Beiträge von Karamzin

    Heute abend vielleicht drei Bemerkungen:
    finsbury und andere


    Goethe und die Freimaurerei


    Bei der Schilderung der "Turmgesellschaft" in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (1796) wird deutlich, dass die freimaurerische Phase Goethes hinter ihm lag und er das geheimnistuerische Gebaren der Freimaurer an mehreren Stellen nunmehr (selbst-)ironisch betrachtete.
    Nachdem Goethe am 23. Juli 1780 als Lehrling in die Weimarer Loge "Anna Amalia" (!) aufgenommen worden war, war er ab 1783 de facto Leiter der Weimarer Regierung. Am 11. Februar 1783 unterschrieb er nach Herzog Ernst von Sachsen-Gotha und Karl August von Sachsen-Weimar den Antrag zur Aufnahme in die Geheimgesellschaft der Illuminaten, die der Aufklärer Adam Weishaupt in Bayern gegründet hatte, die nach jesuitischem Vorbild mit strenger Geheimhaltung aufgebaut war und etliche Herrscher deutscher Kleinstaaten dazu anhielt, eine neue Organisation der politischen Geschäfte auf aufklärerischer Grundlage herbeizuführen. In Bayern wurden die Illuminaten 1784 verboten, zu denen auch der bekannte Freiherr von Knigge gehörte. Als ihr Führer Adam Weishaupt in die Länder der sächsischen Herzöge emigrierte, verweigerten ihm Goethe und Karl August 1785 eine Professur in Jena und zogen sich wieder von maurerischer Betätigung zurück. Daniel Wilson stellte die Hypothese auf ("Geheimräte gegen Geheimbünde", 1991), dass Karl August und Goethe als Obrigkeit mit ihrem Eintritt in den Illuminatenbund die Untergrundtätigkeit der Freimaurer überwachen wollten, doch wurde diese These von den meisten Forschern zurückgewiesen. Die Unterschrift Goethes vom 11.2. 1783 tauchte in der so genannten "Schwedenkiste" mit Freimaurerakten, die nach 1945 nach Moskau gelangt war, in dem Organ des russischen Geheimdienstes "Sovershenno sekretno" (Vollständig geheim), Nr. 4 (47), 1993, S. 11, als "Sensation" auf, doch war sie der Forschung schon seit 1889 bekannt; bloß wollte man eben lange Zeit nichts von freimaurerischer Betätigung Goethes hören (Nazizeit, DDR). Die deutsche Archivarin Renate Endler (erst Merseburg, dann Berlin-Dahlem) machte die Akten der Forschung allgemein zugänglich.


    Vgl. Helmut Keiler (Hg.): Querelen um die Schwedenkiste Band X in Moskau. Archivsignatur 1412 (1) 5432. Giessen 1994.


    Zu Südtirol und dem Eisacktal


    So sehr heute diese wunderschöne Landschaft zum Anziehungspunkt für den Tourismus geworden ist (Kafka suchte Heilung im Kurort Meran), so sehr suchten die Italien-Reisenden möglichst schnell durch Bozen und weiter nach Süden durchzukommen, und Meran wurde als völlig unbekannt, abseits von der Hauptstraße liegend, beiseite gelassen. Im Etschtal drohten noch Fiebersümpfe. Man lese die Schilderungen der Italienreisenden, Goethes selbst. Erst die Aussicht auf den Gardasee ließ die Reisenden spüren: jetzt erst sind wir in Italien.


    Und nun noch etwas, was bestimmt nicht in den Kommentaren steht, weil eine direkte Verbindung unmöglich nachweisbar ist, wenngleich die Idee umgesetzt wurde: sprechende Wände, belehrende Bildergalerien. Eine Bekannte machte mich darauf aufmerksam, dass sie bereits in Campanellas Utopie "Der Sonnenstaat" als Hilfsmittel der Bildung zu finden sind. Mit General Graf Friedrich zu Anhalt (1732-1794), einem Enkel des "Alten Dessauers" und entferntem Verwandten der Kaiserin Katharina der Großen, waren um 1783/84 die Hoffnungen zahlreicher Aufklärer verbunden, den humanistisch gebildeten, bei Militärs und Zivilisten wegen seiner Hilfsbereitschaft und seines Humors überaus beliebten Anhalt als politisch-militärisch führende Persönlichkeit in Mitteldeutschland zwischen Preußen und Österreich zu sehen. Der alternde Preußenkönig Friedrich II. beleidigte ihn, seinen einstigen Generaladjutanten. Anhalt, der mit Immanuel Kant in Königsberg zu Tisch gesessen und am "Philantropin" in Dessau geweilt hatte, ging in kursächsische Dienste, traf 1778 und 1781 amtlich mit Goethe zusammen, schließlich wandte er sich nach Russland. Er leitete das Landkadettenkorps in St. Petersburg, sein Nachfolger wurde Michail Kutuzov, der russische Oberbefehlshaber 1812 (Tolstoj: "Krieg und Frieden"). Generalleutnant F. von Anhalt zog den Dramatiker Friedrich Maximilian Klinger als engen Helfer dorthin; Jacob Michael Reinhold Lenz wandte sich von Moskau aus ebenfalls an Anhalt um Unterstützung. Und jetzt kommt es: in dieser Erziehungsanstalt schuf er eine "Sprechende Wand" sowohl im "Erholungssaal" der jungen Kadetten (Alter 6 - 20 Jahre), als auch auf der Außenmauer, die er in zwei Büchern 1790 und 1791 vorstellte: "La salle de recreation" und "La muraille parlante".


    Schon um 1800 machten sich die Petersburger lustig über den "deutschen Pedanten" und seine "sprechende Wand", auf der sich Sprichwörter, die Lehren des weisen Konfuzius, Montaignes, Voltaires und vieler anderer Geistesgrößen wiederfanden. Das pädagogische Verfahren aber war Goethe durchaus geläufig.
    Es müsste mal einer eine Biographie dieses Friedrich zu Anhalt schreiben, der die Französische Revolution begrüßte und Zeitungen aus dem revolutionären Paris in seinem "Erholungssaal" auslegte, mit seinem Fortgang nach Russland allerdings der germanistischen Forschung entschwand. :zwinker:


    Bonaventura aka Dr. Marius Fränzel. Nicht zu verwechseln mit Bonaventura aka Ernst August Friedrich Klingemann. Oder gar mit Bonaventura aka Johannes Fidanza. :zwinker:


    Gontscharow Danke für den Link! und sandhofer für die weiteren Informationen.
    Die "Nachtwachen" Klingemanns (1804) kenne ich auch.




    bonaventura zieht ja recht bissig über Goethes „Wanderjahre“ her, im Gefolge von Arno Schmidt und anderen Kritikern des Romans. Es kann sein, dass das von seinen andersgearteten Lesegewohnheiten und Erwartungshaltungen herrührt. Wer vorwiegend Literatur des späten 19., des 20./beginnenden 21. Jahrhunderts zum Maßstab nimmt, mag zu einem derart schroffen Urteil gelangen. Wenn man aber die Entwicklung seit Goethes Jugendzeit und die Romane im 18. Jahrhundert betrachtet: der Dichter geht auf die 80 zu und experimentiert noch mit der Romanform! Wie unterscheidet sich dieser Roman von vorangegangener literarischer Produktion der „klassischen Periode“, die um 1830 zu Ende geht, als man sich noch am klassischen Formenkanon und der Antike orientierte, auch Goethe selbst. Mit den neuen, „offenen“ Schlüssen, den rätselhaften eingestreuten Novellen, die mehrere Deutungen zuließen, kamen schon die meisten Zeitgenossen nicht klar. Vieles in Goethes "Wanderjahren" weist bereits in die Zukunft, die zweite Hälfte des 19. und in das 20. Jahrhundert.


    Sowohl in den Inhalten (Maschinenwesen, pädagogische Utopie, die an die realen Fellenbergschen Anstalten in der Schweiz anknüpft, welche jedoch noch den Standesunterschied bei den Zöglingen kannten) als auch in der Form weist der alternde Goethe m.E. in die zukünftige Literatur, die mehr Schreibweisen zuließ, als das 18. Jahrhundert.
    Er nimmt noch 1830 die Anfänge des jungen Balzac wahr („Chagrinleder“), der zum Meister der Gestaltung sozialer Verwerfungen in Frankreich nach den napoleonischen Kriegen werden sollte, und ärgert sich über die mittelalterlichen Schaudergeschichten des Romantikers Victor Hugo im „Glöckner von Notre Dame“, doch dieser Schriftsteller sollte schließlich „Die Elenden“ (1862) verfassen.


    Auch meine Lesegewohnheiten unterscheiden sich stark von denen bonaventuras alias Marius Fränzel.

    Hallo, willkommen Gontscharow!


    (dieser Schriftsteller verehrte übrigens Karamzin, glänzend sein "Oblomow", "Fregatte Pallas")


    Ich bin da auch wieder (wahrscheinlich im Unterbewusstsein) mit den "Lehrjahren" durcheinander gekommen, Hilarie statt Hersilien muss es heißen.


    Kannst Du mir mit "bonaventura" noch einmal auf die Sprünge helfen?


    Schließlich: in den Novellen werden immer wieder Grenzen sichtbar, an die die Akteure stoßen, es ereignet sich für sie Unerwartetes, Unvorhersehbares, wie es sich in Liebesdingen eigentlich auch gehört; anfängliche Gewissheiten, Planungen, ursprüngliche Festlegungen helfen nicht mehr weiter.


    Man hatte Goethe doch den Vorwurf gemacht, dass seine klassischen Figuren, seine Iphigenien, völlig der Welt entrückt seien, sein Rivale auf der Bühne, August von Kotzebue, griff hingegen Gegenwartsprobleme auf, von deren Bearbeitung das Publikum hingerissen war. Denke man nur an die eheliche Untreue der Ehefrau in Kotzebues "Menschenhaß und Reue" (1789), das bewegte damals die Leute ebenso, wie etwa in der Musik die Oper "Nina" von Paisiello (1788), bei deren ersten Aufführungen in Italien sich wildfremde Leute auf der Straße umarmten.



    Nachdem Goethe schon in den "Wahlverwandtschaften" (1808), die beim Lesen der "Wanderjahre" immer mit im Auge behalten werden sollten, das Neue in den Beziehungen der Geschlechter in einer Epoche der Umwälzungen darzustellen versuchte - die traditionelle, bisher kirchlich gesegnete Ehe wurde als Institution fragwürdig - blickte er in den "Wanderjahren" schon mehrfach weit in die Zukunft. Viele Zeitgenossen kamen schon gar nicht mehr mit.
    Um 1820 beschäftigte er sich intensiv mit Amerika, in dem viele das Land der Zukunft sahen. Etliche der Auswanderer wurden von profitgierigen Transportunternehmern auf den Schiffen zusammengepfercht und an der Küste Amerikas von modernen Sklavenhändlern empfangen, die billige Arbeitskräfte rekrutierten - Goethe las die entsprechenden Schilderungen der Siedler, er denkt in seinem Roman darüber nach, wie diese Auswanderung geordnet und planvoll ins Werk gesetzt werden könnte, und war darin seiner Zeit voraus.


    .....


    Die Themen die du ansprichst finde ich sehr interessant, aber ich muss leider zugeben dass ich irgendwie nicht begriffen habe wie die Sache nun ausgeht :redface: Wer heiratet nun wen und heiratet überhaupt irgendwer? Heiratet Hersilie nun den Sohn oder nicht? Und was ist mit der Witwe? Irgendwie hat der Schluss für mich keinen Sinn ergeben. Sorry wenn sich das lächerlich anhört.


    .....
    Katrin


    Goethe hält den Ausgang seiner Novelle "Der Mann von funfzig Jahren" offen. Hersilie erkennt, dass ihre Neigung zu ihrem Oheim nicht die große Liebe gewesen sein kann, die ein gemeinsames Leben begründet. Sie fühlt sich nunmehr zu dessen Sohn Flavio hingezogen, der erstmals am Beginn des 5. Kapitels mit seinem Vornamen erscheint. Aber sie stößt auch zu den "Entsagenden", indem sie zunächst auf eine Verbindung mit Flavio verzichtet. Beide werden zu den Auswanderern gehören, jedoch auch weiterhin getrennte Wege beschreiten.


    Der Major erkennt, dass er trotz äußerlicher Verjüngungskünste nicht der Geliebte seiner um vieles jüngeren Nichte sein kann. Als Mann von fünfzig Jahren stößt er ebenfalls zu den "Entsagenden". Als Goethe selbst um die fünfzig war - das hat Nicholas Boyle im zweiten Band seiner Biographie (1999) sehr schön beschrieben - erkannte er, dass ihn nicht nur die französischen Revolutionsarmeen an der Überquerung der Alpen und einer nochmaligen Reise nach Italien hinderten. Diese Phase seiner Biographie war abgelaufen. Zu Hause in Weimar warteten auf ihn seine Gefährtin Christiane und sein Sohn August sowie das gemeinsam mit Schiller begonnene Werk der Durchsetzung der klassischen Literatur.


    Als ich 1978 zum ersten Mal den Roman las, dachte ich: wie werde ich erst sein, wenn ich das 50. Lebensjahr erreicht habe. Auch dieser Zeitpunkt liegt inzwischen lange hinter mir. Ich lese die "Wanderjahre" mit ihren Grundmotiven des Entsagens und der Auswanderung durchaus auch bei Betrachtungen über das eigene Leben.

    Haltet Euch jetzt fest, es kommt knüppeldick; sandhofer hat zwar vor Jahren Absolution erteilt, das Thema anzuschneiden, aber ich weiß nicht, wie mir jetzt ergeht, wenn ich in dem Forum eine "Verschwörungstheorie" verbreite.
    Es ist auch wirklich die einzige, der ich anhänge, und schuld sind die mich beeindruckende, warmherzige (!), verführerische Schreibweise und der juristische Scharfsinn von Ettore Ghibellino::sonne: :zwinker:


    http://de.wikipedia.org/wiki/G…0%93_Eine_verbotene_Liebe


    Die Französische Revolution wurde nicht von den Freimaurern verursacht, die Amerikaner waren auf dem Mond, Bin Laden ordnete den Terror in New York an,


    und Goethe liebte nicht Charlotte von Stein, sondern die zehn Jahre ältere Herzoginwitwe Anna Amalia (1739-1807), nach deren Tod er mit der endgültigen Arbeit an den "Wanderjahren" begann. Aber ich will hier keine eigene, vom Roman fortführende Diskussion lostreten, sie kann unterbunden werden, :grmpf: nur:


    - die "schöne Witwe" unterhielt einen Salon, wie Anna Amalia, sie beschäftigte sich beim Zuhören wie diese mit Handarbeiten und liebte es nicht, wenn nach Fortgang der Gäste das Licht gelöscht wurde;
    - Goethe verleiht dem Major wie dem Sohn seine eigenen Züge, nur eben in verschiedenen Lebensaltern und dann wieder verfremdet (von der Jagd hielt der Dichter nichts, indes gibt es jetzt ein Jagdgedicht);
    - Goethe musste mit Antritt seiner Italienreise 1786 aus Staatsräson der Liebe "entsagen" (Ghibellinos historische Argumentation überzeugt mich hier nicht); er darf wegen des Standesunterschieds die schöne Witwe, eine Reichsfürstin, nicht heiraten, um nicht das Wohl Sachsen-Weimars zu gefährden. In den "Wanderjahren" grüßt er sie jetzt, als wären sie doch im Leben verbunden worden, ein letztes Mal in den "Marienbader Elegien" (1823).


    Beide lieben die Dichtkunst, der Major kommt der Witwe mit den antiken römischen Dichtern, wie Goethe Anna Amalia, die berühmten Liebesbriefe an Charlotte (Goethe: "mir verhasster Name") enthalten italienische und lateinische Passagen. Die Witwe Anna Amalia beherrschte vorzüglich diese beiden Sprachen, Charlotte von Stein eben nicht, wie müsste sie sich gefühlt haben, wenn sie die Adressatin dieser Briefe gewesen wäre.


    Meine Empfehlung aber: *Lasst dem Karamzin seine Liebhaberei/Spinnerei; es lohnt sich nicht, sich hier in die haltlosen Hypothesen von Ghibellino zu vertiefen, die ihm schon von der Weimarer Klassikerstiftung schriftlich zerlegt wurden, der wollte nur mal zeigen, wie ihn "Der Mann von funfzig Jahren' wieder auf diese seltsamen Ergüsse dieses Italieners brachten. Und damit weiter im Text, als wenn nichts gewesen wäre* :breitgrins:


    Karamzin: die Diskussion mit den Büchern über die industrielle Revolution habe ich verfolgt. Und im ersten Buch Kapitel 10 ist mir auch das erste mal ein Hinweis darauf aufgefallen. Da wird von Maschinenwesen gesprochen die man nicht mehr aus der Welt bannen kann.


    Ich habe übrigens die Novelle "ein Mann von fünfzig Jahren" beendet. Diese hat mich allerdings ratlos zurück gelassen. Ich habe keine Ahnung was Goethe mir sagen will. Ich fand sie auch nicht witzig oder traurig. Daher bin ich gespannt was ihr dazu sagt.


    Katrin


    Hallo Katrin,


    zu der Novelle "Der Mann von funfzig Jahren", an der Goethe länger als an den anderen gearbeitet hat. Ich respektiere natürlich, wenn Du mit ihr wenig anfangen konntest. Ich war sehr ergriffen, sie nach vielen Jahren wieder gelesen zu haben.


    Will einmal einige Themen anschneiden:


    Verunsicherung in der Partnerwahl - "Unsicherheit seiner selbst" bemerkt der Major (S. 185).
    Ursprüngliche Vorstellungen darüber, wer wen heiraten soll, werden im Verlauf der Handlung über den Haufen geworfen.
    Dass sich eine Nichte (Hersilie) in ihren Onkel (Major) verliebt haben soll, muss doch schon bei den Zeitgenossen Verwunderung erzeugt haben. Dabei zeigt sich ihre Ungleichheit nicht nur in den Lebensjahren, sondern schon in der Anrede: der Major nennt Hersilie "Du", die Nichte "Siezt" ihn.


    Bis heute gibt es gesetzliche Bestimmungen über geschlechtliche Verbindungen zwischen Verwandten, hier wird auch auf die österreichische Gesetzgebung verwiesen:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Inzest


    Die nötige Distanz zu den Romanfiguren wahrend, möchte ich sagen, dass für mich Liebesverhältnisse zwischen nahen Verwandten kein Problem darstellen, ihr Glücksanspruch soll gewahrt sein, wenn es nicht wirklich ernsthafte Gründe geben sollte (Erbkrankheiten), die gegen eine Verbindung sprechen. Gerichtliche Strafandrohungen gehören für mich der Vergangenheit an. Die Gesetzgebung scheint mir noch stark von christlicher Tradition geprägt zu sein.


    Es ist denn auch darauf verwiesen worden, dass Hersilie ihren Onkel nicht wirklich bis zu der Konsequenz geliebt hat, ihr Leben mit ihm teilen zu wollen, sondern in ihm einen väterlichen Freund erblickte.


    Ökonomische Interessen
    Dass der Sohn seine Cousine Hilarie heiraten soll, wie es der Major und seine Schwester, die Baronin, vorsehen, entspricht knallharten ökonomischen Interessen, die trotz aller Gefühlsregungen durchgesetzt werden sollen: die Familiengüter sollen zusammengehalten werden.


    Das Militär
    Der Major und sein Sohn, der Leutnant, der auf einen Aufstieg im Militär hofft, entsprechen dem, was Goethe in seinen "Maximen und Reflexionen" einen "gebildeten Soldaten" nennt. Er, der nicht beim Militär gedient hat und die Champagne von 1792 als Reisender in Zivil miterlebte, traute diesem Berufsstand zu, mehr als die Zivilisten (gab es damals schon Ärmelschoner?) über die nötigen Kenntnisse und Umgangsformen zu verfügen, um in jeder Gesellschaft eine gute Figur abzugeben.


    Hallo @Anna


    In bezug auf die neuere Literatur habe ich mich missverständlich ausgedrückt: ich habe sicher etliche der von Dir genannten Autoren gelesen, auch mit Gewinn, aber wenn ich mir dieses Klassikerforum anschaue, bleiben doch noch viele Bücher übrig, zu denen ich kaum etwas sagen könnte, erst recht nicht in einer Leserunde, und ich glaube, es ist keine Schande, einzugestehen, dass ich von vielen zuvor noch nie etwas gehört habe. Das Forum bildet jedenfalls. :smile: Ich habe übrigens nicht Literatur studiert und mir alles erst im Laufe der Zeit angelesen.


    Noch einmal zur Torheit der "pilgernden Törin": ihr "Experiment", sich allein unter die Männer zu begeben, auf die Gefahr hin, dass diese mit einiger Sicherheit dann etwas von ihr "wollen", kann schon als Überreaktion angesichts der Flatterhaftigkeit des jungen Mannes von der Mühle angesehen werden.
    Aber die ganze Novelle ist ja auch ein Märchen in einer traumhaften Landschaft und hat seinen Ursprung wohl in den französischen Feenmärchen und der Überlieferung von allein reisenden Pilgerinnen, die vor allem der Phantasie entsprungen sind.

    Willkommen


    Anna Magdalena !
    Ich freue mich, dass Du jetzt hier mitmachst und gleich eine ganze Reihe sehr bedenkenswerte Dinge angesprochen hast. Es dürfte gut sein, wenn man immer noch mal auf die Kapitel zurückkommen kann, die von den meisten inzwischen schon gelesen worden sind.


    Jaqui
    Da ich mich nicht jeden Tag melden kann und auch nur zu bestimmten Zeiten an einem für das Forum geeigneten Computer sitze, soll dann später etwas von mir zum "Mann von fünfzig Jahren" und vielleicht noch zu anderen Themen kommen.


    Schließlich verstehe ich auch, wenn die Schreibweise und die behandelten Themen nicht jedem liegen, man sollte sich wirklich nur in seiner Freizeit mit den Autoren beschäftigen, die einem liegen, und sich nicht gezwungen fühlen, wenn man die Lust verliert. Ich habe nun viel mit dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu tun,


    besonders mit dem nur schwer zu erkennenden Mann auf dem Avatar, der unter dem 21. Juli 1789 schrieb: "Goethe habe ich nur gestern im Vorbeigehen am Fenster gesehen; ich blieb stehen und betrachtete ihn einige Minuten. Ein wahres griechisches Gesicht!" Nikolai Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden. Berlin 1977, S. 164.


    aber mir würde es ebenso gehen, wenn ich an große Teile der Literatur des 20. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwartsliteratur denke, zu der ich kaum einen Zugang finde.

    Als Erinnerung an die Ausstellung über den aus der Schweiz stammenden Porträtisten der "klassischen Periode" Anton Graff (1736-1813) habe ich mir den Katalog zugelegt:


    http://www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/anton_graff-67/


    Immer wieder erfreue ich mich an den lebendigen Gesichtern der Porträtierten, unter denen sich bekannte Aufklärer, wie Lessing und Herder, aber auch weniger bekannte Persönlichkeiten finden. Und auch dabei noch gefallen mir besonders die Frauenporträts! Mit etlichen von ihnen könnte man der neuen Leserunde über Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" Illustrationen beigeben. :smile:



    Zusammen mit seinem Landsmann, dem Landschaftsmaler Adrian Zingg (1734-1816), wirkte Graff den größten Teil seines Lebens in Dresden.
    Den 2012 erschienenen Katalog der Zingg-Ausstellung besitze ich ebenfalls:


    http://www.froelichundkaufmann…ereiter-der-Romantik.html


    Das Elbsandsteingebirge erhielt nach Zingg den Namen "Sächsische Schweiz".

    Da ich über das Leben von Goethe so gut wie nichts weiß erschließt sich mir der tiefere Sinn dahinter leider nicht, aber ich bin offenbar nicht die einzige, der es so geht. Höfer schreibt in ihrer Biographie: Wegen der diffusen Vielgestaltigkeit und der streckenweise unübersichtlichen Erzählführung stießen die Wanderjahre bei Goethes Zeitgenossen und auch bei späteren Lesern auf Unverständnis und scharfe Kritik. Noch Thomas Mann hielt den Roman für ein hochmüdes, würdevoll sklerotisches Sammelsurium.


    ....


    Katrin


    Was die Aufnahme der "Wanderjahre" betrifft, so war schon Goethe selbst klar, dass er auf viel Unverständnis bei seinen Zeitgenossen treffen würde. Die Rezeption des Romans ist ein ganzes Kapitel für sich.
    --> Klaus F. Gille: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Königstein/Ts. 1979.


    Viele konnten damit nichts anfangen. Wenn sich Goethes Freunde, wie Wilhelm von Humboldt, anerkennd über das Werk äußerten, so fanden sie darin ganz anderes bemerkenswert, als wir heute.


    Für diese Leserunde war übrigens ein Anstoß die Bitte @finsburys, ihm Titel zu nennen, in denen die industrielle Revolution Ende 18. - erste Hälfte 19. Jahrhunderts literarisch thematisiert wurde.


    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/4817.0
    Da fiel mir sofort dieser Roman ein. Dass sich Goethe aber die Amerika-Auswanderung als Folge der Überbevölkerung in den Tälern und die neue Organisation der gewerblichen Arbeit zum Thema machen würde, konnten die Zeitgenossen unmöglich als darstellenswertes Thema erkennen.


    Das mit der Brille könnte man vielleicht auch so lesen, dass jemand etwas durch eine "getönte Brille" sieht, wie es auch in der Redewendung heisst, und damit nicht etwa besser, sondern alles nur in einem bestimmten eigenen Licht, in eigener Farbe, die nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dadurch ergibt sich für den derart durch diese Brille Sehenden ein schiefes Bild von der Wirklichkeit.
    Aber vielleicht liege ich hier auch schief, und man kann das noch anders verstehen.

    "Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen"


    lautet das wichtigste Motto im Hause des Oheims.


    In Goethes "Maximen und Reflexionen" (eingefügt in die "Wahlverwandtschaften") wird der Gedanke ausgeführt, dass man sich durch Betrachten nicht selbst kennenlernen könne, wohl aber durch Handeln. Versuche Deine Pflicht zu tun, und Du weisst, was an Dir ist. Was ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages.
    In "Wilhelm Meisters Lehrjahren" kommen die Herrnhuter vor, eine Religionsgemeinschaft, die Goethe aus seiner Jugendzeit her kannte (mit Susanne von Plettenberg stellte er esoterische und alchemische Studien an), und die großen Wert auf die Selbstbetrachtung legte. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft, wie auch die Pietisten zuvor, hatten Rechenschaft über sich selbst, über ihre Gefühle abzulegen.
    Goethe fordert hingegen dazu auf, sich auf das Objektive zu werfen, auf die Welt außerhalb, ob als Landbesitzer, wie der Oheim, ob als Bergbausachverständiger, wie Montan, als Gärtner oder Wundarzt. Die Vertreter dieser Berufsgruppen, die sich auf diese Weise mit dem "Nützlichen" beschäftigen, sind am Abend oft so müde, dass sie gar nicht mehr imstande sind, über sich selbst nachzudenken, wie es in den "Bekenntnissen einer schönen Seele" in den "Lehrjahren" geschildert wurde. Die Herrnhuter waren und sind auch heute noch weltweit aktiv, sie reisen nach Amerika, Afrika oder Asien in missionarischer Absicht, jedoch auch mit konkreten Kenntnissen ausgestattet, mit denen sie vor Ort den Einheimischen praktische Hilfe leisten können.


    Wer sich aktiv mit der Umgebung auseinandersetzt, gelangt zur "Wahrheit", sowohl in den Dingen seiner Umgebung, als auch über sich selbst. Darin ist zugleich das "Schöne" enthalten, das der Dichter besingt.

    Eine Leserunde der zwei oder sogar drei Geschwindigkeiten?


    Solange es Euch nicht stört, will ich gern noch ein bißchen "nachwaschen". Nicht nur, dass ich tagelang nicht zum Lesen komme. Ich genieße es auch, langsam im Text vorzudringen. Wenn ich so an die achtzig Seiten gelesen habe, dann ist das schon ein Sechstel des gesamten Textes. :zwinker:


    Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Leserunde über Monate erstreckt und will sie also immer weiter mit Beiträgen bestücken. Das hat es auch in früheren Leserunden gegeben. Unter Umständen könnte ich es so halten (wenn das nicht vollends die Diskussion zerfasern lässt), dass ich oben auf aktuelle Diskussionen eingehe, und darunter unter dem Strich mit meinem langsamen Wanderschritt weiter vordringe.


    Die pilgernde Törin
    Bei dieser Novelle, die tatsächlich aus dem Französischen übersetzt worden ist, zeigt sich meines Erachtens abermals, dass der Kommentator einer vergangenen Epoche der Literaturforschung angehört. Wenn mancher auch gender-Forschungen noch mit Skepsis begegnen mag - hier tut eine gehörige Portion neuen Herangehens gut. Ich will mir in diesem Sinn vornehmen:


    Henriette Herwig: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002.


    und Euch anschließend berichten.


    Die "pilgernde Törin" ist überhaupt keine Närrin, sondern eine selbstbewusste junge Frau, der nur ein Leid widerfahren ist und die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten muss.
    Ihre Art von Torheit ist für Goethe "Vernunft unter einem andern Äußeren" (Hamburger Ausgabe Bd. 8, S. 60).


    Die Novelle ist im Revolutionsjahr 1789 erschienen. Das neue Zeitalter zeigt sich auch darin, dass eine junge Frau vom Stande bisher im "feudalen" Zeitalter Huldigungen als selbstverständlich hinnahm, so wollte es der adlige Ehrenkodex. Diese Pilgerin, die im Sinne der Wanderer auftritt, aber etwas länger geblieben ist, handelt entsprechend dem neuen Zeitalter, das als "kapitalistisch" bezeichnet wird, indem sie sich nicht lediglich als Frau vom Stande darbietet, sondern etwas als Gegenleistung anbietet, Handarbeiten oder Klavierspiel.
    Ihre Situation ist besonders schwierig, weil sie von Vater und Sohn umlagert wird, die nicht auf gröbere Weise wie selbstverständlich ihre männlichen "Ansprüche" an die Fremde geltend machen, die eine Art "Freiwild" für Männer darstellt, sondern gebildet und durchaus liebenswürdig sind. Frauen haben sich entsprechend den Konventionen in der damaligen Männerwelt noch nicht frei und ohne männlichen Schutz zu bewegen. Sie zieht sich überaus geschickt aus der Affäre, ob sie noch in der Zukunft einen eigenen Glücksanspruch realisieren kann, bleibt ungewiß.


    Autobiographisches lugt vor allem aus dem Gedicht hervor:
    "So ändert immer die Geliebten,
    Doch sie verraten müßt ihr nicht." (HA. Bd. 8, S. 57)


    Im Kommentar ist zwar festgehalten worden, dass sich die junge Frau in diesem Gedicht "loser" gibt als sie ist, sie ist eine ernst zu nehmende Frau.
    Aber der Kommentar gibt an dieser Stelle nichts zur Funktion des Gedichts her! (oder ich habe es nicht gefunden, weil es an anderer Stelle kommentiert wird.


    Hier zum ersten Mal ein "Vater - Sohn - Konflikt" bei Goethe, es kommen noch mehr - für mich ist der Roman durchkomponiert, auch wenn die Novellen nur lose miteinander verbunden erscheinen.


    Immerhin liest man im Nachwort von Erich Trunz (1905-2001) zu den "Wanderjahren" in der Hamburger Ausgabe:


    "... es wäre ein Wirrnis, wenn nicht die Wechselwirkung von Tun und Denken immer wieder Wege ergäbe, der Entsagungsgedanke regelnd eingriffe und die Josephsfamilie als schönes Vorbild uns in Erinnerung bliebe." (S. 540)


    In den Anmerkungen noch ausführlicher:


    "Dieses Anfangsbild des Lebens gibt das Normale, Vorbildliche. Unaufdringlich, nur weiterdenkender Zusammenschau bemerkbar, wird hier ein Bild hingestellt, an das man bei allem Folgenden zurückdenken darf: die Familie in ihrer Liebe, ein Weitergeben des Lebens, Zusammenhalt und Fürsorge, Mäßigung. Bevor in den späteren Kapiteln Bilder der Leidenschaft, Maßlosigkeit und Verwirrung folgen, steht hier das Gesunde ... Die Josephs-Familie ist verwurzelt, ungebrochen, gläubig und sicher." (S. 556)


    Sicher, das kann alles herausgelesen werden. Mir scheint allerdings auch, dass hier die christliche Weltsicht und die Sehnsüchte des Herausgebers in seiner Interpretation mit durchscheinen ("das Normale" und vor allem "das Gesunde"! finde hier ich schon grenzwertig), was ebenfalls nicht weiter schlimm ist. Aber man kann auch noch anderes herauslesen.

    1.) Das Alter der Erde


    "Ist denn die Welt nicht auf einmal gemacht?" fragt Felix.
    Hamburger Ausgabe. Bd. 8, S. 30)


    Hier liegt der Bezug zu den Betrachtungen des Heinrich Drendorf in Stifters "Nachsommer" über das Alter der Gebirge ganz klar zutage; seine Arbeiter fragen ebenfalls verwundert, ob nicht die Welt gemäß der Schöpfungsgeschichte auf einmal entstanden sei.


    Die Frage nach dem Alter der Erde entzweite noch zu dieser Zeit viele Gelehrte mit den Theologen.
    Große Ausnahme: Benoit de Maillet (1656-1738), französischer Konsul in der Levante, der zu den wenigen konsequent atheistischen Autoren seiner Zeit zählte, nahm in seinem 1748 erschienenen Werk Telliamed ein Alter der Erde von 2 Milliarden Jahren an; ganz erstaunlich angesichts der heute berechneten 4,550 Milliarden Jahre!
    P.W. Jackson: The Chronologer's Quest. Episodes in the Search for the Age of the Earth. Cambridge 2006, S. 258.
    G.L.L. de Buffon (1707-1788) ging in seiner Histoire Naturelle nur von 77000 Jahren aus und wurde dennoch von den Theologen der Sorbonne angefeindet, die 14 tadelnswerte Thesen fanden, als besonders verwerflich, dass die Sintflut in seinem Werk nicht mehr vorkomme.
    Vgl. T. Hoquet: Buffon. Histoire naturelle et philosophie. Paris 2005; G.-L. L. de Buffon: Allgemeine Naturgeschichte. Neu-Isenburg 2008, S. 986; J. Repcheck: Der Mann, der die Zeit fand. James Hutton und die Entdeckung der Erdgeschichte. Stuttgart 2000, S. 115.


    Goethe ließ m.E. an keiner Stelle erkennen, wie hoch er das Alter der Erde schätzte; das entsprach auch nicht seiner Art, sich in einer solchen Frage an konkreten Zahlen festmachen zu lassen.



    2.) Montan über einen pädagogischen Grundsatz:


    "es ist die Pflicht, andern nur dasjenige zu sagen, was sie aufnehmen können" (HA. Bd. 8, S. 32)


    Es scheint, eine einfach pädagogische Regel, aber, wie so oft bei Goethe, dürfte hier noch mehr drin stecken.
    Goethe ärgerte sich offenbar über Immanuel Kants Grundsatz, wonach Lügen unter allen Umständen nicht statthaft seien. Nun kommt man aber mitunter nicht umhin, einen bestimmten Teil des für sich als "Wahrheit" Erkannten besser (vorerst) zu verschweigen, wenn die Empfänger nicht darauf vorbereitet sind, diese Wahrheit noch nicht fassen können.
    Der "Wilhelm Meister" ist voll von Geheimnissen, Verschwiegenem und Teil-Offenbartem. Der Grundsatz Kants kann nicht immer und unter allen Umständen Geltung beanspruchen. Manche Leute zerbrechen daran, wenn sie plötzlich und unvorbereitet die "Wahrheit" erfahren.



    Mit Kindern über "Werden" und "Zweck" zu sprechen, ist ebenfalls nicht angebracht. Das liegt vor allem am anderen Umgang mit der Zeit. Kinder haben ein anderes Zeitgefühl. Wissen Sie, weshalb etwas geschieht?
    Deshalb empfiehlt Jarno/Montan (der rational herangehende, geologisch kundige Teil in Goethes Persönlichkeit): "in jedem neuen Kreis immer "wieder als Kind anfangen" (HA. Bd. 8, S. 33)


    So, nun will ich Euch wieder einholen und nur noch eines für heute loswerden:


    Ich bin davon überzeugt, dass die eingestreuten Novellen einen ganz bestimmten Platz in der Komposition Goethes einnehmen, bestimmte autobiographische Momente verschlüsselt wieder aufscheinen lassen - und ich bin nach fast 40 Jahren Wiederbegegnung mit dem Text ganz hingerissen davon! :smile:

    Drei Tage war ich nicht in der Nähe meines Computers, und Ihr seid mit dem Lesen schon viel weiter gekommen. Dennoch möchte ich - hoffentlich ohne Euch zu sehr aufzuhalten - doch noch einiges über den Beginn loswerden.



    Es könnte den Anschein haben, dass Goethe die Josephs-Familie als vorbildhaft für ein gegründetes Familienbild hinstellt. Aber wie so vieles bei ihm, ist das wohl nur auf den ersten Anschein hin so. Josephs Familie verkörpert in allem das Gegenteil der "Wanderer", sie verlässt ihr Tal nicht mehr und kümmert sich um nichts, was in der weiten Außenwelt geschieht.
    Nur mal einen Satz, welche Abgründe lässt er sichtbar werden!
    " ... und doch möchte ich sie mir so gern als Witwe denken"
    Hamburger Ausgabe. Bd. 8, S. 25)
    S. 27 "zeigte und erklärte ihr die Bilder" - Die Josephs-Familie hat ihr Leben an die Bildergeschichte angeglichen, die Geburt Jesu. Goethe kritisiert indirekt wohl die Kunstauffassung der zeitgenössischen Nazarener, die nicht mehr nach dem Leben malten, sondern Idealbilder im christlichen Sinne auf die Leinwand warfen (Goethe hatte sich hingegen schon in seiner Jugendzeit vom "Buchstabenglauben" an die Welt des Neuen Testaments verabschiedet.


    http://www.artnews.de/themen/nazarener.htm
    Die Nazarener schufen ihre Bilder nach religiösen Motiven als zeitlose "Idealbilder", sie suchten sich wieder den christlichen Anfängen anzunähern. Das war nicht im Sinne Goethes, der nach ständiger Veränderung strebte.


    Gemälde sollte es später wieder auf dem Sitz des Oheims zu betrachten geben, das waren aber andere Schulen: die der klassischen Malerei der Renaissance, die Holländer und Flamen.


    1807 begann Goethe nach der lebensbedrohlichen Heimsuchung durch die Franzosen am 14.10. 1806 und dem ihn besonders schmerzenden Tod der Herzoginwitwe Anna Amalia wieder mit der Arbeit am Wilhelm Meister. In der Josephs-Geschichte ist im Zusammenhang mit schweren Kriegsläuften von einer "Landmiliz" die Rede, die die Einheimischen vor Räubern zu schützen suchte: das könnte ein Hinweis auf die 50 Jahre zurückliegende Zeit des Siebenjährigen Krieges sein, die Goethe in dem von den Franzosen besetzten Frankfurt erlebte (der kluge Offizier Thoranc im Elternhaus). 1757 verfolgten die Bauern im Weimarischen die fliehenden, plündernden Franzosen nach der Schlacht bei Roßbach, dies mochten ihm Ältere erzählt haben.



    Um es lesbarer zu machen, noch zwei weitere Dinge im nächsten Post:


    Ist dieser Jarno der jetzt Montan heißt in den Lehrjahren eine wichtige Figur?


    Jarno ist in den "Lehrjahren" eine wichtige Figur. Er weist den jungen Wilhelm, der sich mit dem Schauspiel abgibt, auf Shakespeare hin. In den "Lehrjahren" spielt die "Turmgesellschaft" eine große Rolle, der Jarno angehörte, die nach der Art der zeitgenössischen Freimaurerbünde unbemerkt im Hintergrund Wilhelms Schicksal lenkte und ihn auf den Weg des Guten und Wahren brachte.


    Der Beginn des Romans über die "Wanderjahre" bringt im Verhältnis zu den vorhergehenden "Lehrjahren" einen einschneidenden Kontrast mit sich. Am Schluss des ersten Romanes kam es zu dramatischen Verwicklungen und Enthüllungen, mehrere der Hauptpersonen, wie die junge Mignon ("Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen?") und der alte Harfenspieler, kamen zu Tode.


    Felix, der Sohn Wilhelms (*das hoffnungsvolle Talent*, könnte man vielleicht sagen), entging nur knapp dem Tod, als er dem Anschein nach und aus Versehen eine dem Harfenspieler (Augustin) gehörende Flasche mit Opium in tödlicher Dosis ausgetrunken haben sollte, was sich jedoch als Irrtum erwies. Der entsetzte Wilhelm war wegen dieses Schreckens völlig ratlos, während der erschrockene Felix zu Natalie in deren Schoß flüchtete, die Ruhe ausstrahlte und nicht mit ihm schimpfte, weil er aus der Flasche getrunken hatte (ungiftiges Getränk). Überhaupt versagte Wilhelm mehrfach, wenn plötzlich medizinisches Wissen gefragt war.
    -> Natalie bedeutet, "die zu Weihnachten Geborene"


    Am Schluß finden Wilhelm und die von ihm vergötterte Natalie einander, aber sie können nicht beisammen bleiben. Ihnen ist von den Freunden der Turmgesellschaft eine Trennung auferlegt. Wilhelm und sein Sohn Felix begeben sich auf Wanderschaft.


    Und nun noch einmal zu dem Kontrast: während es am Ende der "Lehrjahre" überaus turbulent und aufregend zuging, betrachtet Wilhelm nun am Beginn der "Wanderjahre" die großartige, weitgehend unberührte Natur.


    Ein ähnlicher Kontrast findet sich auch beim Übergang von "Faust I" zu "Faust II". Der erste Teil endet mit der völligen Verzweiflung Fausts, der durch sein Verhalten Gretchen in den Kerker gebracht hatte, das Mädchen in den Augen der Mitmenschen "ehrlos" werden ließ und seinen frühen Tod bewirkte.
    Doch die Natur wirkt heilsam. Am Beginn des zweiten Teils befindet sich Faust in einer großartigen, stimmungsvollen Landschaft, bevor er sich wieder, von Mephistopheles geleitet, in die Verwicklungen der Gesellschaft stürzt.

    Ich habe mich ebenfalls eingefunden und freue mich auf die Leserunde zu den "Wanderjahren"!


    1978, in meiner Studentenzeit, hatte ich den Roman zum ersten Mal gelesen, und danach auch nicht wieder. Ich war damals beeindruckt von den tollen Visionen, der Aufbruchstimmung und dem Motiv des "Wanderns".


    Nach diesen 36 Jahren werde ich bestimmt manches anders lesen. Viele Leseerfahrungen waren seitdem hinzugekommen.
    Meine Eltern hatten in ihrer Büchersammlung eine Einführung, die mir damals von großem Nutzen war, weil ich mich über die Beobachtungen und Quellen Goethes informieren konnte:


    Anneliese Klingenberg: Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre". Quellen und Komposition (Beiträge zur deutschen Klassik. Hrsg. von Helmut Holtzhauer. Bd. 21). Berlin und Weimar 1972.


    In heutigen Ausgaben sind solche Mitteilungen in den Kommentaren reich enthalten, damals benutzte ich die zwölfbändige, sparsam kommentierte Goetheausgabe in der "Bibliothek Deutscher Klassiker", jetzt die vierzehnbändige Hamburger Ausgabe, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz.


    Die Arbeit an dem zuerst von Dir genannten Buch regte Albrecht Koschorke an, eine Konferenz in Augsburg zum Thema "Dichter und Lenker" zu organisieren.


    Manche Herrscher hielten sich nicht nur ihre Hofdichter, sondern verschafften sich auch selbst durch das Schreiben Erleichterung, wobei einige über ihr trauriges Dasein als Despot mehr oder weniger direkt schrieben, andere sich in eher formalen Spielereien übten.


    Sie fand dann im Februar 2012 statt. Der Konferenzband dürfte in wenigen Monaten erscheinen.


    http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=18406


    Schriftstellernde Despoten von Nero an über 2 Jahrtausende hinweg, bis zu Katharina der Großen, Stalin und Mao, bis zu Ghaddafi und Saddam Hussein!


    Mag sein, dass jemandem die zeitübergreifenden Bezüge gefallen. Andere dürften eher bei den epochenspezifischen Details hängenbleiben.