniger auf zu peitschen, und wir langten in vollem Galopp gesund und wohlbehalten in St. Petersburg an, ganz gegen unsere beiderseitigen respektiven Erwartungen und zu nicht geringem Erstaunen aller Zuschauer.
    *
    Ein Textverzeichnis ist einzusehen bei:
    http://www.sagen.at/texte/maer…hhausen/muenchhausen.html


    *
    Hier erleben wir die hauptsächlichen Vorzüge und Stilkriterien der Münchhausiaden, als einen Sondertyp des erzählerischen Schwanks:


    1. die allerwichtige Hauptperson: Baron selbst, sein herrschaftliches Stilgefühl, das außerordentlich, aber gleichsam selbstverständliche Selbstbewußtsein des Helden,
    2. die Herausforderung der Situation oder Aufgabe (Reise nach St. Petersburg),
    3. die Widrigkeiten der Reise als selbstverständliche Herausforderung,
    4. die Leistungen des selbstlosen, umsichtigen, kompetenten Barons, mit den Schwierigkeiten der Umstände, des Wetters, der Gegenspieler, der feindlichen Natur fertigzuwerden.
    5. Die einzigartige, groteske Form, die auftretenden, lebensgefährlichen Probleme zu lösen, durch Beherztheit, Kühnheit und Kraft.
    6. Ein sonderbar realistischer, schnörkelloser Stil, seine wunderbaren Erlebnisse und Taten lakonisch anzuzeigen. Die Aufschneiderei gestaltet sich als humor- und affektvoller Auftritt eines Alleskönners.



    Vergleich mit einem Märchentext:


    Ein Märchen aus Estland, das phantastisch und unterhaltsam ist - und eine reelle, d.h. wahre Münchhausiade sein könnte...



    Zwei Leichen und ein schwanzloses Pferd


    Es waren einmal zwei Bauernwirte: der eine war reich, der andere war arm. Der Arme ging zum Reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Holz führen könne; er bekam das Pferd auch, aber ohne den Schlitten. Der Arme nahm es nun, ging in den Wald und band das Holzfuder mit einem Strick an den Schwanz des Pferdes; aber auf der Heimfahrt riß der Pferde­schwanz ab. Der Arme brachte das Pferd wieder zum Rei­chen zurück und bedankte sich aufs schönste, aber das Pferd hatte keinen Schwanz mehr.
    Der Reiche verklagte den Armen vor dem Gericht. Zum Gericht ging der Reiche mit seiner Frau und seinem Sohn, der Arme wanderte allein hinter ihm drein. Wegen der Kälte betraten sie alle eine Schenke. Der Reiche bestellte sich Bier und Schnaps, um warm zu werden, die Frau mit dem Sohn machte es sich am Ofen bequem, um sich ebenfalls zu wär­men, und der Arme kletterte auf den Ofen. Der Arme schloß die Augen, um nicht zu sehen, wie der Reiche trank; er schlummerte aber ein, stürzte vom Ofen genau auf den Sohn des Reichen herab und schlug ihn zu Tode. Auf diese Weise war er schon doppelt schuldig.
    Auf dem Wege zum Gericht mußten sie noch über einen Fluß gehen. Der Arme ging über die Brücke, gerade als ein alter Mann unten auf dem Eise durchfuhr. Der Arme tat einen Fehltritt, stürzte von der Brücke gerade dem alten Mann auf den Kopf und schlug ihn ebenfalls zu Tode. Auf diese Art war er schon dreifach schuldig und dachte, daß man ihn jetzt natürlich hängen werde.
    Da fand er am Wege einen Stein, ungefähr ebenso groß wie ein Haufen von dreihundert Talern. Der Arme band den Stein in sein Tuch und sprach zu sich selbst: "Wenn ich einmal zum Tode verurteilt bin, so mag auch mein Richter kre­pieren: ich werfe ihm mit dem Steine den Schädel ein." So kamen sie nun alle zum Galgen ins Gericht.
    Der arme Mann wartete auf das Urteil und hob seine Hand mit dem Stein in die Höhe, um ihn, wenn er zum Tode verur­teilt würde, augenblicklich dem Richter an den Kopf zu wer­fen. Der Richter aber dachte, daß der Mann ihm dreihundert Taler zeige, und fällte das Urteil folgendermaßen: Der Rei­che solle sein Pferd dem Armen überlassen, bis dem Pferde wieder ein Schwanz gewachsen sei; auch seine Frau solle er dem Armen geben, bis sie von diesem ein neues Kind geboren habe, dann solle er Pferd, Frau und Kind zurückerhalten; was drittens den alten Mann anlange, so wäre der sowieso bald von selbst gestorben, deshalb könne der Richter darüber kein Urteil fällen. Damit war das Gericht zu Ende, und alle gingen nach Hause.
    Am nächsten Morgen eilte der Arme sofort zu dem Reichen und verlangte das Pferd und die Frau, um sich unver­züglich an die vorgeschriebene Arbeit machen zu können. Doch der Reiche bat ihn, sich nicht zu bemühen, er selber wolle schon die Sache mit der Frau in Ordnung bringen und dem Pferde einen Schwanz wachsen lassen. Der Arme war damit nicht einverstanden. Nun, da gab ihm der Rei­che dreihundert Taler Abschlagsgeld, und der Arme ging fröhlich nach Hause. Hinterdrein schickte der Richter sei­nen Diener nach den dreihundert Talern, der Arme aber klagte, woher er dreihundert Taler nehmen solle. Der Diener erinnerte ihn daran, daß er sie ja im Gericht gezeigt habe.
    Nun erklärte der Arme: «Ich habe nur einen Stein gezeigt: wenn der Richter nicht zu meinen Gunsten entschieden hätte, so hätte ich ihm mit dem Stein den Schädel eingeworfen. Diesen Stein kann ich ihm freilich mit Vergnügen abtreten.»
    Als der Richter das hörte, da war er selber noch froh darüber, daß er es unbewußt verstanden hatte, so zu urteilen, daß er keinen Stein an den Kopf bekommen hatte, und sprach: «Gott sei Dank, daß die Sache noch so abgelaufen ist!»


    Dieses Märchen wird dem AaTh-Typus 1600 der Märchenforscher A. Arne und S. Thompson zugeordnet: dem Motiv "Stein für den Richter".
    Zuerst veröffentlicht in der Sammlung, die Löwis of Menar herausgab: Finnische und estnische Märchen. Jena 1922.
    Abdruck nach der Ausgabe "Märchen des Baltikums". Hrsg. von Hans-Jörg Uther. Reinbek 1996. Rororo 35162. S. 316ff. Märchen Nummer 78.


    Die virtuose Prahlerei - Münchhausens Mauldrescherei:


    Die Geschichte hat so viel eigene Märchenkraft, das ich sie in ihrem erzählerischen Gehalt und ihrer Typyik abgrenzen möchte von dem üblichen, pompösen Münchhausen-Schwank:


    * Sie geht von der sozialen, weitgehend bekannten Alltags-Realität aus.


    * Die leittypischen Figuren sind Standes- und Berufsvertreter,
    meist in ihren sozialen Gegensätzen.


    * Eine glaubhafte Unrechtssituation tritt auf, die vertuscht werden soll.


    * Der Problemkern ist real, ein Streif- und Konfliktfall in der Alltagswelt.


    * Einbezug von familiär und gesellschaftlich erkennbaren Figuren.


    * Es gestaltet sich ein verwickelter Lösungsweg von höchstem
    Überraschungswert.


    * Schlußendlich: günstige, unverhoffte Konfliktlösung.
    Intention ist herrschaftlich ungebundenes Prahlen, virtuoses Angeben
    und Verherrlichen toll-dreister Erlebnisse und Künste; ohne
    realistischen Bezug; keinerlei sozialkritische Einschlüsse.)



    Fazit: Literarische Motive oder volkstümlich erzählte und überlieferte Keimzellen für die Münchhausen-Tollheiten habe ich in livländischen Vorlagen (Märchen, "Pratchen", Schwänken, Sagen) nicht finden können.

    Eine zweite Interpretation:


    Werner Weber:


    Interpretation zu Fontanes „Es kribbelt und wibbelt weiter“



    Es gibt Gedichte, die sagen alles, was gesagt sein soll. Und es gibt andere Gedichte, die verschweigen das meiste; oder besser: sie setzen es voraus, tippen es nur an, mit einem Wort, mit einer Wendung - das Gedicht wird zur Kurzmeldung, hinter welcher große Geschichten mitlauten; es wird zur Unterhaltung zwischen Gleicherfahrenen, zwischen Weggenossen, die sich auf einen Wink hin verstehn, weil sie dieselbe Gegend durchwandert haben und nun wissen, was dort links und rechts geschah. Gegend des Geistes, des Glaubens, des Zweifels und der Hoffnung. Um solche Gedichte erfassen und im Erfassen genießen zu können, ist Besinnung nötig. In dem Gedicht «Es kribbelt und wibbelt weiter» besinnt sich ein Weggenosse und kommt durch das Besinnen zu einem Schluß. Zu wem redet er? Zum Gefährten, zu mir, zu dir? Oder ist er sich selber Gefährte und spricht sich selber zu? Selbstgespräch? Zwiegespräch? Wohl das eine im andern versteckt, und so wird der Schluß, wird die Folgerung, wird die Belehrung höflich - denn ich kann sie für mich oder für den ändern gelten lassen; ich bin frei vor den Folgen dieser Unterhaltung.


    Der Dichter, der da spricht, ist kein Moralberserker. Aber woher weißlich das? Wo steht es in dem Gedicht? Es «steht» in der Art, wie der Dichter spricht: beiläufig, gewöhnlich, dem Boden nach. Er plaudert sich am Großen, Schrecklichen, Er­habenen vorbei - «Ararat», «apokalyptische Reiter», «Gol­gatha» ; und wenn der Geist und die Seele an die Arbeit wol­len, um das Große, das Schreckliche, Erhabene zu fassen, dann sind sie schon im Zerstreuungsrefrain «Es kribbelt und wib­belt weiter». Vor dieser Sprache bin ich frei. Und so geschieht dann bei solchen Gedichten das Merkwürdige: Man drängt sich ihnen auf, weil sie sich selbst einem nicht aufdrängen - die listige Gleichgültigkeit ihrer Worte zieht uns an wie die listige Spröde einer Schönen.


    «Die Flut steigt bis an den Ararat.»


    Das Dichten und Trachten der Menschen war bös. Es reute den Schöpfer, «daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden»; er wollte sie wieder vernichten und mit ihnen alles Vieh, alles Gewürm und die Vögel unter dem Himmel. Nur Noah war ersehen, die Vernichtung zu überdauern, Noah mit seiner Sippe und mit ihm «allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar .. . daß sie lebendig bleiben bei dir». Auf Geheiß des Schöpfers wurde die Arche gebaut, dreistöckig, mit vielen Kammern; die Fugen der Schiffswand strich Noah zu mit Pech; oben blieb ein kleines Fenster offen. Die Tür zur Arche war in der Mitte einer Längsseite; da hindurch ging; Noah mit den Seinen und mit dem erwählten Getier, als der Regen einsetzte; «und der Herr schloß hinter ihm zu». Vierzig Tage und vierzig Nächte fiel der Regen. Das Wasser stieg »und überstieg die Gebirge. «Also ward vertilgt alles, was auf dem Erdboden war.» Als das Wasser zurückging, ließ sich die Arche nieder auf dem Gipfel des Berges Ararat. War die: Erde in den Tiefen schon frei und trocken? Noah ließ ein«en Raben aus der Luke fliegen; aber der meldete ihm nichts. Er ließ eine Taube wegfliegen; sie kehlte zurück, «denn das Gewässer war noch auf dem ganzen Erdboden». Nach sieben Tagen sandte er abermals eine Taube aus - und: «Die kam zu ihm zur Abendzeit, und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's im Munde.» Die Erde, der Lebensort wird wieder offen sein. Gott setzt den Regenbogen in die Wolken: Zeichen des Bundes zwischen Gott und der Erde.
    Vorher fiel das Wort: «Seid fruchtbar und mehret euch und reget euch auf Erden ...» - Und wie schließt die erste Strophe des Gedichts? «Es kribbelt und wibbelt weiter.»

    «Es sicheln und mähen von Ost nach West / Die apokalyptischen Reiter.»


    - Das Lamm öffnet die Siegel am Buch der göttlichen Ratschlüsse. Beim Lösen des ersten Siegels erscheint der Reiter auf dem weißen Pferd, mit Bogen und Krone; er ist das Gleichnisbild für den Sieger, den siegreichen Christus. Beim Lösen des zweiten Siegels der Reiter auf dem roten Pferd mit großem Schwert; beim Lösen des dritten der Reiter auf dem schwarzen Pferd, die Waage in der Hand; zuletzt der Reiter auf dem fahlen Pferd - es sind die Gleichnisbilder für die drei Strafengel, für den Krieg, für die Hungersnot und den Tod; dem ersten ist gegeben, «den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander er­würgten»; und der Name des dritten ist «Tod»; «die Hölle folgte ihm nach». - Der Dichter wird bei seiner Arbeit aber nicht nur den Bericht aus der Offenbarung des Johannes ge­genwärtig gehabt haben, sondern auch die von der Apoka­lypse angeregten Bildberichte der Kunst; denjenigen Dürers, denjenigen Böcklins.

    «Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha.»


    Da scheint beim Einsatz der Strophe das Große, Schreckliche, Erhabene, welches bis dahin im Tarnspiel des Hinplauderns fast ganz verborgen werden konnte, blank hervorzutreten. Der Sprache vergeht das Lächeln, und dort in dem «Märtyrer hier und Hexen da» glaubt man es ihr nicht - und nun auch nicht in dem «Doch es kribbelt und wibbelt weiter». Das «doch» ist verräterisch; in ihm bringt sich die Sprache, die ihr Lächeln selbst nicht mehr glaubt, mit leisem Ruck noch einmal zum Lächeln, als sei sie erschrocken über die Nahe des Großen, Schrecklichen, Erhabenen. Und so geht es jetzt rasch auf den Schluß zu, als sagte eine heimliche Stimme: Mach schnell, sonst merkst du, wie ungeheuer alles ist. «Was liegt an dir und deinem Glück?» Ist das die milde Ruhe der Selbstbescheidung? Oder Schmerz über die eigene Nichtigkeit? Oder Trauer über die eigene Ohnmacht? Oder Vertrauen in eine Vorbestimmung, welche dein Würfeln schon im Becher be­fiehlt, wie sie dann auf denn Tisch liegen müssen? Waltet Vertrauten oder nur Ergebung? Ist's schwer oder leicht? Es ist wohl alles in allem - wie das Menschendasein selbst, von welchem die vier Strophen reden. «Weiter»; viermal fällt das Wort auf die wichtige Stelle am Strophenschluß; viermal wird es; durch ein Reimwort vorgemeldet. Und dann bleibt uns sein Nachhall im Ohr, über den Schluß des Gedichtes hinaus: weiter. Und vor uns streckt sich der Weg, welchen Menschen gehen, lebend, überlebend.


    *
    (W.Weber. Tagebuch eines Lesers. Bemerkungen und Aufsätze zur Literatur. Olten und Freiburg i. Br. 1965. S. 65ff.)

    INTERPRETATION VON KUNERT
    zu Fontanes Gedicht "Es kribbelt...":


    GÜNTER KUNERT: FONTANE - MISANTHROPISCH


    Zur menschlichen Hybris gehört es ganz offenkundig, kollektive Erfahrungen weder zweckdienlich vermitteln noch als Lehre nutzen zu können. Eine Tatsache, gegen die sich unser Verstand sträubt, da wir uns unzweifelhaft für vernünftige Wesen halten und diese Selbstüberschät­zung mit allen irrationalen Mitteln zu verteidigen pflegen. Manchmal jedoch läßt sich die trostlose Wahrheit unserer genetisch bedingten Beschränktheit nicht wunschgemäß verheimlichen. Irgendeiner kommt und lüftet den Schleier über dem verdrängten Faktum. Unerwarteterweise hat dies ein Autor getan, dem eher die Bezeichnung human, gar humanistisch angeheftet worden ist: Theodor Fon­tane, der Erzähler einer Berlinschen und märkischen Klein weit. In diesem kaum bekannten Gedicht erweist er sich als resignativer Misanthrop - falls man gewillt ist, eine desillusionierte Anschauung der Menschheit so zu benen­nen.
    Was während der Epoche noch den glaubhaften Schein ei­ner hoffnungsträchtigen Entwicklungsfähigkeit besaß, ist hier mit dem Neutrum »Es« schon radikal disqualifiziert. Dieses »Es« reduziert das Gemeinte, Menschheit eben, auf seinen rein organischen Charakter, der jedoch durch die entsprechenden Verben »kribbeln« und »wibbeln« as­soziativ in Bezug zum Insektenbereich, zum Ameisenhau­fen gesetzt wird. Unter diesem Aspekt erweist sich Ge­schichte, wie andeutungsweise in den ersten drei Strophen dargestellt, als die totale Sinnlosigkeit. Fontane wird hier plötzlich dem Vorläufer und Geistesverwandter des Philo­sophen Theodor Lessing, dessen Werk »Geschichte als Sinngebung; des Sinnlosen« wie die spätere theoretische Bestätigung der Fontaneschen Verse gedacht wirkt.
    Fontane, auf einer Lese-Reise im Jahr 1989, würde gewiß die berüchtigte Frage zu hören bekommen, wo denn das Positive bleibe und ob denn sein Pessimismus nicht weit­hin Lähmung verbreite und zum Suizid anstifte. Dann müßte er wohl erwidern, daß, selbst wenn eine winzige Minorität solche Konsequenzen) aus den unbestreitbaren Einsichten zöge, die Mehrheit dennoch weiterkribbeln und -wibbeln würde. Er könnte zum Beispiel darauf hin­weisen, daß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so­gar fünfzig Millionen Menschern mehr auf der Erde exi­stierten als zuvor und daß gegenwärtig, trotz global sinkender Lebens- und Umweltqualität, bereits die Sechs-Milliarden-Grenze überschritten sei, ohne daß ein Einhalten des Kribbelns und Wibbelns abzusehen wäre. Und, Herr Fontane, was unternehmen Sie gegen diese heraufziehende Katastrophe? Wie kämpfen Sie dagegen an?
    In der letzten Strophe nennt der Schriftsteller sein Credo, das nun auch nicht gerade ermutigend klingt und die Leser enttäuschen muß. Es ist nämlich die Forderung nach dem Verzicht auf Individualität, auf individuelles Dasein: Man habe sich selber zurückzunehmen und sich ins doch offen­kundig Unabänderliche zu schicken. Erst wer die Waffen in diesem sinnlosen Kampf streckt und kapituliert, wer sich mit den unveränderlichen Gegebenheiten abfindet, fände zu einer ruhigen Heiterkeit. Ein uraltes Rezept, das wir bereits bei Marc Aurel in den »Selbstbetrachtungen« nachlesen können, wo es heißt: »Zieh dich in dich selbst zurück! Die in uns zur Herrschaft bestimmte Vernunft ist darauf angelegt, ihr Genügen in sich selbst zu finden, wenn sie das Rechte tut und dabei Frieden in ihrer Seele hat.« Und fernerhin: »Es ist sinnlos, dem Schicksal zu grollen; denn es nimmt keine Klagen an.« Aber Fontanes Gedicht schließt nicht mit billigem Trost, mit einer Flucht zu metaphysischen Mächten. Obgleich es die Frage nach dem persönlichen Glück mit verneinendem Unterton formuliert, bleibt die Frage dennoch zur Beant­wortung dem Leser überlassen. Und die allerletzte, refrainartige Zeile enthält den Stachel der Beunruhigung, weil sie den Blick nicht von den Termiten lassen kann, mit denen wir identisch geworden sind.
    *
    (Aus: Frankfurter Anthologie. Bd. 4. S. 295ff.)


    Meine Meinung:
    Nein, Fontane ist auch angesichts von Flutkatastrophen nicht destruktiv-melancholisch; er nimmt solche Menschheitskatastrophenthemen auf, ist mitteilsam über Umstände, Befürchtungen, auch hoffnungsvoll in Bezug auf das Leben der Mesnchen, das weiterging, seit der Frühgeschichte, wie sie im jüdischen AT aufgezeichnet ist.
    Sein religiös wacher Blick geht auch über - als Ausgaben aus dem A.T. - zur nächsten religionsgeschichtlichen Station – der Begründung des Christentums durch die Kreuz-Akklamation Christi, sein Urteil fällt hier etwas despektierlicher aus.
    Er denkt an christlichen Entgleisungen - parallel zu den Fluten der Natur - nennt er sie: Mördereien an "Märtyrer" und "Hexen" - wobei er keine Schuldzuweisungen vornimmt, aber er fordert uns dazu heraus - wenn wir schon den "Gott" glauben, der - lange vor seiner Ermorderung - die "Zehn Gebote" der alten Juden ehrte und weiterempfahl und zwei neue verkündet: Nächstenliebe und Feindesliebe. Vermächtnisse des Pazifismus...
    Auf dieser christlich-religiösen Ebene vermag Fontane ehrlichen Herzens nicht an Gerechtigkeit, Glück, Freiheit, Ewigkeit und Gottes Frieden zu denken.
    Er empfiehlt uns - lediglich - realistisch-angemessen - Heiterkeit in der Ergebung.

    Wer hat Lust zur Interpretation....:


    Fontane – mit einem eigenartig „aktuellen“ Text – über Menschenvernichtung durch „Flut“ und Rettung am Berge „Ararat“ - und über den Überlebenswillen der Menschen:


    Theodor Fontane:
    Es kribbelt und wibbelt weiter


    Die Flut steigt bis an den Arrarat,
    Und es hilft keine Rettungsleiter,
    Da bringt die Taube Zweig und Blatt -
    Und es kribbelt und wibbelt weiter.


    Es sicheln und mähen von Ost nach West
    Die apokalyptischen Reiter,
    Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
    Es kribbelt und wibbelt weiter.


    Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
    Es brennen Millionen Scheiter,
    Märtyrer hier und Hexen da,
    Doch es kribbelt und wibbelt weiter.


    So banne dein Ich in dich zurück
    Und ergib dich und sei heiter,
    Was liegt an dir und deinem Glück?
    Es kribbelt und wibbelt weiter.
    *
    (E.: 1885 - Juni 1888)


    *
    Wer hat Lust, sich zu äußern mit Hinweisen, mit einer Interpretation…?


    Angaben:


    (Als ED in: „Zur guten Stunde“. Bd.3, 1889, NA, Sp.23 [Oktober 1888]; dann in den Bänden „Gedichte“ 1889, 1892, 1898.)
    Im DL/SNM Marbach befinden sich eine Disposition und zwei Entwürfe zu diesem Gedicht. Die Disposition (Tinte) lautet:
    1. Strophe. Noah. Die Welt ist weg. Da sieh, sie ist wieder da. Die Taube fliegt. »Und es kribbelt und wibbelt weiter.«
    2. Strophe. Christus. Ein Gott wird gekreuzigt, der Tempelvorhang zerreißt »und es kribbelt und wibbelt weiter«.
    3. Strophe. Hunger, Krieg, Pest. Die apokalyptischen Reiter, »es kribbelt und wibbelt weiter«.
    4. Strophe. Du kleines Ich. Was bist du? was klagst du? Begreife dein Nichts, sei heiter, »es kribbelt und wibbelt weiter«. Dein Ich ist nicht. Sei heiter. Es kribbelt und wibbelt weiter.


    Am Rand der Disposition Fontanes (und zwischen den Zeilen): Entwürfe für den Text mit Bleistift und Tinte (mit Tinte korrigiert).


    So lauten in dieser ersten Niederschrift:
    2,3 Aber die Lust am Leben sich nicht bannen läßt
    3,2 Der Blutstrom (korrigiert aus: Und das Blut) strömt tiefer und breiter / Doch alles als ob nichts geschah
    4,1 Banne allen Gram in dich zurück. - Der korri­gierte Entwurf weicht nur in 2,1 (Es ziehn in Geschwadern von Ost nach West) von der ersten Niederschrift auf dem Einzelblatt ab.


    In diesem Entwurf (Tinte) folgende Korrekturen: (mit Tinte) 2,1 nie rastend über gestr.: ewig 3,2 Millionen über gestr.: zehntausend; (mit Bleistift) 2,1 sicheln und mähen AV zu: ziehen, nie rastend; die AV 1,1 (stieg zu:steigt), 1,2 (half zu hilft), 2,3 (Und doch zu: Aber), 3,2 (Nun zu: Es) hat Fontane gestrichen bzw. für D nicht übernommen; ebenso nahm er die Korrektur in 1,2 (Es korr. aus: Und es) zurück und strich die Einfügungen in 3,3 (Für vor Märtyrer und für vor Hexen).


    Anmerkungen:

    *„Es kribbelt und wibbelt“: Nach Heinz Hölleke (Wirkendes Wort. Düsseldorf, Juli/August 1985) geht die Formulierung auf »Der Sächsische Prinzenraub« aus »Des Knaben Wunderhorn« und auf ein Guckkastenlied (abgedruckt bei Büsching und von der Hagen: „Sammlung deutscher Volkslieder“. 1807, S. 55 f.) zurück; letzteres lieferte auch die Verknüpfung mit der Arche Noah.
    Die 5. Strophe des Guckkastenliedes lautet:
    Auk die Arche Noah soll
    Sick hier präsentiere;
    Kribbli, wibbli, alles voll
    Von vierfüßke Thiere;
    Paar und Paar marschier sick ein,
    Auk faulest die auf zwei Bein,
    Die Familie Noah.


    * „Arrarat“(F.s Schreibweise): Ararat: Erloschener Vulkan im Hochland von Armenien; nach der falsch interpretierten Bibelstelle (1. Mose 8): Berg Noahs, auf dem die Arche landete. Noah hatte eine Taube ausgeschickt; als sie mit einem Ölblatt zurückkehrte, erkannte er, daß die Sintflut beendet war.


    * „apokalyptische Reiter“: Nach N.T., Offenbarung Joh. 6: die personifizierten, galoppierenden Menschengeißeln: Krieg, Hunger, Pest und Tod.
    *
    (Text, Angaben und Anmerkungen nach: Th. F.: GBA. Gedichte. Bd. 1. Aufbau-Verlag. 1995. S. 42; 460f.)

    Infos zu:
    Theodor Fontanes Gesellschaftsroman "Irrungen, Wirrungen“


    Ich verweise auf zwei Textausgaben:
    Universal-Bibliothek Nr. 8971
    Ullstein Fontane-Bibliothek Bd.12. Ullstein-TaBu 4519


    „Irrungen, Wirrungen“ - eine »Hurengeschichte« als Schullektüre?


    „Das gefeierte und verurteilte Buch ist nun da und präsentiert sich Dir im beifolgenden. Wirke für dasselbe; daß Münster [in Westfalen, mit Universität, Bischofsbehörden…] die Stätte dafür ist, ist mir freilich nicht wahrscheinlich. Vor acht Tagen war ich noch in Furcht, daß man über das Buch herfallen werde, um es zu verschlingen, aber nicht im guten Sinne; heute schon bin ich in Furcht, daß nicht Huhn nicht Hahn darnach kräht“ (Fontane an seinen Sohn Theodor, 17.2.1888. In: Frederick Betz (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente: Theodor Fontane: »Irrungen, Wirrungen«. Stuttgart 1979. RUB 8146. S. 76).


    In Fortsetzungen angeboten: eine meisterlich erzählte, problemorientierte Momentaufnahme aus Frühjahr und Sommer 1887: „Irrungen, Wirrungen“, mit dem provozierend verallgemeinernden Untertitel „Eine Berliner Alltagsgeschichte“ - Fontanes neuer Roman; er polarisiert die Leserschaft und droht ein Mißerfolg zu werden. Inhalt und Thematik des ‚Skandalbuchs’ werden von den Gegnern auf allzu knappe Formeln gebracht, die Kunstmittel ignoriert oder nur negativ vermerkt. Die literarische Darstellung der »unstandesgemäßen Liebe« und des »Verhältnisses« stößt auf heftige Ablehnung. In den Kreisen der Berliner Vossischen Zeitung fragt man schon beim Vorabdruck ungeduldig nach dem Ende der „grässlichen“ Hurengeschichte« (So die überlieferte Frage des Mitinhabers Müller an den Chefredakteur Friedrich Stephany. Überliefert durch Carl Wandrey. s. Betz. S. 86).


    Die moralische Ablehnung des Stoffes und die Schmähkritik des Romans beruhten auf zwei öffentlich noch nicht akzeptable, deshalb verschwiegene soziale Veränderungen, auf gesellschaftliche Faktoren:
    Im Bürgertum reagierte man verschnupft-indiginiert mit moralisch-religiöser Ablehnung auf das Beispiel einer „freien Liebe“.
    Und vom Adel her kam die selbstverständliche, resignierend-uneinsichtige Missbiligung der „Méssalliance“, der Auflösungserscheinung der privilegierten, ständischen Herrschaftsform mit den Mechanismen ihrer Familien- und Besitztumssicherungen.


    *
    Hinweise:


    Analyse von Walter Hettche: „Irrungen. Wirrungen“. Sprachbewußtsein und Menschlichkeit: Die Sehnsucht nach den „einfachen Formen“.
    In: Fontanes Novellen und Romane. RUB 8416. S. 136 – 156)
    *
    Ein guter Überblick zum Roman:
    http://www.landshut.org/members/msagerer/f_irrungen.htm
    *
    Zum Thema Realismus:
    http://www2.vol.at/borgschoren/lh/lh2a.htm

    Vom guten, närrischen, verspielten, aber traumhaft-geschickten "Hohler" habe ich schon berichtet...


    Was ich jetzt konsequent mir erlesen werde, ist das Werk Herman Melvilles in den neuen Übersetzungen.
    Ich bin - in Wunschzettelerfüllung - angefangen mit dem biografischen Band "Ein Leben. Briefe und Tagebücher", hrsg. v. Schmitz und Göske (bei Hanser).
    Was Melville schon im "Moby-Dick" religiös und geistig-philosophisch als Vermittlung von Arbeit, Leben, Lieben und Göttlichkeitsempfinden der Menschen, besonders der Männer, verarbeitet hat, das ist ein komplette, schauderliche Biologie, Ökologie und Anthropologie.


    Eugen Drewermanns Buch "Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein" hatte ich schon zum Geburtstag erhalten.


    *
    Ich bin gespannt auf andere weihnachtliche "Ansagen".


    Antonius - kein Ahab


    [Blockierte Grafik: http://www.adsofthepast.com/MOBY%20DICK-MED.jpg]

    Nachdem ich Elfriedische Jelineksigkeiten (besonders die Beilage in LITERATUREN 1/2-2005) über Kafka und Schiller; wo Schiller kafkasiert wird und F.K. platt & phrasenhaft nicht mehr schillern darf) weggelegt habe -


    ':blume:'


    habe ich mir den neuen Erzählband von Franz Hohler erfreut Kerzen mit einigen Teechen einverleibt: "Die Torte und andere Erzählungen" (Luchterhand 2004).


    Die "letzte" Story heißt dort "Überraschung", drei Seiten nur, sie ist die frapanteste; den Schluss verrate ich teilweise, da er nichts verrät, von dem was hier als Begegnung zwischen Mann und Frau - auf den Stufen zu den Galerien der Notre-Dame verläuft, wo die skurillen Vogelmenschen zur Besichtigung anlockten:
    Da stolpert ungeschickt eine Frau, die hinter einem bodygard von oben herabkommt; sie wird von dem aufsteigenden Ich-Erzähler aufgefangen -


    und
    "ich spürte einen Moment lang ihren Körper an meinem, und es war eine angenehme Überraschung, auf die sogleich noch eine angenehmere folgte. Nicht nur, daß sie sich dem Druck meiner Arme überließ, sie drückte ihrerseits ihren Körper aufs heftigste an meinen, klammerte meinen Kopf von hinten, sagte leise zu mir "Thank you, dear" und drückte ihre leicht geöffneten Lippen auf meinen Mund, ließ mich für eine Sekunde ihre Zunge spüren, löste sich dann von mir und ging mit dem Ruf 'I'm o.k.!' ihrem Begleiter nach... - ("Die Torte". S. 205)
    **
    Dann kommen noch vier Sätze, die diese Frau als Frau der, mhm, der männlichen und weiblichen Sehnsucht des Jahrhunderts ... identifizieren.
    Nein, es ist nicht die Jelinek.
    Aber es "ist" eine Fortuna vor ihrem Abgang, nicht die weltbekannte Pop-Ikone. Nein, keine dieser Medien-Attrappen, wie Jelinek sich auch schon präsentieren lässt, sondern ein erzähltes Glückchen.
    Ja, Hohlers Literatur ist schöner, beglückender - traumhaft wahr - ehrlicher, realistischer als gutgeschmierte Prosa aus dem Schreibrechner der E.J.
    *
    Mich würd' interessieren, wer hier Franz Hohler liest - und ob jemand schon an der literarischen "Torte" genascht hat.

    Cechov....:
    Kein Mumm
    (...)
    [Erzählschluss]


    - Merci, - flüsterte sie.
    Ich sprang auf und ging im Zimmer auf und ab. Die Wut hatte mich gepackt.
    - Merci wofür? - fragte ich.
    - Für das Geld...
    - Aber ich habe Sie doch betrogen, zum Teufel, ich habe Sie ausgeraubt! Ich habe Sie bestohlen! Wofür hier noch merci?
    - In anderen Stellungen hat man mir überhaupt nichts gegeben.
    - Nein? Das ist auch kein Wunder! Ich habe mir mit Ihnen einen Scherz erlaubt, habe Ihnen eine grausame Lektion erteilt.... Ich zahle Ihnen Ihre achtzig Rubel! Sie liegen da in dem Couvert für Sie bereit! Aber kann man denn so ein Sauertopf sein? Wieso protestieren Sie nicht? Wieso schweigen Sie? Kann man denn auf dieser Welt so zahnlos sein? So gar keinen Mumm haben?
    Sie lächelte säuerlich, und in ihrem Gesicht las ich: »Man kann!«
    Ich bat sie für die grausame Lektion um Verzeihung und gab ihr, zu ihrer großen Verwunderung, die ganzen achtzig. Sie sagte zaghaft merci und ging hinaus... Ich sah ihr nach und dachte: Leicht ist es auf dieser Welt, stark zu sein!
    (Soweit Peter Urbans Übersetzung)
    *
    Zu: "Sauertopf" - als Beschimpfung dieser hilflosen, jungen Kinderfrau; die Intention ist unsinnig; ich würde übersetzen: ... "Aber wie kann man nur so ein mutloses Menschchen sein? So feige...?"
    *
    (':sonne:')
    Ist das - d.h. dieser Erzählschluss - noch zur rechten Zeit gekommen?
    (':schmetterling:')
    Wer hat denn wohl vor dieser Klausur den russischen Text, gar die Übersetzung, gefunden? (Allein, ohne Hilfe...? Wer profitiert von dem Wissen? Was, wenn der Magister es erfährt?)