Ich mag ebenfalls die Aphorismen sehr und lasse mich von ihnen inspirieren. Einige erschließen sich mir allerdings nicht.
Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" hier einige aus den verschiedenen Gruppen, die man erkennen kann.
"Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhangt ..." (HA, S. 284)
Mir kamen hier sofort die farbigen Pflanzenzeichnungen der Maria Sibylla Merian in den Sinn. An den Blumen und Pflanzen hängen Insekten und Schnecken, es ergibt sich durch die Tierchen, die in ihrer Bewegung auf den unbeweglichen Stengeln innehalten, noch ein ganz anderes Bild.
"Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist, weiß ich, womit du dich beschäftigst, so weiß ich, was aus dir werden kann." (HA, S. 286)
Nach diesem Muster wurden auch noch andere "Sage mir ..."-Aphorismen geschaffen ("Sage mir, worüber du lachst, und ich sage dir, wer du bist" und Ähnliches). Damit ist nicht gemeint, dass sich Goethe und seine Nachfolger anmaßen würden, wirklich sagen zu können, was es mit dem Gegenüber auf sich hat, sondern es werden lediglich Maßstäbe angegeben, mit denen Menschen beurteilt werden können. Hier spielen viel Intuition und Bauchgefühl hinein, "wissenschaftlich" kann so sicher nicht Psychologie betrieben werden.
Bei dem schon von finsbury angeführten Aphorismus zur "veloziferischen" Beschleunigung (HA, S. 289) kam mir sofort das Büchlein von Manfred Osten über die "Entschleunigung" bei Goethe in den Sinn.
http://www.wallstein-verlag.de…kung-der-langsamkeit.html
Das scheint mir nun ein ganz aktuelles Problem zu sein. Wie schafft es der moderne Mensch, angesichts einer rasanten Beschleunigung vor allem im Bereich Medien (wir nutzen ja hier selber das Internet!) und Verkehr, zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen? Schon Schiller störte das Rumpeln von Pferdegeschirren über das Weimarer Pflaster, aber was haben wir heute für Geräuschkulissen; in der Millionenstadt, in der ich zeitweise wohne, werden erbitterte Auseinandersetzungen über den Fluglärm geführt.
Selbst für das ruhige Lesen dieses Romans wünscht man sich Ruhe zum Versenken in die Lektüre, zum Vertiefen und zur Konzentration. Einige von Euch scheinen ja in stimmungsvollen Gegenden zu wohnen, wo diese Einkehr leichter fällt. Es ist auch ein Unterschied, ob man ständig von zahlreichen Menschen umgeben ist oder sich zeitweise oder zum großen Teil als "Eremit" zurückziehen kann.
Faszinierend schließlich:
"Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen." (HA, S. 299)
Nehmen wir die Geologie und Paläontologie, die hier mehrfach zur Sprache kamen: auf den Deutschen Georg Agricola folgten der Däne Niels Stensen, der Schweizer Scheuchzer, der Schotte Hutton, der Franzose Cuvier, dann wieder der Deutsche Leopold von Buch.
Zu guter Letzt ein Aphorismus, mit dem ich meine Schwierigkeiten habe:
"Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne! Keineswegs! das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht."
Goethe hatte ja nun in der Farbenlehre gegenüber Newton in der Sache (physikalische Optik) Unrecht, wie schon einige Zeitgenossen dachten (Alexander v. Humboldt), die den Dichter bloß nicht kränken wollten. Mit seinem Einwand gegen das Sprichwort, dass die Wahrheit in der Mitte läge (was auch kaum zutrifft), komme ich nicht ganz zurecht.