Beiträge von Steffi

    "Ein Mord den jeder begeht" habe ich nun schon ein Weilchen zu Ende gelesen. Die Industriestadt konnte ich nicht eindeutig benennen, vielleicht war es Heilbronn.


    Der Roman wirkt schon so ein bißchen wie eine kleine Vorstudie zur "Strudlhofstiege", es gibt einige gemeinsame Themen und auch die Hauptfigur könnte genauso auch dort auftauchen. Die Geschichte ist allerdings mehr gestrafft, es fehlen Passagen, in denen Doderer seine Philosophie und seine Betrachtungen ausführt, hier musste er wohl erst noch zu seinem Stil finden. Trotzdem erkennt man Doderer bereits und er hat doch eine ganz spezielle Art, wie er Atmosphäre erzielt und auch bestimmte Doderer-Mataphern kommen hier zum Einsatz. Insgesamt liest sich der Roman aufgrund der vielen Handlung sehr flüssig und der Leser ist sehr dicht an dem Protagonist Conrad Castiletz dran, ja man kriecht manchmal förmlich in diesen hinein.


    Es ist auf jeden Fall eines meiner Top-Bücher in diesem Jahr, nur ein bißchen Angst habe ich vor weiteren Büchern Doderers. Was, wenn sie nicht mit der "Strudlhofstiege" und dem "Mord ... " mithalten können ?

    Wow, Hubert, das ist ja eine ausführliche Recherche, vielen Dank ! Ich finde es sehr interessant und es zeigt mir, dass Kafka sicher seine Werke mit Blick auf die Psychoanalyse geschrieben hat, aber diese für sich umgesetzt und mit seinen Erfahrungen vermischt hat.


    Bluebell, du hast die Verwirrung super beschrieben, mir ging es beim Lesen auch ähnlich schwankend und ebenfalls schätze ich, dass das Ende zwar in eine Richtung weist, aber es trotzdem offen lässt. Für mich eine sehr intensive Erzählung, die ich jedem Kafka-Neuling empfehlen würde, weil doch ziemlich viel seiner Themen (Vater-Sohn-Konflikt, wechselnde Sichtweisen, absurde Szenen, Hilflosigkeit und Verzweiflung, Passivität) darin enthalten ist.


    "Die Verwandlung" habe ich vor ein paar Monaten gelesen, ich werde sie wohl im Moment nicht noch einmal lesen, daher hoffe ich, ihr entschuldigt, wenn ich mir einzelner Textpassagen nicht mehr ganz sicher bin. Insgesamt hab ich die Verwandlung schon dreimal gelesen.
    Ich warte jetzt einfach mal auf eure Beiträge, denn ich will nicht gleich zu weit vorpreschen.

    Hallo JMaria,


    schön, dass du meiner Bitte folgst und mitmachst und uns mit deinen Gedanken bereicherst. :winken:



    eigentlich wollte ich etwas Boshaftes schreiben


    Tsts, Lost :angst:


    Ich hab so ein bißchen Schwierigkeiten, mich ganz auf die Masuren einzulassen. Das war auch schon bei "So zärtlich war Suleyken" so, ich weiß nie, ob ich über diese kauzigen Personen lachen soll oder mich freuen, dass ich sie nicht kennengelernt habe :zwinker:


    Die Beschreibung der Geschichte über das Theaterstück gefällt mir auch, gleichzeitig auch die Erzählhaltung aus der Sicht des Kindes Zygmunt. Eingebettet in die Erzählungen bei den Besuchen durch den erwachsenen Zygmunt. Erzählt aus einer sehr beschränkten, einseitigen Erzählhaltung. Sehr schön gemacht !



    Diese Episoden kommen wie ein Abenteuerroman rüber, ein masurischer Tom Sawyer(?) Der Leser ist auf Augenhöhe des Kindes, das trotz Krieg, noch das Abenteuer darin entdeckt.


    Das hilft mir doch schon weiter, ein sehr schöner und passender Vergleich !


    Auch ich denke, dass die historischen Fakten sicher stimmen.


    Ich komme nun zum 3. Kapitel, die Beschreibung von Edith lässt mich aufhorchen, was die Zukunft Zygmunds betrifft.

    Vielen Dank für die ausführliche Antwort zu Kafkas Versuche, die Erzählungen gesammelt herauszubringen, sowohl "Söhne" als auch "Strafe" finde ich sehr passend.


    Außerdem gefällt mir, wie schön du den Schluß strukturiert hast. Mir waren die Aussagen über den Vater gar nicht so bewusst und ich habe auch nicht darüber nachgedacht, ob er tot sein könnte. Schlüssig wäre es aber schon.


    Ob Georg stirbt - ich glaube schon. Obwohl mir diese Abschiedsworte ein bißchen zu pathetisch klingen, zusammen mit dem Bild des brausendes Verkehrs auf der Brücke. Auch dass er sich hinabfallen lässt und nicht aktiv hinunterspringt hat einen Hauch von Selbstmitleid und das lässt einen Suizid glaubhaft erscheinen. Nach einem aktiven Hinunterspringen wäre dann auch ein weiterschwimmen eher denkbar. Diese Passivität angesichts des Urteils und auch der Tod passen auch zu "In der Strafkolonie" und der Verwandlung, dass es eben nicht nur ein Urteil sondern auch eine Strafe und den Vollzug dieser gibt und geben muss.


    Gibt es den Freund in Russland wirklich, oder nur in Georgs Phantasie. Für beides gibt es Argumente – was meint ihr?


    Ja, das frage ich mich auch. Ich bin mir auch nicht sicher über den Schluß, stirbt Georg wirklich ? Vielleicht spielt sich alles nur im Kopf ab - Kafkas oder Georgs ?



    Ja, er wollte ja auch die Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und „In der Strafkolonie“ zusammen unter dem Titel „Strafen“ veröffentlichen.


    Das wusste ich nicht, vielen Dank für den Hinweis.

    Hallo Lost,


    ich bin gestern nur ein paar Seiten weit gekommen. Aber ich finde die Idee und die Art und Weise, wie Lenz die Thematik einführt, ganz interessant. Genau wie du schreibst, spürt man den historischen Verlust und fragt sich natürlich, welche Gründe zu dem Brand geführt haben.

    Ich konnte nun auch den ersten Band lesen und bin schon etwas beeindruckt. Die Atmosphäre und die wichtigsten Aussagen sind enthalten und sehr schön umgesetzt.
    Ich bin ebenfalls kein großer Comic-Leser und ich denke, diese graphic novel soll auch keinesfalls das Lesen der Recherche ersetzen. Aber es ist eine wunderschöne Hommage an Proust !

    "Das Urteil":


    Eine sehr intensive, kurze Geschichte, an der mir vor allem die abrupte Wendung gefallen hat. Soeben noch ein idyllischer Sonntagmorgen und plötzlich gleitet die Geschichte in eine absurde, surreale Situation ab., die der Handlung eine völlig andere Richtung gibt. Natürlich gibt es den Vater-Sohn-Konflikt, auch in dem Freund in Russland könnte man einen Anklang an Kafka selbst finden, der sich selbst ja ebenfalls als erfolglos und isoliert empfand. Es stellt sich auch die Frage, ob diese Einsamkeit nicht besser als Georgs Abhängigkeit in einer vermeintlich sichere Familie ist, was Georg, genauso wie Gregor (Samsa aus der Verwandlung) nicht erkennt.


    Mich hat überhaupt viel an der Geschichte an "Die Verwandlung" erinnert, z.B. dass Georg's Versuche der Pflichterfüllung nicht ausreichen und der zunehmend furchteinflössende Vater an Macht gewinnt . Vor allem, da sich durch den Tod der Mutter, die Verlobung Georgs und den geschäfltichen Erfolg die Positionen innerhalb der Familie verändern wird Georg zu einer Bedrohung. Der Hass Georgs auf sich selbst, auf seine Abhängigkeit vom Vater oder vielleicht auch auf das patriarchalische System wird deutlich spürbar.


    Die Erzählung endet in einem Bild, das mich an Kinofilme erinnert; unbeeindruckt von der persönlichen Qual schreitet die anonyme, technische Welt weiter fort.


    Dass das Verhältnis zwischen Kafka und seinem Vater nicht das beste war, weiß ich, aber dass der Vater seinem Sohn gegenüber körperliche Gewalt angewendet hätte, ist mir nicht bekannt. Weißt Du da mehr?


    Nein, ich weiß nicht sehr viel biografisches über Kafka, zumindest kann ich mir aber vorstellen, dass psychische Gewalt, und die hat der Vater ja wohl unbestritten ausgeübt, auch zu physischen Gewaltphantasien anregen können. Ich weiß auch nicht, inwieweit Kafka über sich bezüglich dieser Gewalt, die ja in vielen seiner Werke vorhanden ist, reflektieren konnte. Sicherlich wäre es hilfreich, wenn man wüsste, wie groß seine Kenntnis über Freud und die Psychoanalyse war.




    Welchen Grund sollte es für Kafka geben, Milena in einem Brief zu provozieren? Und wenn es einen Grund gäbe, wäre die zitierte Briefstelle überhaupt geeignet Milena zu provozieren?


    Kann es sein, dass es in deinem Umfeld wenig Menschen gibt, die gerne provozieren und einen netten Sarkasmus pflegen ?
    Für mich klingt das Zitat aus dem Brief an Milena Jesenska nämlich eher nach einer sarkastischen Bemerkung, vielleicht auf eine Kritik, dass er Gewalt zu sehr verherrliche.


    Ganz sicher beschäftigte er sich jedoch mit Strafen, sicher auch aus einem juristischen Kontext heraus. Rechtstaatliche Strafe als eine Art legitimierte Gewalt, die leider auch zu Machtmißbrauch und Willkür anregt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Wandel der Straftheorie von der Vergeltungsstrafe hin zu der Zweckstrafe. Kafka hat ja in Prag Jura studiert, an der auch Hans Gross lehrte, der zu den Anhängern der Strafrechtsreform um Franz von Liszt gehörte. Die Todesstrafe sollte abgeschafft werden und eine Zweckstrafe eingeführt werden.


    "In der Strafkolonie" zeigt aber, dass unter gewissen Umständen die Todesstrafe zurückkehrt. Die Frage ist ja nun, befürwortet er diese oder warnt er vor dem Machtmißbrauch, der dies möglich machen würde. Für mich ist in der Strafkolonie eindeutig eine Warnung enthalten, auch unterstrichen durch die Schilderung der Grausamkeiten.


    Übertragen auf das Buch, fallen natürlich Autor 2 und 3 weg, aber jeder Leser liest seinen eigenen Roman und das ist natürlich ein anderer als der, den der Schriftsteller geschrieben hat. Trotzdem ist jede dieser Interpretationen richtig, es ist imo nicht nötig den Roman des Autors zu verstehen, der eigene Roman ist selbstverständlich für den jeweiligen Leser der Wichtigere und Bessere.


    Schön, dass du wieder da bist, Hubert !


    Da stimme ich dir natürlich zu ! Für mich ist allerdings Kafka ein Schriftsteller, bei dem wirklich viele individuelle Leserinterpretationen möglich sind. Es gibt ja auch Romane, bei denen jeder auf mehr oder weniger diesselbe Sichtweise und Interpretation kommt.


    Ob Kafka tatsächlich Lust an Gewalt/Folter hatte oder ob er solche Dinge aus Provokation schrieb ? Eine Art Inszenierung der Gewalt, die er vielleicht auch durch seinen Vater erfahren hat ? Ich bin mir da noch nicht ganz sicher.
    Es ist auf jeden Fall eines seiner immerwiederkehrenden Themen, auch wenn es z.B. als Leiden verschlüsselt wird.


    Für Kafka hoffe ich, das Du auch darin Recht hast und er uns nur die Grausamkeit der Menschen vor Augen halten will und nicht wirklich zur Grausamkeit neigte, was ich inzwischen auch, durch lesen von Sekundärliteratur, annehmen könnte.


    Ich kenne mich in Kafkas Biografie nicht so gut aus und neige dazu, seine Geschichten einfach so auf mich wirken zu lassen. Schon bei meiner Beschäftigung mit der "Verwandlung" habe ich gemerkt, wie viele unterschiedliche Interpretationsansätze es gibt und eigentlich waren alle nicht so einfach von der Hand zu weisen.


    Dein Hinweis, Hubert, auf Jom Kippur machte mich natürlich gleich neugierig und ich habe dann den entprechenden Artikel in wikipedia gelesen. Demnach scheint die Idee der Zeremonie darin zu liegen, die Sünden an den bösen Geist zurückzusenden, dessen Einfluss sie ihr Entstehen verdankten (Quelle: wikipedia.de) Gehen deine Hinweise in diese Richtung ? Das passt natürlich ebenfalls sehr schön, das Blut und die Zeremonie bzw. Ritualisierung des Todes, danach kann der unbeteiligte, gereinigte Zuschauer wieder seinem Leben nachgehen ...

    Verrohung - hm, natürlich sind wir durch die Fernsehbilder einiges gewöhnt, aber hier spielt es sich doch "nur" im Kopf ab. Ich denke, dass dieses Unbeteiligtsein auch ein gewisser Schutzmechanismus ist, den wir da eingeübt haben.


    Trotzdem zeigt uns Kafka, und das schätze ich an Kafka immer, die eigentliche Grausamkeit des Menschen, die uns immer noch erschlägt, sei es innerhalb eines kleinen familiären Kreises oder eben in einer fernen Kolonie. Hat Kafka den Titel selbst gefunden oder wurde die Erzählung nachträglich so genannt ? Ansonsten erübrigt sich nämlich das Nachdenken, wo diese Strafkolonie eigentlich ist.

    Hallo Bluebell,


    ja, die Frauen haben mich auch irritert.


    Blutrünstig im eigentlichen Sinne fand ich die Beschreibung nicht, allerdings doch sehr intensiv und ekelerregend. Insofern sind wir schon bei Kafka, denn ich finde, dass er mit wenigen Worten immer sehr schön einen gewissen Ekeleffekt erreichen kann. In der "Verwandlung" zum Beispiel.


    Der Schluss - es stimmt, es sieht aus wie eine Flucht und er setzt sich mit dem Geschehen nicht auseinander. Das hätte man sich ja gewünscht, dass sich einer mal traut, was dagegen zu sagen bzw. sich an den aktuellen Kommandanten zu wenden. Aber nun ist der Fanatiker tot und alles ist gut ... Traurig !

    Hubert: Danke fürs Eröffnen des threads. Spaß habe ich bei Kafka eigentlich immer :smile:


    Ich habe heute morgen die Erzählung gelesen und mir fällt es gar nicht so leicht, etwas darüber zu schreiben.


    Mir fiel die neutrale, fast unbeteiligte Haltung des Reisenden auf. Dieser kommt von außen und soll eine grausame Foltermethode begutachten, will sie aus reiner Neugier auch begutachten. Durch die Erzählhaltung findet sich der Leser in der Sicht des Reisenden wieder, jedenfalls ist dieser nicht umittelbar an den wirklich deutlich geschilderten Grausamkeiten beteiligt und so kann sich der Leser auch mit gutem Gewissen an die Foltermaschine heranwagen. Ich fühlte mich zwar abgestoßen, gleichzeitig aber auch fasziniert von den Beschreibungen. Wenn man den Zeitpunkt bedenkt, wann die Erzählung geschrieben wurde (1914), könnte das eine Haltung der "Kriegsmitläufer" widerspiegeln.


    Ein weiteres Thema ist der Offizier, der von der Methode überzeugt ist, weil sie seiner Meinung nach eine erlösende Wirkung auf die Seele hat. Geht es ihm darum oder ist es nur ein vorgeschobener Grund, nämlich um Macht und Grausamkeit zu kaschieren ? Ich denke, dass er eine Art Fanatismus vertritt, denn jegliches Nachdenken über die tatsächliche und objektive Wirkungsweise des Apparates lehnt er ab. Ja, er ist sogar bereit, für seine Überzeugung einen sinnlosen Tod zu sterben, was mich wieder zum Krieg bringt.


    Der Schluß, das plötzliche Abreisen, kann ich mit nicht so richtig erklären ?

    Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein
    ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.
    Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht



    Im Moment bin ich mitten in "Ein Mord den jeder begeht". Oben habe ich mal den Anfang zitiert. Wie erhofft, verzichtet Doderer hier auf seine, in der Strudlhofstiege doch manchmal ermüdenden philosopischen Belehrungen und Betrachtungen. Umso dichter wirkt hier die Beschreibung des Protagonisten Conrad Castiletz, ein gutbürgerlicher, pedantischer und gefühlsarmer Junge, der in der Textilbranche aufsteigt. Ich weiß nicht genau, wie Doderer es schafft, über mehr oder weniger alltägliche Begebenheiten einen so detaillierten und stimmigen Charakter zu entwerfen, über den direkt nur sehr wenig gesagt wird.


    Neben den schon bei der Strudlhofstiege bekannten Metaphern wie Lurche und Lackgeruch ist die Atmosphäre einer süddeutschen Industriestadt (ich komme selber aus einer) faszinierend. Überhaupt scheint "Stadt" und die bestimmten Plätze (Wohnungen, Fabrikgebäude) darin und die Wege zu diesen bzw. auch zwischen den Städten eine wichtige Rolle zu spielen. So spielt ein Eisenbahntunnel eine Rolle, scheinbar hat Doderer hierfür bei dem Eisenbahntunnel zwischen Lauffen und Kirchheim recherchiert. Leider bin ich noch nicht draufgekommen, in welcher Industriestadt sich Conrad später befindet (Stuttgart - aber hier fehlt die typische topografische Beschreibung, dafür gibts aber die Königstraße oder Heilbronn).

    Hallo Hubert,


    interessanter Einwand - allerdings im Falle von Swift nachvollziehbar: die Frauen damals durften ja kein eigenes Land besitzen. Ein Romananfang mit "Mein Vater..." macht auf jeden Fall schonmal neugierig auf die Vater-Autor(in)-Beziehung. Mögen sie sich oder nicht ?