Beiträge von Karamzin


    Jetzt habe ich mich im dritten Buch etwas vorgearbeitet. Im Anatomiekapitel wird sehr schön deutlich, welche grundlegenden Prinzipien Goethe bei der Naturbetrachtung anwendet. Seine Abscheu vor einer zerteilenden, sezierenden und damit zerstörenden Art der Betrachtung, auch aller 'gewaltsamen' Experimente. Als Gegenbild stellt er das aufbauende, verbindende und veranschaulichende Modellieren vor. Das ist sehr schön.


    ....


    Hier drängt sich mir nun bei diesem Anatomiekapitel ein aktueller Bezug geradezu auf: die erbitterten Auseinandersetzungen, die um die "Körperwelten"-Ausstellung von Hagens geführt werden, zur Zeit in Berlin-Mitte. Es scheint, als habe Goethe geahnt, dass es so etwas einst geben würde, und er hätte bestimmt dieses sehr von kommerziellen Interessen geleitete Unternehmen vehement abgelehnt.


    (Es kann sein, dass die Ausstellung dennoch von einigen Lesern hier im Forum befürwortet wird; von den Teilnehmern dieser Leserunde kann ich mir das freilich nicht vorstellen.)


    Zu seiner Zeit wurde die Diskussion vor allem über die Beschaffung von Leichnamen für die anatomischen Sektionen geführt. Die Kommerzialisierung führte hier zu solchen abstoßenden Erscheinungen, wie dem Leichenraub oder sogar zu Mord, worauf Goethe an anderer Stelle eingeht.

    Ich mag ebenfalls die Aphorismen sehr und lasse mich von ihnen inspirieren. Einige erschließen sich mir allerdings nicht.
    Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" hier einige aus den verschiedenen Gruppen, die man erkennen kann.



    "Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhangt ..." (HA, S. 284)


    Mir kamen hier sofort die farbigen Pflanzenzeichnungen der Maria Sibylla Merian in den Sinn. An den Blumen und Pflanzen hängen Insekten und Schnecken, es ergibt sich durch die Tierchen, die in ihrer Bewegung auf den unbeweglichen Stengeln innehalten, noch ein ganz anderes Bild.



    "Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist, weiß ich, womit du dich beschäftigst, so weiß ich, was aus dir werden kann." (HA, S. 286)


    Nach diesem Muster wurden auch noch andere "Sage mir ..."-Aphorismen geschaffen ("Sage mir, worüber du lachst, und ich sage dir, wer du bist" und Ähnliches). Damit ist nicht gemeint, dass sich Goethe und seine Nachfolger anmaßen würden, wirklich sagen zu können, was es mit dem Gegenüber auf sich hat, sondern es werden lediglich Maßstäbe angegeben, mit denen Menschen beurteilt werden können. Hier spielen viel Intuition und Bauchgefühl hinein, "wissenschaftlich" kann so sicher nicht Psychologie betrieben werden.


    Bei dem schon von finsbury angeführten Aphorismus zur "veloziferischen" Beschleunigung (HA, S. 289) kam mir sofort das Büchlein von Manfred Osten über die "Entschleunigung" bei Goethe in den Sinn.


    http://www.wallstein-verlag.de…kung-der-langsamkeit.html


    Das scheint mir nun ein ganz aktuelles Problem zu sein. Wie schafft es der moderne Mensch, angesichts einer rasanten Beschleunigung vor allem im Bereich Medien (wir nutzen ja hier selber das Internet!) und Verkehr, zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen? Schon Schiller störte das Rumpeln von Pferdegeschirren über das Weimarer Pflaster, aber was haben wir heute für Geräuschkulissen; in der Millionenstadt, in der ich zeitweise wohne, werden erbitterte Auseinandersetzungen über den Fluglärm geführt.
    Selbst für das ruhige Lesen dieses Romans wünscht man sich Ruhe zum Versenken in die Lektüre, zum Vertiefen und zur Konzentration. Einige von Euch scheinen ja in stimmungsvollen Gegenden zu wohnen, wo diese Einkehr leichter fällt. Es ist auch ein Unterschied, ob man ständig von zahlreichen Menschen umgeben ist oder sich zeitweise oder zum großen Teil als "Eremit" zurückziehen kann.


    Faszinierend schließlich:
    "Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen." (HA, S. 299)


    Nehmen wir die Geologie und Paläontologie, die hier mehrfach zur Sprache kamen: auf den Deutschen Georg Agricola folgten der Däne Niels Stensen, der Schweizer Scheuchzer, der Schotte Hutton, der Franzose Cuvier, dann wieder der Deutsche Leopold von Buch.


    Zu guter Letzt ein Aphorismus, mit dem ich meine Schwierigkeiten habe:


    "Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne! Keineswegs! das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht."


    Goethe hatte ja nun in der Farbenlehre gegenüber Newton in der Sache (physikalische Optik) Unrecht, wie schon einige Zeitgenossen dachten (Alexander v. Humboldt), die den Dichter bloß nicht kränken wollten. Mit seinem Einwand gegen das Sprichwort, dass die Wahrheit in der Mitte läge (was auch kaum zutrifft), komme ich nicht ganz zurecht.

    Jetzt einige kleinere Bemerkungen.


    In der auf den Brief Hersilies folgenden Passage gibt es auch noch einen wohl als autobiographisch zu deutenden Hinweis: „Fürwahr, es gibt eine geheimnisvolle Neigung jüngerer Männer zu älteren Frauen“ (HA, S. 267).
    Die 1742 geborene Charlotte von Stein war 7 Jahre älter als Goethe, die 1739 geborene Anna Amalia 10 Jahre.



    In der ergreifenden Geschichte vom Ausflug der Familie auf das Land und den Untergang der Kinder im todbringenden Wasser tritt wohl auch Goethes Einsicht zutage, dass selbst eine gute Vorbereitung - der Fischersohn konnte gut schwimmen - nicht davor bewahrte, in den Untergang, in den Strudel hineingezogen zu werden.


    Die Gestalt der Tante ist wohl eine bei Goethe eher selten anzutreffende Negativzeichnung, bei der die Ablehnung überwiegt. Wohl werden ihr Ordnungssinn und ihre Tatkraft hervorgehoben. Dass jedoch diese Tante die vom tödlichen Fischzug der Kinder übrig gebliebenen Krebse in der Küche zubereitet, obwohl alle anderen ihre Abscheu zum Ausdruck brachten, lässt sie als pietätlos erscheinen, dass sie "Klatschereien" (S. 278) schätzte und ihre Fänge in einen einflussreichen Mann zu schlagen sucht, indem sie dessen Verfressenheit ausnutzt - dies alles macht sie zu einer der bei Goethe eher seltenen negativen Figuren, für die es bestimmt in seinem Leben ein Vorbild gegeben haben dürfte.


    Schließlich lädt der Satz zum Nachdenken ein: "niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde" (HA, S. 282). Dass der Beruf, dem Wilhelms bisher eher unbewusstes Streben galt, als gesellschaftlich wichtig hingestellt werden sollte, leuchtet ein, es mag sich dahinter aber noch ein übertragener Sinn verborgen haben.

    Wir machen unterschiedliche Erfahrungen beim Lesen, manche machen eine Pause, manche hören auf, einen solchen Roman schnell hintereinander weglesen, will sicher nicht jedem gelingen.

    Ich bin nach so vielen Jahren des Wiedersehens und Wiedererkennens nach wie vor ergriffen von der Lektüre, mittlerweile im Dritten Teil angelangt.
    Man hatte mich einmal- wohl zu Recht - gebeten, nicht bei so vielen Gelegenheiten meine passenden oder unpassenden DDR-Erfahrungen einfließen zu lassen. Das kann zum einen auch indirekt, nicht vordergründig geschehen. Wenn ich im Folgenden doch auch einige Gegenwartsbezüge herzustellen versuche , dann bietet sich das meines Erachtens mitunter wirklich an. Dabei erweist sich für mich Goethe an vielen Stellen als erstaunlich aktuell.



    Dass Dir, Gontscharow, die Darstellung der Pädagogischen Provinz Unbehagen bereitet, will ich gern glauben.



    Es gab noch Schlimmeres: In dieser Zeit wurden ‚Volksbeglückungsanstalten‘ entworfen, mit denen dem sozialen Elend abgeholfen werden sollte, Großprojekte der Zusammenballung von Menschen, die gemeinsam wohnen und in der Industrie tätig sein sollten, deren Leben genauen Regeln unterlag und die überwacht wurden, etwa die „Phalanstère“ des französischen Utopisten Charles Fourier, die damals bewundert wurden, aber heute nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Du andeutest, in vielem Grauen erregen. Da gab es keine Intimsphäre mehr. Bis hinein in die menschliche Reproduktion war alles geregelt.


    Jeremy Benthams Panoptikum, ein riesiges Großgefängnis, wo die Insassen durch gläserne Wände sichtbar sein sollten, war auch so ein Entwurf. Goethe hat im Gespräch mit Eckermann den 1748 geborenen Bentham einen "höchst radikalen Narren" genannt (insel taschenbuch 1981, S. 686).


    Zwischen individueller Erziehung im Elternhaus oder im Pfarrhaus und derartigen Großprojekten lag nun die mittelgroße Pädagogische Provinz, in der vor allem auf die ästhetische Erziehung – Goethes wichtiges Anliegen – Wert gelegt wurde. Insofern gibt es einen engen Bezug zu den im Anschluss untergebrachten, von Dir geschätzten Aphorismen, die von Literatur, Dichtkunst, Musik, Plastik und Malerei handeln, und auf die ich auch noch eingehen möchte.
    Wenn Goethe zurückblickte, hatte er das Philantropin in Dessau (1774-1795) und die schon mehrfach erwähnten, 1814 beschriebenen Fellenbergschen Anstalten in Hofwyl vor Augen, wo die Ausbildung in Wirtschaftsfächern im Vordergrund stand und die ästhetische Erziehung nicht so organisiert sein konnte, wie es sich Goethe vorstellte.



    Goethe nimmt auch wieder manches aus seinem Pädagogischen Entwurf zurück, wenn er Montan sagen lässt, dass „eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu“ – Jarno/Montan setzt sich also kritisch ab von den Organisatoren der Pädagogischen Provinz, „Narrenpossen“ (HA, S. 282) seien.

    Bisher sehe ich freundliches Interesse und noch keine Einwände gegen den 1. Oktober als Beginn.
    Der Münchhausen-Vorschlag war damals nicht weiter verfolgt worden, mal sehen, ob er sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf ziehen kann. :zwinker:
    ich könnte das weniger,
    BigBen, zum Leserunden-Typ werde ich hier auch erst allmählich.
    Eine Frage, die hier im Forum schon erörtert worden ist, wären dabei die unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten; ich glaube, dass man damit zurecht kommen kann.


    Ich würde benutzen:


    Karl Immermann: Die Epigonen. Familienmemoiren in 9 Büchern 1823-1835.


    Werke in fünf Bänden. Band 2
    Herausgegeben von Benno von Wiese.
    Frankfurt am Main u. a. 1971. 729 S.

    Ebenfalls schade, Lost, es wäre ja gut, wenn Dich jetzt Deine andere Lektüre erst einmal mehr befriedigen kann.



    Gontscharow


    Du hast mich aber neugierig gemacht! :smile: Längere Texte lese ich ungern auf dem Bildschirm (zu antrengend). Das Buch ist ja gerade erst erschienen und bis jetzt in den Bibliotheken in Bremen, Erfurt, Hamburg, Hannover, Magdeburg, Oldenburg und Weimar, bei mir noch nicht.


    Reinhard Brandt: Die Macht des Vierten. Über eine Ordnung der europäischen Kultur. Hamburg 2014.


    Von diesem Autor kannte ich außer Kant-Studien ein Buch über Arkadien.


    Demnächst will ich mir auch noch zu Gemüte führen:
    Wilhelm Solms: Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten. Marburg 2014.



    Ich sehe aber ein, dass es jetzt nicht vorrangig um Sekundärliteratur gehen kann. Bald schreibe ich wieder zur Goethe-Lektüre. Ich will auch auf Deinen überaus anregenden Text eingehen.

    Hallo, finsbury und die anderen,



    bei Deiner Suche nach Literatur über die industrielle Revolution hattest Du darauf verwiesen, dass Du "Die Epigonen" von Karl Immermann kennst.


    Es hat hier bereits vor einiger Zeit die Absicht zu einer Leserunde zu Immermanns "Münchhausen" bestanden:


    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/2630.0



    Nachdem Deine Suche bereits zum Zustandekommen einer Leserunde über Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" geführt hatte, möchte ich anfragen, ob hier auch Interesse an dem Roman "Die Epigonen" von Karl Immermann besteht?


    Diesen Roman habe ich im Unterschied zu Goethes "Wanderjahren" noch nicht gelesen.


    Bei einem Besuch auf Schloß Hundisburg bei Haldensleben 2012, einem Schauplatz des Romans, stieß ich auf ein Buch, das mein Interesse für Immermanns Roman zusätzlich weckte (ich hatte zwar einmal ein antiquarisches Exemplar in der Hand, es aber zunächst einer Bekannten in Haldensleben geschenkt, die bekannte, es ebenfalls erst einmal auf die Seite zu legen :zwinker: ):


    Ulrich Hauer: Die Epigonen. Kriminalistische Ermittlungen zu den wahren Hintergründen des Epochenromans von Carl Leberecht Immermann. Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg 2008.


    Über den Magdeburger Unternehmer Nathusius, ein Vorbild für eine Romanfigur, siehe auch Theodor Fontane.


    Würden andere Interessenten mitmachen, wenn wir, sage ich mal, am 1. Oktober anfangen würden?


    Die erdgeschichtlichen Exkurse mit Montan/Jarno und den Bergleuten und Handwerkern waren ja spannend!
    In den einzelnen Positionen zur Landschaftsgenese spiegelt sich jeweils inzwischen Erwiesenes, nur dass man heute weiß, dass nicht nur eine Kraft am Werke war, sondern die Landschaft durch eine Vielzahl unterschiedlicher Kräfte geformt wurde: Der Vulkanismus in Form der Plattentektonik, der Neptunismus durch die Urmeere z.B. des Devons und die später folgende Gebirgsbildung, die wiederum der Plattentektonik zu schulden ist und diese devonischen Meerböden auf die Spitzen der Alpen hob, schließlich die Vertreter der glazialen Theorie durch die Eiszeiten des Neozoicums, denen wir viele der rezenten Landschaften in Mittel- und Nordeuropa sowie dem Alpenraum zu verdanken haben.
    Die Ideen, wie sich Landschaft bildete, waren ja schon in der griechischen Antike weit gereift und dann durch die Dogmatik der Kirche jahrhundertelang verschüttet: Mich fasziniert, wie dies alles seit der Renaissance wieder aufbrach und seit der Aufklärung zu einer Explosion der Natur- und angewandten Wissenschaften führte!
    .....


    Am Anfang war ja befürchtet worden, dass noch eine „Gesteinskunde“ auf den Leser niederprasselt. :zwinker:
    Ebenso wie Du war ich beeindruckt von der Darstellung des Streits über die Gebirgsentstehung. Goethe neigte wohl eher zu den „Neptunisten“, das „sanfte Gesetz“ Stifters vorwegnehmend, wie er überhaupt ein Befürworter allmählicher, organischer Entwicklungen war. Seine Freunde gehörten zu beiden Lagern: Der Freiberger Bergrat Abraham Gottlob Werner, der an der Tafel in Goethes Haus am Frauenplan in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ als einziger vom Hausherrn mit seinen speziellen Kenntnissen über Gesteine so richtig ernst genommen wird, war „Neptunist“, Alexander von Humboldt, dessen feuersprühenden Darlegungen über Besonderheiten der Natur Goethe in Jena 1794 kennenlernen sollte, war „Plutonist“. Goethe hatte aber auch während seiner Reisen die Wirkungen der Ausbrüche des Vesuv und des Ätna aus der Nähe verfolgen können.
    Es gibt einen schön ausgestatteten Band:


    Gerd-Rainer Riedel: Der Neptunistenstreit. Goethes Suche nach Erkenntnis in Böhmen. Uckerland 2009.


    Auch in „Faust II“, Zweiter Akt, Klassische Walpurgisnacht, wird der Streit thematisiert. Thales von Milet ist der Neptunist, Anaxagoras der Plutonist.


    (Hamburger Ausgabe. Bd. 3, SW. 239)


    „Anaxagoras. Hast du, o Thales, je i n e i n e r N a c h t
    Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht?“


    Thales weiß: „Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen
    Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen.“


    Die Version des Anaxagoras:
    „Plutonisch, grimmig Feuer, äolischer Dünste Knallkraft, ungeheuer,
    Durchbrach des flachen Bodens alte Kruste …“


    „Knallkraft“ – welches Wort! :smile:




    Letztlich sind jedoch für Goethe die Vertreter beider Lager nicht unversöhnliche Kontrahenten.
    Montan meint in kluger Beschränkung: „Wie diese Gebirge hier entstanden sind, weiß ich nicht, will’s auch nicht wissen ….“ Bei dem unzureichenden Stand der geognostischen Erkenntnis hätte er, der sich durch „Denken und Tun“ die Welt der Gebirge anzueignen suchte, sich nur unfruchtbaren Hypothesen stellen müssen.


    Hallo, @Katrin,


    mache Dir doch bitte nicht so viel Gedanken, ob Du nun auch noch mehr hättest beitragen können -
    es ist einfach schön, dass Du da bist, :smile:
    und durchgehalten hast, hoffentlich gefällt Dir dennoch wieder etwas in dem Goethe- Roman!

    Hallo, finsbury, danke Dir für Deine guten Genesungswünsche, die Mandelentzündung ist im Abklingen.


    Etwas zur Pädagogischen Provinz


    Bevor der zweite Besuch Wilhelms bei den Pädagogen geschildert wird, verweist Goethe darauf, dass seit den Berichten über die vorangegangenen Ereignisse, die schönen Stunden der Entsagenden am Lago Maggiore, "eine Pause und zwar von einigen Jahren" (Hamburger Ausgabe, S. 244) eingetreten sei. Das wirft ein Licht auf den Umgang Goethes mit der Zeit in diesem zweiten Meister-Roman. Von nun an wird es für den Leser wohl überhaupt schwierig, sich vorzustellen, in welchen Zeiträumen sich alles abspielt. Dahinter kann Absicht vermutet werden: die Sammlung der Entsagenden zu ihrer Abreise geschieht in einem zeitlosen Irgendwann, wie sich auch Goethe seinen Übergang vom irdischen Sein in Weimar in eine zeitlose überirdische Nachwelt als in Kürze bevorstehend vorstellen konnte.


    Auch John Bunyans Pilgrims und die bei Johann Heinrich Jung-Stilling an "Heimweh" (1794-1796) Erkrankten versammeln sich in einer unbestimmbaren Zeit, um gemeinsam in die Ewigkeit, das Reich des Herrn und des ewigen Friedens einzuziehen.



    Adalbert Stifter hingegen, der in vielem Goethes "Wanderungen" folgte, ermöglicht es in seinem "Nachsommer" durch die regelmäßigen Zeitangaben recht genau festzuhalten, zu welcher Jahreszeit und in welchem Jahr Heinrich seine Erfahrungen macht. Anhand von konkreten Angaben, wie der Erkrankung des Kaisers Franz, konnte man errechnen, in welche Jahre Stifters Handlung fiel.



    ....


    Die Pädagogische Provinz habe ich jetzt auch fast vollständig durchstreift: Eine interessante Mischung aus aufklärerischem Bildungs- und Erziehungsdenken und rückwärtsgewandter patriarchalisch-absolutistischer Haltung. Mir ist auch immer noch nicht klar, ob dort alle interessierten Eltern ihre Jungen unterbringen können oder doch eher nur die gehobenen Gesellschaftsschichten bzw. die, welche mit ihnen in Kontakt stehen (wie z.B. Wilhelm). Die Städte der bildenden Künstler stelle ich mir sehr langweilig vor, wenn insbesondere die Architekten sich nur in ganz bescheidenem Maße innerhalb der städtebaulichen Vorgaben austoben dürfen.
    Aber man hört doch einen gewissen ironischen Ton heraus, so dass man hier die Meinung des Verfassers nicht mit den dargestellten Absichten deckungsgleich bekommt. Das wird ja dann auch in dem Abschnitt mit dem Theater deutlich. Ich denke, Goethe ist sich hier vielleicht selbstironisch seiner Entwicklung vom Stürmer und Dränger zum Klassiker in stiller Einfalt und edler Größe bewusst.


    Ich könnte mir zum einen vorstellen, dass Goethes Pädagogische Provinz für Zöglinge vorwiegend aus bürgerlichen und adligen Schichten vorgesehen war, die sich einst, nach Abschluss ihrer Bildung, von Alltagssorgen freigestellt und von Knechten und Mägden umsorgt, mit andauerndem Wissenserwerb und den Künsten beschäftigen würden, während die Söhne von Handwerkern und Tagelöhnern wohl eher nur die Berufe ergreifen sollten, die ihnen durch Geburt und frühe Entwicklung näher lagen. Während aber in den Fellenbergschen Anstalten neben Bürgerlichen wirklich noch Dutzende Söhne hoher Adliger erzogen wurden, war Goethes Provinz sozial durchlässig für begabte Angehörige aller Stände und das Gleichheitsprinzip gewahrt. Genau belegen kann ich diese Vermutungen aber auch nicht.


    Schließlich sehe ich in der Ablehnung des Theaters wie Du eine Ironisierung Goethes, der mit seinem Romanhelden Wilhelm auf seine Laufbahn als Dramatiker zurückblickt. Gleichzeitig ist allerdings der Faust II noch im Entstehen, der die im 18. Jahrhundert geltenden dramatischen Regeln sprengen wird. Goethe verfasst ein grandioses Schauspiel, in dem die Jahrtausende von der Antike über das Mittelalter und die frühe Neuzeit, Fausts Lebenszeit, bis zu seiner, Goethes, eigenen vergänglichen Lebenszeit im Eilschritt durchmessen werden, die Zeiten und Orte der Handlung wechseln rasant.


    Mit dem Blick auf die 1820er Jahre müsste man im übrigen auch sagen, dass in der Dramatik der Zeit des "Biedermeier" und der Restauration in Deutschland tatsächlich weitgehend, salopp gesagt, "tote Hose" war. Die genialen Irrlichter der Dramatik nach 1830, Christian Dietrich Grabbe und Georg Büchner, waren noch in den Schuljahren, und sollten im übrigen auch von ihren Zeitgenossen kaum wahrgenommen werden (Grabbes "Herzog von Gothland" erschien erst 1892 im Druck).

    Es gibt eine in meinen Augen substantielle Kritik an Lev Tolstoj, die von dem Moskauer Philosophen und Schriftsteller Vladimir Karlovich Kantor (geb. 1945) stammt. Ein Teil seiner Bücher ist auch in deutscher Sprache zu lesen, die ich empfehlen möchte.
    http://www.perlentaucher.de/autor/vladimir-kantor.html


    Tolstoj lobe etwa in "Krieg und Frieden", Kantor zufolge, vor allem das Irrationale, die endlose Duldsamkeit der russischen Bauern, die von keiner Bildung und Aufklärung erreicht werden.
    Von den Franzosen, die eine Revolution hinter sich hatten, komme das Unheil, Napoleon erscheint bei Tolstoj tatsächlich eher als eine Karikatur, ein Zerrbild. Der russische Reformer Michail Speranskij (1772-1839), der rechtstaatliche Verhältnisse in Russland anstrebte, wird im Roman als kalter und steifer Westler verhöhnt. Die meisten Deutschen sind hölzerne Pedanten und begreifen die russische Volksseele nicht, Wolzogen und Clausewitz reiten am Vortag der Schlacht von Borodino als ahnungslose überhebliche Deutsche durch das russische Lager und Leute ihres Schlages verderben den Zaren mit ihren neunmalklugen Ratschlägen. Bei Tolstoj ist, so scheint mir ebenfalls, eine aufklärungsfeindliche, vernunftfeindliche Tendenz festzuhalten, ein Anti-Westlertum, das indes in realsozialistischen Zeiten im Klassenkampf gegen den feindlichen Westen dankbar aufgegriffen wurde (Kampagne gegen den "Kosmopolitismus" Anfang der 1950er Jahre, Überlegenheitsgefühl unter Chruschtschow gegenüber dem "dekadenten Westen" usw., die sich in der literaturhistorischen Behandlung Tolstojs niederschlugen).


    Lenin, der einen "feudalen Sozialismus" von anderen Ausprägungsformen des Sozialismus unterschied und Tolstoj zu dieser Strömung zählte, war zwar das religiöse Tolstojanertum unheimlich, aber der Schriftsteller, der die soziale Ungerechtigkeit anprangerte, war ein willkommener Verbündeter der Bolschewiki bei der sozialen Umwälzung, bei der das Dorf gegen die Stadt (mit ihrer Intelligenz) ausgespielt wurde. Und der Marxismus-Leninismus ließ die religiösen Traditionen mit übergroßen Bildern von Persönlichkeiten, großen Fahnen, panegyrischen Dankesworten, Weiheliedern unter anderem Vorzeichen munter weiterleben.



    Anstatt einen Rechtsstaat mit Gesetzlichkeit herbeiführen zu wollen, setzt Tolstoj auf das dumpfe anarchische Gefühl im Volke. Der Adlige erhebt sich mit Verachtung über die bürgerlichen Emporkömmlinge, auch wenn diese mit praktischem Wissen in den Bereichen Handel, Finanzen, Gewerbe ausgestattet waren. Die Übernahme des französischen bürgerlichen Code Civil, so sein Sprachrohr Fürst Andrej Bolkonski, hätte für Russland nur Fremdes, Verderbenbringendes zur Folge gehabt.
    Tolstoj wollte ja noch Nikolaj Karamzin (1766-1826) als die beherrschende intellektuelle Gestalt Russlands zu jener Zeit in "Krieg und Frieden" einführen, doch erwies sich dieser offenbar ebenfalls als zu "westlerisch", zu sehr beeinflusst vom Denken der Aufklärung und des Rationalismus.
    Es könnte jemand kommen und sagen, dass das dann auch noch stärker in den Ansichten Dostoevskijs enthalten sei und sich bei Solshenizyn fortsetzt.


    In Gontscharows "Oblomow" hingegen wird der bürgerliche Freund des untätigen Romanhelden namens Stolz (!) mit oder trotz deutscher Herkunft als durchweg positive Gestalt gezeichnet, solche aktiven Leute brauche Russland!

    Wie Dorothea Veit, die Tochter Moses Mendelssohns und Leiterin eines Salons in Berlin, am 15. November 1799 in einem Brief an Friedrich Schleiermacher mitteilte, sei sie am Vortage erstmals mit Goethe zusammengetroffen. Man könnte daraus schließen, dass ihm zu jener Zeit an Nachrichten über Goethe gelegen war, was auch ein Brief Friedrich Schlegels an Schleiermacher vom November 1800 bezeugt, in dem der Romantiker auf Distanz zu Goethe geht.


    Von seinem Nierenleiden geplagt, reiste Goethe am 2. Juli 1805 mit Christiane nach Bad Lauchstädt, Sohn August und Sekretär Riemer folgten. Vom 8. bis 22. Juli wohnte Goethe in Halle bei dem Philologen Friedrich August Wolf (1759-1824), der sich vor allem um die Homer-Forschung verdient gemacht hatte, und hörte die Vorlesungen von Franz Joseph Gall (1758-1828) über Schädelkunde. Die Phrenologie war nach der Physiognomik Lavaters und den Magnetismus-Vorführungen Mesmers eine Modeerscheinung, doch sollten auch noch die Nationalsozialisten Schädelkunde in den Dienst ihres Rassenwahns stellen.


    In Halle begegnete Goethe nun am 21. Juli 1805 erstmals Schleiermacher, wie dieser an Henriette Herz berichtete, weitere Treffen vor Ort sollten folgen. Zum anschließenden Besuch wieder des Lauchstädter Brunnens kam auch der Altersfreund des Dichters, der Musiker Carl Friedrich Zelter aus Berlin.


    Oben war bei finsbury von der wirksamen Rolle des Gesangs bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen die Rede - praktische Anleitungen erhielt Goethe wohl vor allem von Zelter, dem Leiter der Singakademie in Berlin.


    Vgl. Rose Unterberger: Die Goethe-Chronik. Frankfurt am Main und Leipzig 2002, S. 226, 231, 258-259.


    Am 27. August 1805 setzte sich die nun so genannte "Große Armee" Napoleons an der Atlantikküste in Bewegung und war bereits 24 Tage später am Mittelrhein, entgegen den verbündeten Österreichern und Russen.


    Vgl. Alain Felkel: Louis Nicolas Davout. Das Genie hinter Napoleons Siegen. Hamburg 2013, S. 140.

    Die Novelle "Das nußbraune Mädchen" ist nun tatsächlich sehr kurz und geht unmittelbar in die Handlung über.


    Was aber zumindest an Eindrücken festgehalten werden sollte: Die Fürbitte des "nußbraunen Mädchens", das dem "Baron" in den Parkanlagen gegenübertritt, muss daran erinnern, dass sich der Beginn der Begegnungen Goethes und der Blumenherstellerin Christiane Vulpius im Weimarer Ilmpark 1788 so abgespielt haben könnte, deren Äußeres durchaus dem des "nußbraunen Mädchens" entsprochen haben kann (sie hatte einen dunklen Teint).


    Goethe hat, wie Nicholas Boyle in Teil II festhält, ab 1796 noch innigere Liebe zu seiner Gefährtin Christiane empfunden, die allerdings noch nicht in der Weimarer Gesellschaft anerkannt war, der Sex trat in ihrem Verhältnis zurück. Sie half ihm, hielt ihm den Rücken frei, wärmte ihn auf, berichtete ihm, was im Weimarer Theater vorging und war nicht das "Dummchen am Herd" - Sigrid Damm setzte sich ja auch vehement für Christiane als eine beeindruckende Persönlichkeit ein.


    Goethe musste sich während seiner Italienreise zeitweise als "Baron" ausgeben. Gegenüber Christiane (gest. 1816) dürfte er in der Zeit der Abfassung der "Wanderjahre" Dankbarkeit empfunden haben, und wenn er bei ihrem qualvollen Ende nicht anwesend war, so entsprach das wohl generell seinem Habitus, schweres Siechtum und Tod persönlich zu meiden.


    Und nun noch etwas ziemlich Finsteres: Goethe scheint ja auch sein dominantes Verhältnis gegenüber Sohn August in den "Wanderjahren" reflektiert zu haben:


    Lenardo:
    "... der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu dem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten: 'Der Helden Söhne werden Taugenichtse'..." (HA. Bd. 8, S. 141)


    Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Ausgabe von 1829 lebte August von Goethe noch; 1830 ging er in der Fremde in Rom zugrunde.
    Ich habe ja nun auch einen erwachsenen Sohn, aber an dessen Fehlern kann ich mich nun wirklich nicht freuen, gruselige Vorstellung :rollen:

    Das Verzeichnis der Bibliothek Goethes ist mittlerweile 56 Jahre alt:


    Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeiter der Ausgabe: Hans Ruppert. Weimar 1958.


    In Weimar geht man jetzt daran, die Bibliothek mit modernen Mitteln zu erschließen. Mit Hilfe der Elektronik können Randbemerkungen, Eigentumsnachweise und ähnliches gut eingearbeitet werden.


    5424 Nummern umfasst der Katalog. Die Theologie nimmt darin nur einen verhältnismäßig kleinen Platz ein, von den Nummern 2603 bis 2739. Schleiermacher oder Spalding sind nicht darin vertreten. Über seine Universitätsverbindungen in Jena und Göttingen ist es verständlich, dass Goethe Werke der führenden Theologen Eichhorn in Göttingen und Paulus in Jena für seine Bibliothek erhielt.


    Gontscharow


    S. 464, Nr. 3185
    "CAMPANELLA, Thomas. - F. Thomae Campanellae De sensu rerum et magia libri quatuor ... Francofurti 1620. 8 Bl., 371 S.
    Tag- und Jahreshefte 1817: "Zufällig macht' ich mir ein Geschäft, eine alte Ausgabe des Thomas Campanella de sensu rerum von Druckfehlern zu reinigen: eine Folge des höchst aufmerksamen Lesens, das ich diesem wichtigen Denkmal seiner Zeit von neuem zuwendete."


    Was die Pädagogik betrifft, so sind die Werke Pestalozzis nicht vertreten.
    Der russische Staatssekretär griechischer Herkunft, Graf Capo d'Istria (1776-1830), eine zeitlang Leiter der russischen Außenpolitik, Freund Karamzins und erster Präsident des freien Griechenlands, der durch eine Verschwörung ermordet wurde, schickte 1814 an Zar Alexander I. eine Beschreibung der Fellenbergschen Erziehungsanstalten:


    S. 469, Nr. 3219, Capo d’Istria, Comte de: Rapport présenté à sa Majesté l’Empereur Alexandre …. sur les établissements de M. Fellenberg à Hofwyl en Octobre 1814. Paris et Genève:Paschoud 1815. 92 S., 2 Bl.


    Schließlich finden sich mehrere Titel über Amerikareisen, wobei Alexander von Humboldt Reisen in die Äquatorialländer dokumentierte.


    S. 589, Nr. 4098
    Bernhard Herzog zu Sachsen-Weimar-Eisenach. - Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika in den Jahren 1825 und 1826. Hrsg. von Heinrich Luden. Weimar 1828. XXXXI, 317 S., 3 Kupfertafeln usw.


    Das Elend der "spontanen" Auswanderer nach Amerika:
    S. 590, Nr. 4104 GALL, Ludwig: Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten in Nord-Amerika, im Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimath im Winter 1820. Th. 1.2. Trier 1822.




    Solche Bibliothekskataloge müssen allerdings nicht zu viel besagen. Goethe konnte sich zunächst aus der Bibliothek seines Vaters und dann auch aus der Herzoglichen Bibliothek in Weimar und anderen Büchersammlungen bedienen, und wenn andererseits der eine oder andere Titel seinen Bücherschrank zierte, so heißt das noch lange nicht, dass er ihn auch gründlich gelesen hätte.


    ...


    Noch eine Anmerkung zur Pädagogischen Provinz: Die Fruchtbarmachung aller religiösen Traditionen (Heidentum, Judentum, Philosophie und Christentum) hat etwas durchaus Faszinierendes. Bemerkenswert ist freilich, dass Goethe bei der Einbindung des Christentums in dieses Konstrukt vor allem die belehrend-gleichnishaften Aspekte der christlichen Tradition benennt - die Passion, Tod und Auferstehung Christi aber ausspart. An diesem Punkt scheitern seine ästhetischen und dogmatischen Ansprüche. Damit verfehlt er natürlich aus der Sicht der weiteren christlichen Tradition den Kern - aber umso überraschender ist dann, dass er auf einem anderen Wege zu einer Lebenshaltung und Weltanschauung gerät (einer Ehrfurcht gegenüber dem, was ist und einer Haltung der puren Präsenz), die der des Christentums sehr nahe ist.


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    Von all dem Interessanten, was Du schreibst, will ich mir das über die christliche Tradition herausgreifen.
    Im 18. Jahrhundert waren einige religiöse Autoren massenhaft gelesen worden, von Lessing, Herder zustimmend, wie "Der Christ in der Einsamkeit" (1758) des in Bremen geborenen und in Schlesien tätigen Martin Crugot (1725-1790) oder "Die Bestimmung des Menschen" (1748) von Johann Joachim Spalding (1714-1804), in denen Jesus Christus und seine Tat als Erlöser nicht ein einziges Mal vorkommen! Dabei hatten beide Autoren einen hohen Rang in der protestantischen Geistlichkeit inne und waren angesehen.


    "Der Christ in der Einsamkeit" von Crugot, das sind hymnische Betrachtungen eines Christen über sein intimes Verhältnis zu Gott, die er am Morgen bei aufgehender Sonne, abends, bei Anbruch der Dunkelheit, und in tiefer stiller Nacht anstellt. Crugot wandte sich dem zu seiner Zeit populären Thema der "Einsamkeit" zu, mit dem eine Individualisierung des Gläubigen verbunden war. In der "Bestimmung des Menschen" Spaldings begibt sich der Christ bewusst in die Hände Gottes, ohne dass die Vermittlung durch Christus auch nur erwähnt ist. Die Königin Elisabeth Charlotte von Preußen war von Crugot und Spalding so begeistert, dass sie ersteren ins Französische übersetzte, um ihren ins Freigeistige verirrten Gemahl Friedrich II. vielleicht doch noch auf den Weg des Glaubens bringen zu können.
    Das Christentum ist vor allem eine Morallehre für das Individuum, das sein eigenes Verhältnis zum Allmächtigen, zur All-Natur herstellt, bis zum Pantheismus Goethes ist es nicht mehr weit.

    Wer ist der Verräter - 2


    Professor N., der Vater Lucidors, ist wie der Oberamtmann Witwer. Goethe spielt an den drei jungen Leuten durch, wie unterschiedlich Kinder aufwachsen können, denen in jungen Jahren die Mutter genommen wurde.


    Mit dem Vater und Sohn kommt der universitäre Bereich ins Spiel, den Goethe in Straßburg kennenlernte. Ich habe bei den Novellen immer Bilder vor Augen, in diesem Falle ist es die Universitätsstadt Jena, in deren Nähe sich das Gut Drackendorf befand, wo der alternde Goethe der jungen Sylvie von Ziegesar den Hof machte, was sich auch noch in Karlsbad fortsetzte. Das war keine tragische Leidenschaft mehr, sondern nur eine herzliche, verspielte Zuneigung des 53-jährigen „Mannes von funfzig Jahren“ Goethe.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Sylvie_von_Ziegesar


    (gemäß der von mir favorisierten Hypothese war dann auch 1823 Ulrike von Levetzow in Marienbad nicht mehr die letzte große Liebe und der alte Goethe schon liebesblind; sondern die „Marienbader Elegien“ sind die Erinnerungen eines reifen Mannes an eine längst verflossene Zeit des Liebesglücks.)


    Der „Anton Reiser“, auf den Goethe mehrfach anspielt, war der bitterarme Romanheld seines Freundes in der italienischen Zeit, Karl Philipp Moritz (1756-1793), den Goethe nach dessen Sturzverletzung eigenhändig am Krankenbett pflegte. Der „Anton Reiser“ ist eine erschütternde Lektüre, die autobiographische Momente enthaltende Schilderung der Entwicklung eines jungen Mannes, der in Pyrmont in einer pietistisch-seelenzerquälerischen Umgebung (Quäkergemeinde in der Nachfolge der quietistischen Madame de Guyon, die es heute noch gibt) aufwuchs, buchstäblich Hunger litt, als Handwerkslehrling ausgebeutet wurde (Hände blutig gescheuert) und, wie Wilhelm Meister, zu einer Theatertruppe stieß.
    „Anton Reiser“ ist ebenso ein spannendes autobiographisches Zeugnis, wie die Jugenderinnerungen des Augenarztes und Pietisten Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), der sich nach den „Stillen im Lande“ nannte, die auch in der Novelle „Das nußbraune Mädchen“ erscheinen (HA, S. 130).


    Gerade von der „Isola Bella“ wollte Julie etwas erfahren, der Insel im Lago Maggiore (siehe oben).
    Schließlich unternahm Goethe ebenfalls 1774 so eine Rheinfahrt „zwischen Mainz und Koblenz“ (S. 90), mit dem Physiognomiker Lavater und dem Pädagogen Basedow als zeitweiligen Reisegefährten. Und wenn Lucidor in einer „guten Lehranstalt“ nicht nur herangebildet, sondern auch in Dingen Herz und Verstand erzogen wurde, so könnte das ein „Philantropin“ von der Art der 1774 von eben diesem Basedow in Dessau gegründeten Lehreinrichtung gewesen sein. Aber jetzt höre ich auf mit „Wer ist der Verräter?“

    Wie angekündigt, will ich in den Teilen noch einmal „nachwaschen“, die von Euch bereits gelesen wurden.



    Wer ist der Verräter?

    Anna Magdalena hat diese Novelle nicht so gut gefallen, für finsbury ist sie sogar eine „unsägliche Geschichte“.


    Ich war in meiner Kindheit und Jugendzeit in Erfurt und Weimar auf den Spuren Goethes und anderer Zeitgenossen aufgewachsen, ich stand in meiner Geburtsstadt Erfurt vor der Tafel, die an die Begegnung Goethes mit Napoleon 1808 erinnerte, am Dacherödenschen Haus, wo Wilhelm von Humboldt die kluge Caroline von Dacheröden heiratete. Als ich 1978 die „Wanderjahre“ las – ich gestehe es – identifizierte ich mich als junger Mann weitgehend mit der literarischen Figur des Lucidor. Mich hätte die stille, häusliche Lucinde mit ihrer „Geradheit und Reinheit“ (HA, S. 87) mehr angezogen als die quirlige Julie mit ihrem Reisedrang.
    Mir fielen damals die großen Ähnlichkeiten mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ein: auf dem Gut erscheint ein Schwarm von Gästen mit Charlottes verzogener und mutwilliger Tochter Luciane, die immer im Mittelpunkt stehen will. Sie belustigt sich über Bilder von Affen, die sie mit ihnen bekannten Personen vergleicht. Das dürfte sowohl ein Beitrag Goethes zur Diskussion über die Zwischenglieder zwischen Affen und Menschen ("Orang-Outan"-Diskurs) als auch eine Kritik an der Physiognomie, der Lehre Lavaters, gewesen sein.
    Affen waren für Goethe „abscheuliche Geschöpfe“, denen er offenbar ebenso Abneigung entgegen brachte, wie Brillen und Tabakrauch. Die nervige Luciane posierte, tanzend verschiedene Figuren darstellend, wie Lady Hamilton in Neapel, die die Mätresse und spätere Gattin des viel älteren schwerreichen Lord Hamilton war, des „Liebhabers des Vulkans“ (in meinen Augen schlechter Roman der Susan Sonntag), den sie schließlich betrog. Goethe lernte das Paar während seines Besuchs in ihrer Villa und der Besteigung des Vesuv kennen.


    Jetzt aber endlich zurück zu „Wer ist der Verräter?“: Julie hat im Unterschied zur oberflächlichen Luciane ein ernsthaftes Interesse an Geographie und Reisen, wofür ihr der welterfahrene Antoni als Partner gerade recht kommt. Ihr steht es zu, dem unbeholfenen Lucidor am Schluss in der Kutsche etwas Lehrreiches zu vermitteln (auch in „Lotte in Weimar" Thomas Manns findet das letzte geisterhafte Gespräch in einer Kutsche statt; Charlotte kann dem Dichter für die letzten Lebensjahre noch einige Wahrheiten mitgeben).


    Nicht zufällig heisst Antoni so ähnlich wie Antonio im „Torquato Tasso“. Ihn fasst der Held, Lucidor, wie zuvor auch Tasso, zunächst als Nebenbuhler und Gegner auf, doch erweist sich dieser am Schluss, wenn auch nicht als Freund, so doch als erträglicher Schwager.


    Goethe ironisiert das Herangehen der Juristen, der er selbst in Straßburg und Wetzlar einer war, und nimmt zugleich ihre Maximen ernst, die freilich ins Groteske umschlagen können: „Wir sollten vertraute Geschäfte der Freunde wie unsere eigenen behandeln“ (HA, S. 106). Lucidor kann nicht anders, als in eigenen Herzensangelegenheiten ebenso vernünftig zu verfahren.


    Es ist gesagt worden, dass in der Novelle „Kommunikation verweigert“ wird, von der oben von mir erwähnten Autorin, von der ich noch berichten wollte: Henriette Herwig: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002.

    Ich würde auch sagen, dass sich der Großteil der Handlung einige Tagesreisen im "Umritt" des Lago Maggiore abspielt, wobei die Gegend für Goethe ja auch nur ein Landesteil seiner Sehnsüchte war. Er war zwar dreimal in der Schweiz, ist aber nicht von dort nach dem Süden, nach Italien vorgestoßen.


    http://commons.wikimedia.org/w…e%27s_Italian_Journey.png


    Nicholas Boyle (Bd. II, 1999, S. 519) schildert, wie Goethe 1795, also nach seinen Italienreisen, die Aquarelle vom Lago Maggiore und seinen Inseln ansah, die der Weimarer Maler Georg Melchior Kraus von einer Studienreise in diese Gegend mitgebracht hatte.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Melchior_Kraus


    Wenige Jahre später ließ Jean Paul einen Teil seines Romans "Titan" in einem Palast auf der Isola Bella des Lago Maggiore spielen, wo er nie war. Aber diejenigen, die diese Gegend aus eigenem Augenschein kannten, mussten sie in der Schilderung im Roman wiedererkennen. Jean Paul hat sich eifrig Reiseschilderungen und Kupferstiche angesehen, und die Illusion des eigenen Augenscheins konnte dann auch erzeugt werden.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Isola_Bella_(Lago_Maggiore)


    Im zweiten Buch, Kapitel 1, geht es um die Friese im Zentrum der Pädagogischen Provinz, auf denen die Geschichte des israelitischen Volkes dargestellt wird und außerdem daran anschließend um die Gestalt Jesu.


    In diesem Zusammenhang finde ich folgende Artikelfolge von Ursula Homann interessant:


    Goethe und das Judentum


    Zu dem Text über die Frankfurter Judengasse: für die Frankfurt-Reisenden in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war sie ein Anlass, sich zur unterdrückten Lage der Juden zu äußern, die z.B. noch lange Zeit nicht zu Zeiten des Gottesdienstes der Christen außerhalb ihres Viertels spazieren gehen durften.
    Ich habe in Erinnerung:


    - Wilhelm von Humboldt und seinen Erzieher Joachim Heinrich Campe (1788/90),


    - den dänischen Dichter Jens Baggesen (1764-1823): "Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz 1789 (Bibliothek des 18. Jahrhunderts). Leipzig und Weimar 1985, "Die Judengasse in Frankfurt", S. 254:
    "Man stelle sich eine Sammlung von einigen tausend zerlumpten Männern, einigen tausend halbnackten Frauen und einigen tausend vollkommen nackten Kindern zusammengedrängt und zusammengepfercht in einer einzigen Gasse vor, etwa so wie unser Kopenhagener Peer-Madsen-Gang! Welch ein entsetzlicher Haufen Elend!" ... "Die Anwälte der Unterdrückten haben die Pflicht, in jeder moralisch zulässigen Weise die Unterdrücker darauf aufmerksam zu machen, was sie tun, falls sie es nicht wissen ..." (S. 255) D. H. die Juden konnten zu jener Zeit anscheinend selbst noch nichts tun, um ihre Lage zu erleichtern, sie brauchten Anwälte (in der Nachfolge des Ch. W. Dohm).


    Nikolaj Karamzin (1766-1826), 31. Juli 1789: "Es tut weh, diese Unglücklichen zu sehen, die so gedrückt unter allen Menschen leben!" (Briefe eines russischen Reisenden. Berlin 1977, S. 185)


    "Und gestern ging ich zu einem andern Juden, um einige Dukaten gegen Laubtaler umzusetzen. Auf seinem Tisch lag Mendelssohns 'Jerusalem' aufgeschlagen. 'Mendelssohn war ein großer Mann', sagte ich, indem ich das Buch in die Hand nahm. 'Kennen sie ihn von dieser Seite?', fragte er mit heiterem Lächeln. 'Wissen Sie auch, daß er zu meinem Volke gehörte und daß er ebensogut einen Bart trug wie ich?' - 'Ich weiß', antwortete ich. Darauf fing mein Jude an, Mendelssohn mit Wärme und Begeisterung zu loben, und beschloß endlich seine Lobrede auf ihn mit der wiederholten Versicherung, daß dieser große Mann, dieser Sokrates und Plato unserer Zeit, ein Jude gewesen sei - und punktum." -
    Als Shakespeares Drama "Der Kaufmann von Venedig" aufgeführt worden sei, ließen die Frankfurter Juden dem Theaterdirektor ausrichten, dass sie beim nächsten Mal dem Schauspiel fernbleiben würden. Karamzin berichtet: "Der Direktor, der nicht gern etwas von seiner Einnahme verlieren wollte, antwortete, daß dieses Stück aus der Liste der auf dem Frankfurter Theater aufzuführenden Stücke gestrichen werden sollte." (S. 186)
    Sie konnten also dennoch etwas tun, aber erst mit den revolutionären Franzosen kam Hilfe.