Hallo zusammen,
nun bin ich auf Seite 100, Kap. 9 abgeschlossen. Zeit für eine kleine Zwischenbilanz.
Ich finde diesen Roman sehr französisch, auch wenn Green eine französisch-amerikanische Mischung sein mag. Vor ca. 15 Jahren las ich seine beiden Alters- und Amerikaromane "Von fernen Ländern" und "Die Sterne des Südens", die zwar spannend sind, aber im Kolportagegewand des Südstaatenromans daherkommen.
Dagegen ist der "Leviathan" eine ganz andere Klasse! Auch wenn du ihn, Sir Thomas, nur der "zweiten Reihe" moderner Klassiker für würdig hältst, steht er in einer großen Tradition: Das Kleinstadtkolorit, die düstere Enge und die verzweifelte Sehnsucht nach einem bedeutenderen, spannenderen Schicksal seiner Protagonisten teilt er mit dem ersten Teil von Balzacs "Verlorenen Illusionen" und Stendhals "Rot und Schwarz" sowie einigen ländlich/kleinstädtischen Romanen Zolas wie zum Beispiel "Die Erde". Auch "Madame Bovary" und natürlich - wenn auch unbedeutender und in dem gleichen Zeitfenster wie der "Leviathan" - Mauriacs Romane erscheinen vor meinem geistigen Auge.
Merkwürdigerweise finde ich den Roman nicht wie du, Jaqui, bedrückend zu lesen, obwohl mir sonst auch eine stetig durchgehaltene düstere Atmosphäre schnell auf den Geist geht. Aber Green baut hier eine Spannung auf, der ich mich nicht entziehen kann. Alle diese unglücklichen, zumindest unzufriedenen Menschen werden aufeinander zu getrieben, so dass ich in fast jedem Moment mitfiebere, was als nächstes zu dem Verhängnis beiträgt. Dabei kann Green das so gut psychologisch motivieren, dass ich nicht, wie sonst häufig, den Leuten von außen zurufen möchte: "Mensch, siehst du denn nicht, dass du in die Falle läufst?" Sie können hier gar nicht anders!
Greens Roman wirft einen extrem mitleidlosen, eher an das kalte wissenschaftliche Interesse eines Insektenforschers als an einen Romancier erinnernden Blick in die kleinbürgerliche Hölle der französischen Provinz zwischen den beiden Weltkriegen. Die Figuren im „Leviathan“ sind durchweg verbittert und vom Leben enttäuscht. Sie glauben nicht an das Glück und bewegen sich in einem engen Mikrokosmos aus Abhängigkeit und Demütigung. Ihr Handlungsantrieb entspringt weniger dem freien Willen zur Gestaltung ihres Schicksals als vielmehr dem engstirnigen Egoismus der ewig zu kurz Gekommenen. Keine der vier Hauptakteure (Guéret, Angèle, Madame Londe, Madame Grosgeorge) erweckt Sympathien oder Mitleid.
Insofern kann ich dem ersten Teil deiner Ausführungen zustimmen, Sir Thomas, allerdings finde ich nicht, dass einen die Figuren kalt lassen: Mir tun sowohl Angèle als auch Guéret leid, denn beide sind Opfer ihrer Umstände. Gerade habe ich die Passage gelesen, in der Angèle in der Kirche (sic!) über ihr bisheriges und zukünftiges Schicksal nachdenkt: Das lässt mich nicht kalt. Auch wenn wir alle wissen, dass alle Protagonisten noch weitere Schuld auf sich laden werden, sind sie mir nicht völlig unsympathisch. Mit Mme Londes und den Gorsgeorges kann ich mich allerdings bisher nicht befreunden, sie sind bisher wirklich als Karikaturen (Ms Grosgeorges) oder Monster (Mme Grosgeorges) dargestellt. Aber vielleicht ändert sich das noch.
Euch noch ein schönes Wochenende und @ Jaqui, lass dir Zeit, ich komm auch nicht schnell voran, weil ich noch arbeiten muss und Termine habe.
@Madeleine, schön, dass du dich uns noch zugesellen willst: Der Roman lohnt es wirklich!
HG
finsbury