Hallo zusammen,
mir geht es ähnlich wie dir, @ thopas: Der Anfang ist schön idyllisch und lädt auf unerwartete Weise zum Weiterlesen ein. Die Idylle verflüchtigt sich allerdings schnell, wenn Lord Henry den Mund aufmacht und sentenziös den schrankenlosen Egoismus preist. Das tut er in einer schönen, wenn auch hohlen Sprache und fesselt dadurch natürlich das Noch-Naturkind Dorian, dem er mit dem Kontrast von Schönheit und Alter Angst einjagt.
Übrigens ein sehr klassischer Romananfang: Im ersten Kapitel sprechen zwei zentrale Romangestalten über die Hauptperson, die dann im nächsten Kapitel erscheint. Da hat Wilde das Althergebrachte benutzt, um gleich die zwei möglichen Pfade darzustellen, die Dorian einschlagen könnte: den konventionell-moralischen des Malers oder den ästhetisierend-egoistischen des Lords.
Interessant ist, dass in Kapitel 2 Hallword in dem Moment das Bild auf dem höchsten künstlerisch erreichbaren Niveau abschließt, als Dorian zum ersten Mal von des Gedankens Blässe in Gestalt der Tiraden Lord Henrys angekränkelt wird und also eigentlich auch den ersten Lackkratzer abbekommt. So haben wir schon im scheinbar makellosen Bild einen Bruch oder vielleicht auch nur die Seeleneinhauchung des Gevatters, die dem Bild erst Leben verleiht.
Mir fällt auch auf, dass Dorian kurz nach dem Apfelbiss erkennt, dass Hallward durchaus nicht ihn, sondern seine Schönheit liebt, dass also auch Hallward letzten Endes dem Ästhtizismus, wenn auch dem moralisch orientierten, verfallen ist.
Ich lese übrigens die Übersetzung von Siegfried Schmitz in der kommentierten Auswahlwerkausgabe aus dem Winkler-Verlag.
HG
finsbury