Hallo Maria,
gestern hatte ich einen Unfall, hänge daher mit meinen Recherchen zurück.
Seltsamerweise kann ich Jenatsch besser verstehen als Lukretia, die ihre Hände für die Rache als rein betrachtet. Geht hier Blutrache wieder vor Gottes Gesetz "Mein ist die Rache"?
Ja, so geht es mir auch, wobei ich allerdings glaube, dass Lukretia Jenatsch nicht getötet hätte, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, dass er sowieso stürbe:
In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah Jürg schwanken, von gedungenen Mördern umstellt, von meuchlerischen Waffen umzuckt und verwundet, rings und rettungslos umstellt. Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden Händen die ererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen.
Vielleicht ist es so verständlicher, wenn man annimmt, dass Lukretia in der Ausweglosigkeit der Situation beschlossen hatte, dass er nicht durch die Waffen seiner in ihren und seinen Augen nicht ebenbürtigen Feinde sterben dürfe, sondern dann lieber durch ihre Hand, da sie als einzige wirkliches Recht (nach mittelalterlichem Verständnis) an seinem Tod hatte und ihm dadurch auch einen ehrenvollen Abgang bescherte. Daher auch seine Reaktion.
Jenatsch Skrupellosigkeit in seinem Befreiungskampf war so ungewöhnlich nun auch nicht. Sogar dem französischen König Heinrich IV (im Grunde ein Hugenotte) war ein paar Jahrzehnte zuvor Paris eine Messe wert, als er zum katholischen Glauben übertritt. Kardinal Richelieu folgte auch nicht seinem Glauben, sondern den polititschen Ränkeschmieden, die er selbst schnürte.
So ähnlich sehe ich das auch: Jenatsch war ein ganz gewöhnlicher Machtpolitiker, und dieses Moralisieren bezüglich des Betrugs am Herzog sehe ich als relativ schwach motiviert: Er hatte diesen schließlich deshalb unterstützt, weil er sich dadurch Freiheit für die Bünde versprach. Als diese sich als
von französischer Seite unerwünscht herausstellte, war es (aus Sicht des Realpolitikers) sein gutes Recht, sich andere Verbündete zu suchen, um sein Ziel zu erreichen. Dass er dabei den Herzog hinhielt und hinters Licht führte, ist sicher nicht die feine Art, aber anders hätte er keine Möglichkeit gehabt, sein Ziel zu erreichen.
Die Ursache ist wohl, dass Meyer in seinem Leben politisches und öfffentliches Handeln oft als unmoralisch und korrupt erlebt hat: Als junger Mann unternahm er z.B. eine Reise nach Paris und war von dem Handeln und Denken der Menschen dort derart abgestoßen, dass er schnell in seine Heimat zurückkehrte.
Er hatte auch eine schwierige Jugend, in der er sich auf sich selbst zurückzog und lange Jahre unfähig war, in der Gesellschaft zu agieren und einen Beruf zu erlernen. Eine große Erbschaft ermöglichte ihm schließlich, auch weiterhin Privatier zu bleiben und dann später zu seinem wahren Beruf, dem Schreiben zu finden.
Das Problem von Moral und Realpolitk bestimmt viele seiner Werke, z.B auch die Novellen " Der Heilige" und "Die Versuchung des Pescara".
Die Nebenfigur Wertmüller wird zweimal als Hexenmeister und Zauberer bezeichnet. Hier habe ich das Gefühl, dass mir ein Hinweis entgangen ist.
Es wird ein paarmal erwähnt, dass Wertmüller sich einen Spaß daraus macht, astrologische Zeichen zu bemühen und Kartentricks usw. durchzuführen. Allerdings nur in Kreisen, die nicht mit dem Herzog in Verbindung stehen. Wertmülller ist sowieso ein interessanter Charakter, in dem sich unbedingte Treue mit einigen lasterhaften und auch misanthropen Zügen paaren. Eigentlich ähnlich wie Jenatsch, nur dass sich dessen unbedingte Treue auf die Freiheit seiner Bünde bezieht. Daneben hatte er aber auch Spaß am Töten und bereicherte sich durch seine Stellung.
finsbury, dein Lesevorschlag war goldrichtig. Die Leserunde hat mir ein neuen Schriftsteller beschert, den ich unbedingt weiterlesen möchte.
das freut mich! Mir geht es ebenso. Eigentlich war mir Meyer nur eingefallen, weil ich meinen diesjährigen Urlaub in der Schweiz verbringe(n möchte, je nachdem, was der Arzt nun dazu sagt).
Jetzt aber habe ich wieder Lunte gerochen und mit den Gedichten begonnne, von denen viele wunderschön sind und von einer einzigartigen Sprachkunst: Tipp: Schwarzschattende Kastanie, Eingelegte Ruder, Zwei Segel
Auch die in meiner Ausgabe enthaltenen Novellen will ich nun noch (einmal) lesen. Ich beginne mit dem "Schuss von der Kanzel" und empfehle dir, wenn du weiter Meyer lesen weillst, auch damit weiterzumachen, weil diese Novelle in der gleichen Zeit spielt und durch die Person des Wertmüller mit dem Jenatsch verknüpft ist.
Vielen Dank, es war eine sehr schöne, kleine, aber feine Leserunde!
finsbury