Beiträge von finsbury

    Ja, dass der Begriff Kakanien durch Musil berühmt wurde, wusste ich, aber mir ist auch erst in dem Kapitel klar geworden, wie er gebildet wurde.
    Die beiden von dir ausgesuchten Zitate, zeigen, dass der Erzähler bei diesen ersten weiblichen Figuren im Roman das Weiche, Passive herausstreicht. Ganz anders wird es in Kapitel 14 mit der Jugendfreundin Clarisse, die eher das Gegenteil verkörpert, bebende Energie.


    Das 17. Kapitel erklärt zum ersten Mal (?) den Begriff "Mann ohne Eigenschaften" durch eine andere Person - als Ausdruck des eifersüchtigen Walthers für Ulrich, dessen Einflussnahme auf Clarisse er fürchtet. Er begründet das damit - wenn ich es richtig verstanden habe -, dass Ulrich alles analysiert, also in Einzelteile zerlegt, aber nicht das Wesen hinter den Dingen, Personen und Umständen sieht. Mit Clarisse ist Musil eine interessante Frauenzeichnung gelungen, die mich mehr anspricht als die bisherigen, mehr vegetativen Frauen. Clarisse ist voller Energie, Härte und Zielstrebigkeit, weiß nicht mehr so recht, wie sie mit ihrem ganz anders gearteten Ehemann klarkommen soll, was bis zur körperlichen Verweigerung geht. Bin gespannt, wie es mit diesem merkwürdigen Paar weitergeht.


    Im 18. Kapitel lernen wir den Mörder Moosbrugger kennen, von dem sich Ulrich fasziniert zeigt, ein Mann mit einem besonders freundlich-patenten Auftreten, der dennoch Abgründe in sich hat, die er selber zu verstehen sucht, indem er sich der psychologischen Beurteilung entzieht und versucht, sich seine Taten durch seine Lebensbedingungen zu erklären, was dazu führt, dass er sich letzten Endes selbst in sein Todesurteil hereinreitet, da der Richter nicht bereit ist, hinter seine ungeschickten Formulierungen zu sehen.

    Das letzte, 19. Kapitel des ersten Teils bringt einen Brief von Ulrichs Vater, der diesen ungefragt und reichlich übergriffig in das Amt der Organisation des 70. Thronjubiläums des alten Kaisers für das Jahr 1918 hereintreibt. Mal sehen, wie Ulrich damit umgehen wird.

    Das 16. Kapitel habe ich nun auch beendet.
    Das Kapitel über die Jugendfreunde (14) war tatsächlich interessant, allerdings von einer merkwürdigen Denke geprägt, von der ich noch nicht einschätzen kann, ob sie der des Autors entspricht. Das Ziel des Lebens ist es für die beiden Jugendfreunde und auch für Clarisse - damaligem Rollenverständnis zu Folge als Unterstützerin ihres Partners - gesellschaftlich anerkannte Bedeutung, ja Größe zu erreichen. In welchem Bereich ist eigentlich egal, Hauptsache besonders und bewundert. Das zeigt sich in Walther, indem er in allen vier Künsten begabt dilettiert und in Ulrich, der eher im zivilisatorischen als im künstlerischen Bereich das Besondere verkörpern will. Ulrich wird über die Unerreichbarkeit dieses Ziels zum Mann ohne Eigenschaften, Walther zur komischen, von der eigenen Frau verachteten Figur. Schlimm! Für mich ist dieses Kapitel mehr noch als die beiden folgenden ein Zeichen für die Hohlheit einiger Vorstellungswelten dieser Zeit um die Jahrhundertwende.


    Der Erzähler kritisiert die Durchschnittlichkeit der letzten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts (15, Geistiger Umsturz), die nichts Eigenes schaffen und stattdessen die Meisterwerke der Antike trivialisieren, indem sie sie überperfektioniert und damit entseelt in ihre Epoche übertragen. Dennoch nennt er Nietzsche und Hebbel als Größen jener Zeit und vergisst darüber, dass andere Sprachen zu jener Zeit Großes geschaffen haben (Frankreich, GB in der Literatur) und es ja immerhin auch einen Brahms, einen Schumann, Bruckner, die jungen Richard Strauß und Mahler gegeben hat. Bei der bildenden Kunst kenne ich mit der zeitlichen Einordnung nicht so auf Anhieb aus, meine aber, dass der Impressionismus in diese Phase fällt.


    Was du, Krylow über die geheimnisvolle Zeitkrankheit (16) schreibst, sehe ich genauso. Ich hatte ebenfalls die jetzige Zeit vor Augen, dachte aber auch daran, dass die meisten Generationen einiges davon wohl über die vorhergehende und die folgenden Generationen denken.

    Danke für die freundiche Begrüßung.

    Meine Eindrücke werden allerdings nur die einer engagierten Leserin sein, literaturwissenschaftlich wertvollen Austausch kann ich leider nicht bieten.

    Herzlich willkommen,

    das ist hier auch kein Forum von Fachleuten, sondern von interessierten Laien. Schön, dass du mitlesen und - schreiben willst. Wir lesen uns!
    finsbury

    Da bist du ja schon weit vorausgeeilt, Krylow. Ich habe erst das 13. Kapitel abgeschlossen, stehe also noch vor dem von dir so gelobten Kapitel "Jugendfreunde".

    Mir imponieren Musils Beschreibungen sehr (hatte ich das schon geschrieben?), denen es gelingt, schwer Faßbares oder komplexe Verhältnisse prägnant in Worte zu kleiden.

    Das sehe ich auch so. Musil ist großartig darin, dem Leser mit treffenden Vergleichen und Metaphern sowie anschaulichen Adjektiven, Sachverhalte, Stimmungen, Beziehungen oder Trends zu veranschaulichen.

    Beispiel aus Kapitel 13, als es darum geht, dass Sportler und sogar ihre Tiere in der Zeitstimmung zu Helden werden:
    "Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort 'das geniale Rennpferd'" .

    Wunderbar, wie er hier den Trend in seinen Anfängen kennzeichnet. Oder kurz danach:
    "und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war."

    Die Metapher und die gleichzeitig damit bewirkte Ironie, die Ulrichs hehre Anstrengungen, seinem Leben Bedeutung zu verleihen, damit verbindet, relativieren insgesamt die ernsten Ausführungen zur Kunst der Mathematik und dem Unterschied zwischen Rationalisten und emotional bestimmten Menschen und Denkrichtungen, zeigen aber gleichzeitig die Verletzlichkeit Ulrichs, der sein Streben lächerlich gemacht sieht.
    Die Dreiteilung der Entwicklung Ulrichs (Kap. 9 -11) in seinen jungen Erwachsenenjahren könnte man fast als Anschauungsmaterial für Entwicklungspsychologie nehmen. Von dem Wunsch, einfach durch Stärke und Position seine Bedeutung zu manifestieren, über die rationale Arbeit bis hin zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen der Natur- und Ingenieurwissenschaften durch die Beschäftigung mit ihrer Grundlagenwissenschaft Mathematik durchläuft Ulrich mögliche Positionierungen in der und Anschauungen der Welt.

    Ansonsten kann ich bisher zu den Personen nur feststellen, dass Männer außer dem Vater bisher kaum vor und die Frauen als sehr passive und emotional labile Wesen (Kap. 12) schlecht wegkommen.

    Vielen Dank für die interessanten Hinweise, @ b.a.t.. Man merkt, dass du den Roman mit deutlich mehr Hintergrundwissen angehst.

    Mit "abstrus" meinte ich eher die Art der Berechnung und dass ihr Ergebnis gleich auf Heldentum angerechnet wurde.

    Willkommen zurück, Zefira. Ich habe ja auch noch Nebenlektüren, auch für eine analoge Leserunde und ein Sach- und Lyrikbuch. Gehen wir es ruhig an.

    Ich habe mittlerweile drei weitere Kapitel gelesen.
    Kapitel 6: Passend zu seiner eigenen Unbestimmheit hat Ulrich eine Sängerin als Geliebte, die keine Ecken und Kanten äußerlich und charakterlich hat, gut schweigen kann und statuarisch aus der Zeit gefallen gut aussieht. Sie hört sich leider in seinen Ohren etwas zu gerne singen und ist vor allem sehr gefräßig, was sie mit einem modischen Habitus in Restaurationen verbinden möchte. Musil hat schon sehr lustige Einfälle. Ich fühlte mich an Ferreris "Das große Fressen" erinnert, wobei das Stilvolle mit dem Verfressenen dort genauso wenig funktioniert wie bei Leona, auch wenn sie es selber denkt.
    Kapitel 7: Ein Exkurs in das Thema Gewalt, wieder völlig von hinten aufgezäumt. Anstatt, dass der Angriff auf Ulrich von seiner sozialen oder psychologischen Seite her aufgerollt wird, sehen wir den Überfall aus Ulrichs Sicht, der kaum auf den Raub- und Verletzungsaspekt eingeht, sondern das Ganze von der sportlichen Seite her analysiert und erkennt, dass er falsch reagiert habe. Aber zumindest lernt er in Folge dieses Überfalls in seiner Retterin seine neue - bisher noch namenlose - Geliebte kennen, die von dieser Coolness Ulrichs fasziniert scheint.
    Kapitel 8, wohl ein Kernkapitel. Es geht um Kakanien. Ich Stiesel habe erst in diesem Kapitel erkannt, dass das oft im Zusammenhang mit dem MoE erwähnte Kakanien lautmalerisch für die K -K- Monarchie steht. Kakanien zeichnet ebenfalls eine große Unbestimmtheit aus, überall sieht der Erzähler eine mittlere Größe, bei der Armee, der Industrialisierung, der Regierungsform usw. Alles Gute hat auch seine andere Medaillenseite. Auch der kakanische Bürger ist ein komplexes, kaum greifbares Geschöpf mit bis zu zehn Charakteren, wobei der zehnte wieder aus jener Unbestimmtheit selbst besteht.

    Und die fünf, die ich gekauft hatte, sind für ihre jeweils knapp 70 Jahre gut in Schuss, nur ganz leicht muffig riechend. Möge es mir auch so gehen.

    [...]

    Aber jetzt, nachdem ich bei Rolf Vollmann "Über"-gelesen hab, fügt sich das über die 260 Seiten schon zusammen.

    Sehr hübscher Wunsch eines Bücherfreundes fürs Altern :belehr: :elch:.


    In welchem Vollmann hast du das denn gelesen? Ich bin ein großer Fan seiner "wunderbaren Falschmünzer", obwohl ich einen etwas anderen Buchgeschmack habe. Er hat eine unglaublich charmante Art , kenntnisreich und witzig über seine endlosen Lektüreeindrücke zu plaudern.

    Wir haben ja alle Zeit, und mehr habe ich bisher auch nicht gelesen, weil ich auch noch ein paar parallele Lektüren habe. Vielleicht heute ein paar Kapitel ... .

    Na, dann bin ich wohl einer Ente zum Opfer gefallen. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Johnsons spätere Werke etwas leserfreundlicher wären. Bei den "Mutmaßungen" ist ja das Problem, dass man - zumindest auf den ersten fünfzig Seiten und auch später, wenn man nicht genau aufpasst - oft gar keine Ahnung hat, wer da spricht oder um welches Ereignis es geht. Es bleibt auch bis zum Schluss viel in der Schwebe, aber das mag ja durchaus zu der erzählerischen Absicht passen. Orts- und Zeit- und Perspektivwechsel, gerne auch mitten im Satz scheint nach dem, was du schreibst, zu seinen Stilmitteln zu gehören.

    Nun will ich mal starten. Weit bin ich noch nicht gekommen, doch die ersten fünf Kapitel haben mich schon sehr beeindruckt.
    Kapitel 1: Hier wird schon das gestalterische Prinzip der Ironie, auf das der Kindler-Artikel hinweist, an der Zeit - und Ortsgestaltung deutlich. Um die Zeit zu kennzeichnen, wird die meteorologische Lage eines bestimmten Augusttages genau erläutert, um dann als völlig durchschnittlich dargestellt zu werden. Auch Wien wird anhand seiner Bewegungsspuren von Transportmitteln und Menschen als scheinbar unverwechselbar dargestellt, aber ebenfalls direkt danach wieder generalisiert zu einem durchschnittlichen Handlungsort unter den großen Städten.
    Ebenfalls werden scheinbar zwei Personen des Romans, Arnheim und Ermelinda Tuzzi eingeführt, um direkt wieder ihre Individualität zu verlieren und nur als pars pro toto zu fungieren.

    Kapitel 2: Wir folgen einem der oben genannten Bewegungsströme und gelangen zu einem gepflegten Garten mit einem kleinen Palais, der uns schon im Kapiteltitel als Wohnort des Mannes ohne Eigenschaften benannt wird. Dieser ist mit einer abstrusen Berechnung beschäftigt, die die Alltagsleistung eines durchschnittlichen Bürgers mit der eines kürzere Zeit stark körperlich Tätigen zugunsten des Ersteren vergleicht und daraus sogar eine vergleichende Aussage über Heldenhaftigkeit zieht, diese aber dann sofort wieder als unwichtig relativiert.

    Kapitel 3 führt uns die Familie der Hauptperson, insbesondere den Vater vor, den Prototyp eines gesellschaftlichen Aufsteigers durch Fleiß und kluges Nutzen von Beziehungen. Ihm wird eine Echtheit des Verhaltens bescheinigt, die in der Übereinstimmung mit seiner Überzeugung besteht.
    Kapitel 4 beinhaltet den Vergleich zwischen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn. Soweit ich es verstanden habe, geht der Wirklichkeitssinn von dem Vorhandenen aus und arbeitet damit, während der Möglichkeitssinn sich bei jedem Gegenstand und jeder Situation davon inspirieren lässt, wie viele Möglichkeiten sich hier bieten, ohne eine von ihnen zu ergreifen. Ein solcher, vom Möglichkeitssinn geprägter Mensch wie unser Held Ulrich ist dann eher passiv und träumerisch, bildet eben keine klar umrissenen Eigenschaften heraus. Hier wüsste ich gerne, ob Musil an ein philosophischen Konzept und wenn ja, von wem, anknüpft.

    Kapitel 5 bildet Ulrichs Lebenslauf bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr nach, als er von Auslandsreisen zurückkehrt und sich das kleine Palais als Wohnung einrichtet.

    Soweit ich gehört habe, kann man die " Jahrestage" auch ganz gut ohne den Vorgänger verstehen. Außerdem soll Johnson in späteren Werken den Leser nicht mehr ganz so herausgefordert haben. Stimmt das?

    Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob (1959)


    Dies ist Uwe Johnsons (1934-1984) erster Roman, der bereits die Hauptfigur seines berühmtesten und größten Werkes „Jahrestage“, Gesine Cresspahl, einführt.


    Inhalt und Gestaltung:
    Hier aber liegt der Fokus auf Gesines Wahlbruder und eigentlicher Liebe Jakob Abs, einem Eisenbahn-Dispatcher, der am Dresdener Hauptbahnhof arbeitete. Zu Erzählungsbeginn ist der 28jährige Jakob – obwohl mit den Zugbewegungen bestens vertraut, an einem nebligen Novembermorgen des Jahres 1956 von einem Zug erfasst und getötet worden, als er die Gleise überqueren wollte. Seine ihm nahestehenden Personen – darunter ein Stasi-Agent namens Rohlfs - fragen sich nun, ob es sich hier um einen Unfall, Selbstmord oder Mord handelt, daher die „Mutmaßungen“.


    Jakob ist mit seiner Mutter am Kriegsende aus dem Osten nach Mecklenburg geflohen und in dem kleinen Küstenort Jerichow (ungleich dem wirklichen, größeren Ort im mecklenburgischen Inland) bei dem Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine untergekommen. Dort verleben Gesine und Jakob ihre Jugend, bis Jakob zur Lehre bei der Eisenbahn geht und Gesine (nach einem Anglistik-Studium?) in den Westen geht, wo sie als Übersetzerin bei der NATO arbeitet.


    Eine Rolle spielt nun auch Dr. Jonas Blach, der am Anglistischen Institut der Uni von Ostberlin als Assistent arbeitet und sich bei einem Ausflug nach Westberlin in Gesine verliebt.


    Alle drei Personen und auch Gesines Vater Cresspahl zeichnen sich durch eine kritische Haltung zum Regierungssozialismus aus, sind aber grundsätzlich mit den sozialistischen Zielen einverstanden. Jonas schreibt – von seinem vorgesetzten Professor zu einer Dissidentenversammlung mitgenommen – an einem kritischen Essay, wofür er sich zu Cresspahl nach Jerichow zurückzieht.


    Vorher ist Jakobs Mutter, die von dem Stasi-Beamten Rohlfs verhört wurde, in den Westen geflohen.

    Rohlfs verfolgt das ihm angeordnete Ziel, über Jakob an Gesine heranzukommen, damit sie für die DDR bei der NATO spioniert. Er hatte schon in Gesprächen mit Jakob versucht, diesen durch Argumente, aber auch leichte Drohungen davon zu überzeugen, sich entsprechend für die gerechte Sache des DDR-Sozialismus einzusetzen. Jakobs gerade, ehrliche und unpolitische Persönlichkeit, die Gerechtigkeit und Freiheit ganz grundsätzlich versteht, imponiert Rohlfs, und so lässt er ihm weitgehend freie Hand, als Jakob mit Gesine deren Vater Cresspahl und den dort weilenden Jonas Blach besucht und auch als er später in den Westen reist, um seine Mutter im Flüchtlingslager und Gesine zu besuchen.


    Vorher und währenddessen finden der ungarische Aufstand und dessen Niederschlagung sowie der englisch-französische Angriff auf die sich dem Sozialismus zuwendenden Ägypter wegen des Zugangs zum Suez-Kanal statt, ein Angriff, der auch von der UNO verurteilt wurde.


    Jakob muss als Dispatcher dafür sorgen, dass die Truppen der Roten Armee freie Durchfahrt durch Dresden Richtung Ungarn erhalten, was seiner Auffassung von Gerechtigkeit in mehrfacher Hinsicht widerspricht, in Bezug auf die ganzen Menschen, die wegen dieses Militäreinsatzes mit ihren Reisezielen einfach nicht beachtet werden und in Bezug auf die Verletzung der Souveränität einer anderen Nation.


    Andererseits mag er den Westen auch nicht, beobachtet die Gesetze des Kapitalismus vor Ort natürlich auch aus dem Blickwinkel seiner sozialistischen Erziehung und lehnt – wie Gesine - den Überfall der Engländer und Franzosen auf die Ägypter aus wirtschaftlichen Erwägungen und politischem Macht-Kalkül ab. Gesine wird daher ihren Job bei der NATO aufgeben und wechselt zum Radio, wo sie humorvolle Sprachkurse gibt.


    Von der Reise in den Westen über Nacht zurückgekommen betritt der übernächtigte und müde Jakob am Morgen die Gleise und kommt ums Leben. Kurze Zeit später wird Jonas Blach von Rohlfs wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet.


    Das Ganze wirkt jetzt schon in der Zusammenfassung mit den zeitlichen Vor- und Rückgriffen ein wenig durcheinander, ist aber beim Lesen des Romans noch sehr viel schwieriger nachzuvollziehen.
    Johnson montiert auktoriale erzählende Passagen mit zahlreichen Dialogen und inneren Monologen, oft ohne die sprechenden Personen zu kennzeichnen. Der Leser ist dadurch gefordert, aufmerksam auf Textsignale zu achten, die ihm verraten, wer gerade mit wem oder worüber spricht. Manchmal klären sich Textpassagen erst sehr viel später im weiteren Verlauf des Romans und einige Passagen gar nicht. Da kann man nur mutmaßen … . Genau das ist die Absicht, in der sich Form und Gehalt treffen. Wir wissen bis zum Ende nicht, warum Jakob zu Tode kam, können nur die Aussagen über ihn nachvollziehen und vielleicht bewerten.


    Interessant ist auch, dass Jonas Blach, der studierte Anglist, für sein vermutlich wenig bewirkendes Essay verhaftet wird, während Rohlfs Jakob alle Freiheiten lässt und letztlich nichts erreicht. Schon zu Beginn wird klar, dass Rohlfs es Jonas übel nimmt, dass er auf Kosten des Volkes studieren konnte und seine Bildung nun zu staatsfeindlichen Aktionen nutzt, während der Dispatcher Jakob notwendige und bevölkerungsfreundliche Arbeiten verrichtet. Was er dabei denkt, erscheint Rohlfs weniger wichtig. Letzten Endes ist auch Rohlfs ein Opfer seiner Funktion, und grundsätzlich geben beide deutsche Staaten ihren Einwohnern keine wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit, den einen, weil sie Mitspieler und Opfer kapitalistischer Zwänge sind, den anderen, weil sie von ihrem Staatssozialismus bevormundet und von der gestaltenden Mitwirkung ausgeschlossen werden.


    Meine Meinung:

    Dieser schmale Roman hat mich ganz schön herausgefordert! Ich bin mit dem Bleistift Absatz für Absatz durchgegangen, um herauszufinden, wer da (mit wem) worüber genau spricht und musste mir die historischen Zusammenhänge erstmal aneignen (für deren richtige Darstellung übernehme ich keine Gewähr ;-)). So war das Lesen kein ungetrübter Genuss. Zu Beginn habe ich mich sogar über die Arroganz des Autors gewundert, dem Leser zum Teil völlig unnötige Schwierigkeiten aufzuerlegen. Es bleibt nicht bei der Zuordnung der Personen und Geschehnisse, es gibt auch absatzweise unübersetztes mecklenburgisches Platt, desgleichen längere Stellen in einem merkwürdigen, meiner Ansicht nach teilweise falschem Englisch sowie öfters eine Art biblisch-pathetische Sprache, die scheinbar gar nicht zu dem Inhalt passen will.

    Es ist Johnsons erster Roman und daher verzeiht man eine gewisse experimentelle Übertriebenheit. Was mich anspricht, ist dieses Unbehauste zwischen zwei den Menschen oft missachtenden Ideologien und die unterschiedliche Weise, wie Menschen, die das Bestehende nicht einfach so hinnehmen, sich damit auseinandersetzen. Insgesamt also ein herausforderndes, aber lohnendes Leseerlebnis!