Beiträge von xenophanes

    Hallo!


    Ich bin jetzt bei V,5 angelangt und kann die "politische" Diskussion oben gut nach vollziehen. Tiefpunkt des Romans waren für mich bisher die Jugendepisoden Rudolfs in Geroldstein (III, 3ff). Nimmt man das Interessanteste des Buches weg, nämlich die Schilderung des "Gossenmilieus", bleibt kaum mehr Substanz übrig. Rudolf wächst im Sinne eines populistischen Rousseauismus auf und Polemiken gegen "Verstandesmenschen" les ich prinzipiell nicht gerne:


    Zitat

    Falsche, kalte Verstandesmenschen nehmen überraschend schnell auch die ihrem Wesen am wenigsten entsprechende Sprache und Manieren an, denn bei ihnen ist alles äußerlich, oberflächlich, Schein, Firnis und Rinde. (S. 328)


    Was die Charakterzeichnung angeht, bin ich mit mir noch nicht im Reinen. Ohne Zweifel ist viel schablonenhaft und binär gezeichnet. Man kann aber nicht sagen, dass der Text durchgehend psychologisch platt ist. Die Beziehung zwischen Eule/Hinkebein etwa fand ich durchaus interessant oder die ziemlich überzeugende Schilderung der Mobstimmung im Kapitel "Die Milchfrau" (IV, 13).


    Überrascht hat mich auch, dass Rudolf nun doch ab und an zu kritischer (?) Selbstreflexion neigt, etwa wenn er der Madame Harville schildern, dass sich seine Wohltaten nicht zuletzt auch durch deren Unterhaltungswert motiviert sind (V,5).


    Die Spannungsdramaturgie finde ich nach wie vor beachtlich. Das Buch liest sich für mich wie ein Pageturner. Mit allen Vor- und Nachteilen des Genres.


    CK


    Mich interessiert wieder einmal die Frage, warum das Werk ein solcher Erfolg war. Ich kann mir vorstellen, das gerade auch solche Szenen die Phantasie der Leser anregten, sie aus dem Alltag heraus hoben. Durch die Form des Fortsetzungsromans ergab sich da viel Diskussionsstoff: Wie geht es wohl weiter? Was würde ich tun, wenn mir jemand ein Haus schenken würde? Hat der Chourineur das verdient? etc.


    Ich denke, das liegt in der Kombination von damals "skandalösen" Stoff in Kombination mit gut gemachter Spannungsdramaturgie.


    CK

    Ich habe jetzt am Wochenende den erste Teil gelesen und wusste ja, dank Eurer Beiträge bisher, ungefähr was mich erwartet.


    Vorab sei gesagt: Ich lese das Buch gern, zwar mit ironischer Distanz, fühle mich aber durchaus unterhalten. Der Karl May Bezug (habe in meiner internetfreien Jugend im letzten Jahrtausend den kompletten Karl May gelesen) ist mir auch sofort aufgefallen. Erwähnt wurde aber noch nicht, dass auch die christliche Tünche über allen guten Taten ebenfalls sehr ähnlich ist.


    Die Stärken des Romans liegen sicher in der meinem Eindruck nach ziemlich naturalistischen Milieuschilderung inklusive den detaillierten sozioökonomischen Angaben über Preise / Löhne oder auch das Justizsystem. Außerdem versteht es Sue ausgezeichnet Spannung aufzubauen und hier im besten Sinne unterhaltend zu schreiben.


    Die Schwächen sind offensichtlich und wurden ja auch schon angesprochen: Die Handlung ist insofern kolportagehaft als immer wieder extrem Unwahrscheinliches passiert (das "zufällige" Treffen zu Beginn auf dem Feld, die überraschenden Bezüge zwischen den Personen etc.).
    Die analytische Reflexion fehlt mir auch, womit jetzt nicht nur explizite Kommentare gemeint sind. Ein guter Vergleich ist hier "Rot und Schwarz", das ja ebenfalls eine soziologische Milieuschilderung zum Ziel hat (wenn auch nicht der "Gosse") und wo Stendhal sich auf einem komplett anderen Niveau bewegt.


    Richtig ist sicher, dass vor Sue in dieser Drastik die "Unterschicht" meines Wissens nicht geschildert worden ist, zumindest in der französischen Literatur. "Woyzeck" konnte Sue ja sicher nicht kennen, aber "Oliver Twist" geht natürlich in eine ähnlich Richtung und ist 10 Jahre früher erschienen.


    Erstaunlich finde ich, wie der erzählerische Typus ((reicher) Superheld bestraft die Bösen und belohnt die Guten) seit der Antike so viele anspricht. Ein Beleg dafür, dass die evidente Gerechtigkeitslücke im Leben die Menschen seit jeher stark beschäftigt.


    Das diesem Typus intellektuell etwas Lächerliches anhaftet, hat schon Cervantes erkannt und brillant in seinem "Don Quijote" umgesetzt, der ja auch eine Art Herzog Rudolf verkörpert, aber bei jedem seiner Versuche an der Wirklichkeit scheitert. Das war nicht ganz 250 Jahre vor den "Geheimnissen von Paris" und sollten eigentlich jedem Autor mit Anspruch verbieten, das wieder aus der narrativen Schatztruhe heraus zu suchen.


    Gruss
    CK

    Im Oktober reisebedingt nicht so viel gelesen:


    Baedecker: Türkei [Auswahl]
    Robert L. Dise Jr.: Ancient Empires before Alexander (TTC Audio Lectures, 18h)
    Jörg Klinger: Hethiter. Geschichte - Gesellschaft - Kultur (C.H. Beck Wissen)
    Herta Müller: Herztier. Roman (rororo)


    CK


    Eben bekam ich einen Anruf eines NZZ-Lesers. Ob es den Briefwechsel denn auch als Buch gäbe, seine Buchhandlung könne ihm da überhaupt nicht weiterhelfen. Ich war für einen Moment sprachlos und habe dann die Münchner Ausgabe als Taschenbuch empfohlen.


    :grmpf: --> totlach