Münchhausen

  • Hallo,


    beim Rumstöbern bei Jokers bin ich auf zwei ältere Klassiker gestoßen, die heutzutage fast vergessen sind: "Der Eraclius des Otte" von Winfried Frey und "Der Oberhof" von Karl Immermann.


    Letzteres ist ja ein Teil des "Münchhausen", die eigentliche Geschichte ohne den eingeflochtenen Lügengeschichten.
    Dazu hätte ich ein paar Fragen:
    Lohnt es sich überhaupt den Oberhof zu lesen oder sollte man gleich zum Münchhausen greifen ?
    Welche Münchhausen-Version ist am besten, bzw. wer weiß wie sich die Münchhausen-Versionen von Bürger und immermann (bzw. gibt es noch andere Autoren ?) unterscheiden ?


    Danke für Eure Antworten,
    Zola

  • Zitat von "Zola"

    Hallo,


    beim Rumstöbern bei Jokers bin ich auf zwei ältere Klassiker gestoßen, die heutzutage fast vergessen sind: "Der Eraclius des Otte" von Winfried Frey


    Hallo Zola,
    den habe ich auch und auch noch nicht gelesen, schöne kleine gebundene Ausgabe.



    Zitat von "Zola"


    Welche Münchhausen-Version ist am besten, bzw. wer weiß wie sich die Münchhausen-Versionen von Bürger und immermann (bzw. gibt es noch andere Autoren ?) unterscheiden ?


    Wie peinlich,


    auch das steht bei mir - noch ungelesen - rum. Meine Augen sind immer größer als mein Zeitrahmen :redface: .


    Aber ich kann dir trotzdem Einiges darüber sagen:


    Bürger erzählt die Münchhausen- Geschichte in Anlehnug an den wohl originellen, aber nicht derart erzählerisch begabten Hieronymus von Münchhausen,*1720. Bürger hat die klassische Münchhausen-Gestalt erschaffen, die heute noch fast jeder 5. und 6. Klässler kennen lernt.


    Immermanns "Münchhausen" ist ein kulturkritischer Roman, in dem der bürgersche Münchhausen als Großvater des Helden figuriert, der infolge seines unseriösen Lebenswandels zu vielen zeitkritischen Betrachtungen Anlass gibt.


    Ich habe beide Romane bisher noch nicht gelesen, weil ich nicht so auf Lügengeschichten und Episodisches stehe, deshalb liegen beide Werke
    in nicht sehr aussichtsreicher Position auf meinem unendlichen SUB.
    Von Immermann habe ich allerdings während des Studiums "Die Epigonen" gelesen und das fand ich toll: sehr modern, Folgen der einsetzenden Industrialisierung ansprechend und mit ausdrucksvolller Charakterzeichnung. Insofern ist auch "Oberhof" bestimmt zu empfehlen.
    Inwiefern man ihn als in sich abgeschlossen bezeichnen kann, kann ich dir leider nicht sagen.


    Solltest du den Bürger oder den Immermann mal in einer Leserunde lesen wollen, sag mir Bescheid, das wäre ein Anreiz, eins der Bücher ganz nach oben auf den SUB zu versetzen.



    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Finsbury,


    danke für deine Antwort !


    Zitat von "finsbury"


    Meine Augen sind immer größer als mein Zeitrahmen :redface: .


    Hehe, das kenne ich sehr gut :-)


    Zitat von "finsbury"


    Solltest du den Bürger oder den Immermann mal in einer Leserunde lesen wollen, sag mir Bescheid, das wäre ein Anreiz, eins der Bücher ganz nach oben auf den SUB zu versetzen.


    Das wäre mal überlegenswert.. Allerdings bin ich mir schon fast sicher, wenn dann gleich den "ganzen" Münchhausen von Immermann zu lesen (gibt's vom Hanser-Verlag).


    Viele Grüße,
    Zola

  • Zitat von "Zola"

    Das wäre mal überlegenswert.. Allerdings bin ich mir schon fast sicher, wenn dann gleich den "ganzen" Münchhausen von Immermann zu lesen (gibt's vom Hanser-Verlag).


    Viele Grüße,
    Zola


    Hallo Zola,


    meine Ausgabe ist ein altes Insel-Dünndruckschätzchen, das ich vor vielen Jahren auf einem Ramschtisch entdeckt habe, ist aber der vollständige Text.
    Wie gesagt, eventuell können wir ja ein Münchhausen-Konglomerat mal als Leserundenvorschlag ins Auge fassen... . Es gibt mit Sicherheit noch mehr Derivate, ich müsste mal in Frenzels "Stoffe und Motive der Weltliteratur" nachsehen. By chance ...


    :winken:
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Eine kleinere Reportage, nicht nur Münchhausen betreffend:


    Baltische Porträts
    Folge B – Themen und Figuren


    [size=18px]Freiherr Hieronymus von Münchhausen - wie kommt denn der Lügen-Baron ins Baltikum?[/size]


    Ja, nun, was war er denn?
    Ein Kriegsknecht, pardon: Baron - 1738 holte ihn, den ehemaligen Pagen, Anton Ulrich von Braunschweig als Soldat nach Russland; beide - mit vielen anderen, unterprivilegiert Gezwungenen oder adelig Freiwilligen - nahmen am russisch-türkischen Krieg teil. Für 1741 vermuten Münchhausen-Forscher ihn im russisch-schwedischen Krieg in Finnland
    Und 1744, am 2. Februar, heiratete er eine livländische Adelige, die Jacobine von Dunten aus dem Hause Ruthern. Okay, also als Obrist und interessierter Teilnehmer an Gelagen und Festen und offen für Schwänke und ulkige Geschichten...
    Auf seine Spuren stieß ich bei einer Urlaubsfahrt entlang der Weser: Bodenwerder... Eine überraschende Entdeckung: das Städtchen, das Museum, die Erkundung der Ausstellung.


    Deshalb füge ich hier einige Adressen ein, wenn man sich einen virtuellen Besuch in Bodenwerder leisten mag:


    Die Schulenburg ist das eigentliche Münchhausen-Museum in Bodenwerder:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    [Blockierte Grafik: http://www.bodenwerder.de/rathaus-start.jpg]
    *
    Über den freiherrlichen Erzähler ist hier mehr zu erfahren:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    Über die bewunderswerten Preisträger (z.B. Dieter Hildebrandt u.a.) des (leider fast unbekannten) Münchenhausen-Preises finden sich hier viele, lobenswerte Gutnachrichten:
    http://www.bodenwerder.de/def2.htm
    *
    Einen - pardon: zwei - aus der Schar der heutigen Gern-und Erfolgslügner, als Münchhausianer in Bodenwerder geehrt, möchte ich hier präsentieren:


    [Blockierte Grafik: http://www.bodenwerder.de/ftp/bilder/mhausenpreis1998.jpg]




    Münchhausens Wunderhorn, frosterprobt:


    http://www.literaturatlas.de/~ld1/museum/horn.jpg



    *
    Aber - was nun: Märchen...?
    Oder der Münchhausen als Märchenerzähler? Er hat doch nicht russische Märchen oder Schwänke als seine eigenen Erlebnisse ausgegeben...?


    Die Letten haben dem Münchhausen einen Ehrenplatz bewahrt:
    Auch den berühmtesten deutschen Fantasten aller Zeiten, den Freiherren von Münchhausen, zählt Riga zu den seinen. Von 1739 bis 1750 hat er in Riga gewohnt und in der Armee des russischen Zaren gedient. Im Februar 1744 eskortierte er durch Riga die Prinzessin von Anhalt-Zerbst, Sophie Friederike Auguste, die spätere Kaiserin von Russland, Katharina II., die Große.


    In Dunte/Lettland (nahe Riga) - das Münchhausen-Gedenkzimmer


    In Dunte lädt das Münchhausen-Museum zum Verweilen ein. Hier soll er sich selbst am "Zopf aus dem Sumpf gezogen" haben...; in Wahrheit hat er hier am 2. Februar 1744 geheiratet.


    Wir verlassen den Gauja-Nationalpark und fahren auf der A1 an der Küste entlang Richtung Estland. Kurz vorm Örtchen Dunte liegt auf der linken Seite das Münchhausen-Gedenkzimmer. "Eintritt für Lügner verboten" steht auf deutsch an der Tür. Ganz in der Nähe lebte nämlich Freiherr Hieronymus Karl Friedrich von Münchhausen sechs Jahre mit seiner Frau Jakobine von Dunte(n) (er war von 1740 - 50 Offizier im Rigaer Kürassierregiment). Ein Stück weiter im Örtchen Lielupe stehen noch die Trümmer der Kirche, an deren Turm Münchhausen sein Pferd angebunden haben soll.
    Dunte(n) - Münchhausen-Gedenkzimmer


    *


    Aber, nun, wie verlaufen Münchhausens Fahrten, d.h. diese Ge-Fahren, die er selber so glänzend besteht, indem er - gut versorgt mit Speisen und Getränken aller Art - sie erfindet...?


    Also, wie erzählt er von sich und seinen Phantasien?


    Schon früh gab es die deutsche Ausgabe in England:


    [Blockierte Grafik: http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchen_deutschland/muenchhausen/images/titelblatt.jpg]



    Hier die erste Seite der Bürgerschen Übersetzung von Münchhausens Abenteuern:


    http://gutenberg.spiegel.de/buerger/muenchhs/muenchhs.htm




    Die Reisen und Abenteuer des Baron von Münchhausen


    Aus dem ersten Kapitel:


    Die Reise nach Rußland und St. Petersburg


    Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Polen, Kur- und Livland, welche nach der Beschreibung aller Reisenden fast noch elender sind als die Wege nach dem Tempel der Tugend, endlich, ohne besondere Kosten hochpreislicher, wohlfürsorgender Landesregierungen, ausbessern müßte. Ich reisete zu Pferde, welches, wenn es sonst nur gut um Gaul und Reiter steht, die bequemste Art zu reisen ist. Denn man riskiert alsdann weder mit irgendeinem höflichen deutschen Postmeister eine Affaire d'honneur zu bekommen, noch von seinem durstigen Postillion vor jede Schenke geschleppt zu werden. Ich war nur leicht bekleidet, welches ich ziemlich übel empfand, je weiter ich gegen Nordost hin kam
    Nun kann man sich einbilden, wie bei so strengem Wetter, unter dem raschesten Himmelsstriche, einem armen, alten Manne zumute sein mußte, der in Polen auf einem öden Anger, über den der Nordost hinschnitt, hilflos und schaudernd dalag und kaum hatte, womit er seine Schamblöße bedecken konnte.
    Der arme Teufel dauerte mir von ganzer Seele. Ob mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über ihn her. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Himmel, die dieses Liebeswerk ganz ausnehmend herausstrich und mir zurief. »Hol' mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!«
    Ich ließ das gut sein und ritt weiter, bis Nacht und Dunkelheit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf zu hören noch zu sehen. Das ganze Land lag unter Schnee; und ich wußte weder Weg noch Steg.
    Des Reitens müde, stieg ich endlich ab und band mein Pferd an eine Art von spitzem Baumstaken, der über dem Schnee hervorragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder und tat ein so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieder aufgingen, als bis es heller lichter Tag war. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorf auf dem Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch hörte ichs bald darauf irgendwo über mir wiehern. Als ich nun emporsah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wetterhahn des Kirchturms gebunden war und von da herunterhing. Nun wußte ich sogleich, wie ich dran war. Das Dorf war nämlich die Nacht über ganz zugeschneiet gewesen; das Wetter hatte sich auf einmal umgesetzt, ich war im Schlafe nach und nach, so wie der Schnee zusammengeschmolzen war, ganz sanft herabgesunken, und was ich in der Dunkelheit für den Stummel eines Bäumchens, der über dem Schnee hervorragte, gehalten und daran mein Pferd gebunden hatte, das war das Kreuz oder der Wetterhahn des Kirchturmes gewesen.
    Ohne mich nun lange zu bedenken, nahm ich eine von meinen Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glücklich auf die Art wieder an mein Pferd und verfolgte meine Reise.
    Hierauf ging alles gut, bis ich nach Rußland kam, wo es eben nicht Mode ist, des Winters zu Pferde zu reisen. Wie es nun immer meine Maxime ist, mich nach dem Bekannten »ländlich sittlich« zu richten, so nahm ich dort einen kleinen Rennschlitten auf ein einzelnes Pferd und fuhr wohlgemut auf St. Petersburg los. Nun weiß ich nicht mehr recht, ob es in Estland oder in Ingermanland war, so viel aber besinne ich mich noch wohl, es war mitten in einem fürchterlichen Walde, als ich einen entsetzlichen Wolf mit aller Schnelligkeit des gefräßigsten Winterhungers hinter mir ansetzen sah. Er holte mich bald ein; und es war schlechterdings unmöglich, ihm zu entkommen. Mechanisch legte ich mich platt in den Schlitten nieder und ließ mein Pferd zu unserm beiderseitigen Besten ganz allein agieren. Was ich zwar vermutete, aber kaum zu hoffen und zu erwarten wagte, das geschah gleich nachher. Der Wolf bekümmerte sich nicht im mindesten um meine Wenigkeit, sondern sprang über mich hinweg, fiel wütend auf das Pferd, riß ab und verschlang auf einmal den ganzen Hinterteil des armen Tieres, welches vor Schrecken und Schmerz nur desto schneller lief. Wie ich nun auf die Art selbst so unbemerkt und gut davongekommen war, so erhob ich ganz verstohlen mein Gesicht und nahm mit Entsetzen wahr, daß der Wolf sich beinahe über und über in das Pferd hineingefressen hatte. Kaum aber hatte er sich so hübsch hineingezwänget, so nahm ich mein Tempo wahr und fiel ihm tüchtig mit meiner Peitschenschnur auf das Fell. Solch ein unerwarteter Überfall in diesem Futteral verursachte ihm keinen geringen Schreck; er strebte mit aller Macht vorwärts, der Leichnam des Pferdes fiel zu Boden, und siehe, an seiner Statt steckte mein Wolf in dem Geschirre. Ich meines Orts hörte nun noch weniger auf zu peitschen, und wir langten in vollem Galopp gesund und wohlbehalten in St. Petersburg an, ganz gegen unsere beiderseitigen respektiven Erwartungen und zu nicht geringem Erstaunen aller Zuschauer.
    *
    Ein Textverzeichnis ist einzusehen bei:
    http://www.sagen.at/texte/maer…hhausen/muenchhausen.html


    *
    Hier erleben wir die hauptsächlichen Vorzüge und Stilkriterien der Münchhausiaden, als einen Sondertyp des erzählerischen Schwanks:


    1. die allerwichtige Hauptperson: Baron selbst, sein herrschaftliches Stilgefühl, das außerordentlich, aber gleichsam selbstverständliche Selbstbewußtsein des Helden,
    2. die Herausforderung der Situation oder Aufgabe (Reise nach St. Petersburg),
    3. die Widrigkeiten der Reise als selbstverständliche Herausforderung,
    4. die Leistungen des selbstlosen, umsichtigen, kompetenten Barons, mit den Schwierigkeiten der Umstände, des Wetters, der Gegenspieler, der feindlichen Natur fertigzuwerden.
    5. Die einzigartige, groteske Form, die auftretenden, lebensgefährlichen Probleme zu lösen, durch Beherztheit, Kühnheit und Kraft.
    6. Ein sonderbar realistischer, schnörkelloser Stil, seine wunderbaren Erlebnisse und Taten lakonisch anzuzeigen. Die Aufschneiderei gestaltet sich als humor- und affektvoller Auftritt eines Alleskönners.



    Vergleich mit einem Märchentext:


    Ein Märchen aus Estland, das phantastisch und unterhaltsam ist - und eine reelle, d.h. wahre Münchhausiade sein könnte...



    Zwei Leichen und ein schwanzloses Pferd


    Es waren einmal zwei Bauernwirte: der eine war reich, der andere war arm. Der Arme ging zum Reichen und bat ihn um ein Pferd, damit er Holz führen könne; er bekam das Pferd auch, aber ohne den Schlitten. Der Arme nahm es nun, ging in den Wald und band das Holzfuder mit einem Strick an den Schwanz des Pferdes; aber auf der Heimfahrt riß der Pferde­schwanz ab. Der Arme brachte das Pferd wieder zum Rei­chen zurück und bedankte sich aufs schönste, aber das Pferd hatte keinen Schwanz mehr.
    Der Reiche verklagte den Armen vor dem Gericht. Zum Gericht ging der Reiche mit seiner Frau und seinem Sohn, der Arme wanderte allein hinter ihm drein. Wegen der Kälte betraten sie alle eine Schenke. Der Reiche bestellte sich Bier und Schnaps, um warm zu werden, die Frau mit dem Sohn machte es sich am Ofen bequem, um sich ebenfalls zu wär­men, und der Arme kletterte auf den Ofen. Der Arme schloß die Augen, um nicht zu sehen, wie der Reiche trank; er schlummerte aber ein, stürzte vom Ofen genau auf den Sohn des Reichen herab und schlug ihn zu Tode. Auf diese Weise war er schon doppelt schuldig.
    Auf dem Wege zum Gericht mußten sie noch über einen Fluß gehen. Der Arme ging über die Brücke, gerade als ein alter Mann unten auf dem Eise durchfuhr. Der Arme tat einen Fehltritt, stürzte von der Brücke gerade dem alten Mann auf den Kopf und schlug ihn ebenfalls zu Tode. Auf diese Art war er schon dreifach schuldig und dachte, daß man ihn jetzt natürlich hängen werde.
    Da fand er am Wege einen Stein, ungefähr ebenso groß wie ein Haufen von dreihundert Talern. Der Arme band den Stein in sein Tuch und sprach zu sich selbst: "Wenn ich einmal zum Tode verurteilt bin, so mag auch mein Richter kre­pieren: ich werfe ihm mit dem Steine den Schädel ein." So kamen sie nun alle zum Galgen ins Gericht.
    Der arme Mann wartete auf das Urteil und hob seine Hand mit dem Stein in die Höhe, um ihn, wenn er zum Tode verur­teilt würde, augenblicklich dem Richter an den Kopf zu wer­fen. Der Richter aber dachte, daß der Mann ihm dreihundert Taler zeige, und fällte das Urteil folgendermaßen: Der Rei­che solle sein Pferd dem Armen überlassen, bis dem Pferde wieder ein Schwanz gewachsen sei; auch seine Frau solle er dem Armen geben, bis sie von diesem ein neues Kind geboren habe, dann solle er Pferd, Frau und Kind zurückerhalten; was drittens den alten Mann anlange, so wäre der sowieso bald von selbst gestorben, deshalb könne der Richter darüber kein Urteil fällen. Damit war das Gericht zu Ende, und alle gingen nach Hause.
    Am nächsten Morgen eilte der Arme sofort zu dem Reichen und verlangte das Pferd und die Frau, um sich unver­züglich an die vorgeschriebene Arbeit machen zu können. Doch der Reiche bat ihn, sich nicht zu bemühen, er selber wolle schon die Sache mit der Frau in Ordnung bringen und dem Pferde einen Schwanz wachsen lassen. Der Arme war damit nicht einverstanden. Nun, da gab ihm der Rei­che dreihundert Taler Abschlagsgeld, und der Arme ging fröhlich nach Hause. Hinterdrein schickte der Richter sei­nen Diener nach den dreihundert Talern, der Arme aber klagte, woher er dreihundert Taler nehmen solle. Der Diener erinnerte ihn daran, daß er sie ja im Gericht gezeigt habe.
    Nun erklärte der Arme: «Ich habe nur einen Stein gezeigt: wenn der Richter nicht zu meinen Gunsten entschieden hätte, so hätte ich ihm mit dem Stein den Schädel eingeworfen. Diesen Stein kann ich ihm freilich mit Vergnügen abtreten.»
    Als der Richter das hörte, da war er selber noch froh darüber, daß er es unbewußt verstanden hatte, so zu urteilen, daß er keinen Stein an den Kopf bekommen hatte, und sprach: «Gott sei Dank, daß die Sache noch so abgelaufen ist!»


    Dieses Märchen wird dem AaTh-Typus 1600 der Märchenforscher A. Arne und S. Thompson zugeordnet: dem Motiv "Stein für den Richter".
    Zuerst veröffentlicht in der Sammlung, die Löwis of Menar herausgab: Finnische und estnische Märchen. Jena 1922.
    Abdruck nach der Ausgabe "Märchen des Baltikums". Hrsg. von Hans-Jörg Uther. Reinbek 1996. Rororo 35162. S. 316ff. Märchen Nummer 78.


    Die virtuose Prahlerei - Münchhausens Mauldrescherei:


    Die Geschichte hat so viel eigene Märchenkraft, das ich sie in ihrem erzählerischen Gehalt und ihrer Typyik abgrenzen möchte von dem üblichen, pompösen Münchhausen-Schwank:


    * Sie geht von der sozialen, weitgehend bekannten Alltags-Realität aus.


    * Die leittypischen Figuren sind Standes- und Berufsvertreter,
    meist in ihren sozialen Gegensätzen.


    * Eine glaubhafte Unrechtssituation tritt auf, die vertuscht werden soll.


    * Der Problemkern ist real, ein Streif- und Konfliktfall in der Alltagswelt.


    * Einbezug von familiär und gesellschaftlich erkennbaren Figuren.


    * Es gestaltet sich ein verwickelter Lösungsweg von höchstem
    Überraschungswert.


    * Schlußendlich: günstige, unverhoffte Konfliktlösung.
    Intention ist herrschaftlich ungebundenes Prahlen, virtuoses Angeben
    und Verherrlichen toll-dreister Erlebnisse und Künste; ohne
    realistischen Bezug; keinerlei sozialkritische Einschlüsse.)



    Fazit: Literarische Motive oder volkstümlich erzählte und überlieferte Keimzellen für die Münchhausen-Tollheiten habe ich in livländischen Vorlagen (Märchen, "Pratchen", Schwänken, Sagen) nicht finden können.

    Kafkas Maus kriegte a posteriori gesagt:<br />...&quot;&#039;Du mußt nur die Laufrichtung ändern&#039;, sagte die Katze und fraß sie.&quot;<br />*<br />Das kann also jede(r) wissen; jede(r) Leser(in) z&#039;mind&#039;st.

    Einmal editiert, zuletzt von Antonius EY ()

  • Hallo zusammen,


    aus Anlass der nahenden Immermann-Leserunde am 7. Oktober habe ich mir nun die in Deutschland bekannteste Version, den Bürgerschen Münchhausen vorgenommen.


    Dabei habe ich entdeckt, dass -entgegen meiner vorherigen Aussage :redface: - nicht G.A.Bürger diesen Münchhausen in Anlehnung an die historische Figur geschaffen hat, sondern dass er nur die englische Vorlage des deutschen Professors Rudolf Erich Raspe, die dieser nach seiner Flucht nach England geschaffen hat, übersetzte, bearbeitete und um mehrere, allerdings besonders berühmte Abenteuer bereichert hat.


    Antonius EY - falls du noch unter uns weilst - , ganz herzlichen Dank auch für deine Ausführungen, die ich erst jetzt wahrnehme.


    Ein wenig schwer fällt mir das Lesen dieser aneinandergereihten, wenig ausgeführten Geschichten schon: Kaum hat man sich in eine Erzählsituation hineingefunden, ist die Episode auch schon wieder vorbei!


    Interessant sind die aufklärerischen Anmerkungen zwischen den Zeilen, wie z.B die kleinen Seitenhiebe auf die Kleriker anlässlich der Hirsch-mit-dem-Kirschbaum-Episode:

    Zitat von "Bürgers Münchhausen"


    Wer kann nun wohl sagen, ob nicht irgendein passionierter heiliger Waidmann, ein jagdlustiger Abt oder Bischof das Kreuz auf eine ähnliche Art durch einen Schuss auf St. Huberts Hirsch zwischen das Gehörne gepflanzt habe? Denn diese Herren waren ja von je und je wegen ihres Kreuz- und Hörnerpflanzens berühmt und sind es noch zum Teil bis auf den heutigen Tag.


    Ansonsten ist das Werkchen aber im Wesentlichen eine volkstümliche Spaßerei. Die aufklärerische Tiefe, die ihm manche Literaturgeschichten unterstellen, kann ich nicht nachvollziehen. Vielleicht lese ich aber auch nicht genug zwischen den Zeilen!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    den Münchhausen samt dem literarischen Vorläufermaterial habe ich jetzt durch!


    Nachtrag zum Bürgerschen Münchhausen:


    Der zweite Teil, die Seeabenteuer, haben mir deutlich besser gefallen:
    - Erstens sind sie länger, so dass man eine größere Chance hat, sich in die jeweilige Erzählsituation hineinzufinden,
    - zweitens sind sie deutlich satirischer und voller Anspielungen! Er nimmt z.B. die zeitgenössischen Entdeckungsreisenden aufs Korn und auch ein paar Seitenhiebe auf die russische Zarenwelt fehlen nicht!


    Natürlich ist das alles, nachdem ich vor relativ Kurzem den "Gulliver" Swifts las, dessen vordergründige Gattungszuordnung der Bürgersche Münchhausen teilt, ziemlich "altfränkisch"! Das sind aber auch Schuhe, die für den Münchhausen viel zu groß sind! Dennoch komisch, dass beide in Bearbeitungen klassische Kinder- und Jugendbücher geworden sind ..., vielleicht deshalb weil es damals noch kaum Fantasy im eigentlichen Sinne gab.


    Bei den literarischen Münchhausen-Vorläufern fällt auf, wie ich schon an anderer Stelle schrieb, wie wenig Raspe und Bürger eigentlich an den tradierten Fabeln geändert haben, und wie sehr doch die Ich-Perspektive und - im Falle Bürgers - die kleinen Kommentare und Seitenhiebe den Gesamteindruck verändern, besonders gegenüber den schwerfälligen Volksbüchern und Schwänken, weniger gegenüber dem eleganten Lukian und dessen Mondreise!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)