Ich hab die Vermessung der Welt vor wenigen Monaten gelesen. Neue Literatur ist für mich eigentlich ein Tabu und gehe mit der einzigen Erwartung dran, vollständig von mangelnder Tiefe und Anspruchslosigkeit enttäuscht zu werden.
Vielleicht hat mir das Buch deshalb besser gefallen als euch. Sicher, es ist keine Weltliteratur, aber den Anspruch stellt es doch auch gar nicht. Es ist ein sehr einfaches, relativ flaches Werk in allereinfachster Sprache und von geringem Umfang. Ich hatte es in anderthalb Tagen eines Wochenendes gelesen.
Für das Verständnis des Buches halte ich es für völlig unerheblich wie exakt seine Darstellungen auf historischen Tatsachen beruhen. Er hat schlicht Die Wissenschaft dargestellt, wie sie ist. Sie kann Jahrhunderte vor sich hindümpeln oder auch durch ein einzelnes Genie einen unfassbaren Sprung erfahren. Gleichzeitig sind diese Genies in der Regel relativ unbekannt oder werden gar verspottet. Humboldt, der überhaupt kein Genie hatte, dafür aber mit einer endlosen Disziplin und unergründlicher Neugier und einem bisschen wissenschaftlichen Instinkt ausgestattet gewesen ist, stellt in diesem Buch im Grunde den alltäglichen Wissenschaftler dar, während Gauß die Rolle des Genies vertritt. Während Humboldt morgens in aller Frühe aufsteht und praktisch pausenlos an irgendwas arbeitet, setzt sich der Beinahe-Lebemann Gauß mal eben 15Minuten hin, denkt etwas nach und revolutioniert die Mathematik. Humboldt wird für seine Entdeckungen gerühmt und bewundert, während Gauß sich vor jedem rechtfertigen muss, wozu denn diese Theoriegebilde gut sein sollen. All diese Unterschiede hat Kehlmann mit einer unterhaltsamen und humoristischen Kunst hervorragend offengelegt. Heutzutage ist die Leistung von Gauß nicht aus der Wissenschaft wegzudenken und doch hat er tatsächlich "nur" ein wenig nachgedacht, während Humboldt die Welt bereist und tatsächlich vermessen hat. Seine Leistung ist aber ebensoschnell veraltet , wie die kartografische Leistung (nicht aber deren theoretische Grundlage!) von Gauss, die er zum Broterwerb verrichtete. Kehlmann wollte schlicht den Prozess der Wissensschaffung auf ihren verschiedenen Wegen zeigen. Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Ausblicke auf die Zukunft, die er einem prophetischen Gauß in den Mund legt, die aber zum großen Teil auf dem von ihm gelegten theoretischen Fundament basieren.
Übrigens ist es sogar völlig unwichtig. DIe Leistungen von Gauß liegen fast ausschließlich jenseits jeglicher Grundlagenausbildung und finden nur Verwendung von Fachleuten, nichtsdestotrotz ist z.B. sein Integralsatz ein unabdingbarer Bestandteil von Technik und Wissenschaft. Wen interessiert es da ob ein Buch der Unterhaltungsliteratur für den Durchschnittsmenschen sowas korrekt wiedergibt?