Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob (1959)
Dies ist Uwe Johnsons (1934-1984) erster Roman, der bereits die Hauptfigur seines berühmtesten und größten Werkes „Jahrestage“, Gesine Cresspahl, einführt.
Inhalt und Gestaltung:
Hier aber liegt der Fokus auf Gesines Wahlbruder und eigentlicher Liebe Jakob Abs, einem Eisenbahn-Dispatcher, der am Dresdener Hauptbahnhof arbeitete. Zu Erzählungsbeginn ist der 28jährige Jakob – obwohl mit den Zugbewegungen bestens vertraut, an einem nebligen Novembermorgen des Jahres 1956 von einem Zug erfasst und getötet worden, als er die Gleise überqueren wollte. Seine ihm nahestehenden Personen – darunter ein Stasi-Agent namens Rohlfs - fragen sich nun, ob es sich hier um einen Unfall, Selbstmord oder Mord handelt, daher die „Mutmaßungen“.
Jakob ist mit seiner Mutter am Kriegsende aus dem Osten nach Mecklenburg geflohen und in dem kleinen Küstenort Jerichow (ungleich dem wirklichen, größeren Ort im mecklenburgischen Inland) bei dem Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine untergekommen. Dort verleben Gesine und Jakob ihre Jugend, bis Jakob zur Lehre bei der Eisenbahn geht und Gesine (nach einem Anglistik-Studium?) in den Westen geht, wo sie als Übersetzerin bei der NATO arbeitet.
Eine Rolle spielt nun auch Dr. Jonas Blach, der am Anglistischen Institut der Uni von Ostberlin als Assistent arbeitet und sich bei einem Ausflug nach Westberlin in Gesine verliebt.
Alle drei Personen und auch Gesines Vater Cresspahl zeichnen sich durch eine kritische Haltung zum Regierungssozialismus aus, sind aber grundsätzlich mit den sozialistischen Zielen einverstanden. Jonas schreibt – von seinem vorgesetzten Professor zu einer Dissidentenversammlung mitgenommen – an einem kritischen Essay, wofür er sich zu Cresspahl nach Jerichow zurückzieht.
Vorher ist Jakobs Mutter, die von dem Stasi-Beamten Rohlfs verhört wurde, in den Westen geflohen.
Rohlfs verfolgt das ihm angeordnete Ziel, über Jakob an Gesine heranzukommen, damit sie für die DDR bei der NATO spioniert. Er hatte schon in Gesprächen mit Jakob versucht, diesen durch Argumente, aber auch leichte Drohungen davon zu überzeugen, sich entsprechend für die gerechte Sache des DDR-Sozialismus einzusetzen. Jakobs gerade, ehrliche und unpolitische Persönlichkeit, die Gerechtigkeit und Freiheit ganz grundsätzlich versteht, imponiert Rohlfs, und so lässt er ihm weitgehend freie Hand, als Jakob mit Gesine deren Vater Cresspahl und den dort weilenden Jonas Blach besucht und auch als er später in den Westen reist, um seine Mutter im Flüchtlingslager und Gesine zu besuchen.
Vorher und währenddessen finden der ungarische Aufstand und dessen Niederschlagung sowie der englisch-französische Angriff auf die sich dem Sozialismus zuwendenden Ägypter wegen des Zugangs zum Suez-Kanal statt, ein Angriff, der auch von der UNO verurteilt wurde.
Jakob muss als Dispatcher dafür sorgen, dass die Truppen der Roten Armee freie Durchfahrt durch Dresden Richtung Ungarn erhalten, was seiner Auffassung von Gerechtigkeit in mehrfacher Hinsicht widerspricht, in Bezug auf die ganzen Menschen, die wegen dieses Militäreinsatzes mit ihren Reisezielen einfach nicht beachtet werden und in Bezug auf die Verletzung der Souveränität einer anderen Nation.
Andererseits mag er den Westen auch nicht, beobachtet die Gesetze des Kapitalismus vor Ort natürlich auch aus dem Blickwinkel seiner sozialistischen Erziehung und lehnt – wie Gesine - den Überfall der Engländer und Franzosen auf die Ägypter aus wirtschaftlichen Erwägungen und politischem Macht-Kalkül ab. Gesine wird daher ihren Job bei der NATO aufgeben und wechselt zum Radio, wo sie humorvolle Sprachkurse gibt.
Von der Reise in den Westen über Nacht zurückgekommen betritt der übernächtigte und müde Jakob am Morgen die Gleise und kommt ums Leben. Kurze Zeit später wird Jonas Blach von Rohlfs wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet.
Das Ganze wirkt jetzt schon in der Zusammenfassung mit den zeitlichen Vor- und Rückgriffen ein wenig durcheinander, ist aber beim Lesen des Romans noch sehr viel schwieriger nachzuvollziehen.
Johnson montiert auktoriale erzählende Passagen mit zahlreichen Dialogen und inneren Monologen, oft ohne die sprechenden Personen zu kennzeichnen. Der Leser ist dadurch gefordert, aufmerksam auf Textsignale zu achten, die ihm verraten, wer gerade mit wem oder worüber spricht. Manchmal klären sich Textpassagen erst sehr viel später im weiteren Verlauf des Romans und einige Passagen gar nicht. Da kann man nur mutmaßen … . Genau das ist die Absicht, in der sich Form und Gehalt treffen. Wir wissen bis zum Ende nicht, warum Jakob zu Tode kam, können nur die Aussagen über ihn nachvollziehen und vielleicht bewerten.
Interessant ist auch, dass Jonas Blach, der studierte Anglist, für sein vermutlich wenig bewirkendes Essay verhaftet wird, während Rohlfs Jakob alle Freiheiten lässt und letztlich nichts erreicht. Schon zu Beginn wird klar, dass Rohlfs es Jonas übel nimmt, dass er auf Kosten des Volkes studieren konnte und seine Bildung nun zu staatsfeindlichen Aktionen nutzt, während der Dispatcher Jakob notwendige und bevölkerungsfreundliche Arbeiten verrichtet. Was er dabei denkt, erscheint Rohlfs weniger wichtig. Letzten Endes ist auch Rohlfs ein Opfer seiner Funktion, und grundsätzlich geben beide deutsche Staaten ihren Einwohnern keine wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit, den einen, weil sie Mitspieler und Opfer kapitalistischer Zwänge sind, den anderen, weil sie von ihrem Staatssozialismus bevormundet und von der gestaltenden Mitwirkung ausgeschlossen werden.
Meine Meinung:
Dieser schmale Roman hat mich ganz schön herausgefordert! Ich bin mit dem Bleistift Absatz für Absatz durchgegangen, um herauszufinden, wer da (mit wem) worüber genau spricht und musste mir die historischen Zusammenhänge erstmal aneignen (für deren richtige Darstellung übernehme ich keine Gewähr ;-)). So war das Lesen kein ungetrübter Genuss. Zu Beginn habe ich mich sogar über die Arroganz des Autors gewundert, dem Leser zum Teil völlig unnötige Schwierigkeiten aufzuerlegen. Es bleibt nicht bei der Zuordnung der Personen und Geschehnisse, es gibt auch absatzweise unübersetztes mecklenburgisches Platt, desgleichen längere Stellen in einem merkwürdigen, meiner Ansicht nach teilweise falschem Englisch sowie öfters eine Art biblisch-pathetische Sprache, die scheinbar gar nicht zu dem Inhalt passen will.
Es ist Johnsons erster Roman und daher verzeiht man eine gewisse experimentelle Übertriebenheit. Was mich anspricht, ist dieses Unbehauste zwischen zwei den Menschen oft missachtenden Ideologien und die unterschiedliche Weise, wie Menschen, die das Bestehende nicht einfach so hinnehmen, sich damit auseinandersetzen. Insgesamt also ein herausforderndes, aber lohnendes Leseerlebnis!