Beiträge von xenophanes

    Hallo,


    ein Auszug aus meinen "Notizen":


    Den Auftakt zum ersten Buch bilden eine Reihe von besonders kurzen Essais. Die für seine Zeit beachtliche Vorurteilslosigkeit zeigt sich im elften Stück "Über die Zukunftsdeutungen". Während bei vielen Intellektuellen der Renaissance die Astrologie ein hohes Ansehen genießt, unterzieht Montaigne diesen Humbug, "ein vielsagendes Beispiel für die wahnsinnige Neugierde Menschennatur" [S. 26], einer nüchternen Betrachtung:


    Zitat

    Tatsächlich mit eigenen Augen gesehen aber habe ich, daß bei öffentlichen Wirren die durch solche Heimsuchung verstörten Menschen sich wie auf jeden anderen Aberglauben auch auf den stürzen, im Himmel die Ursachen und Androhungen ihres Unglücks ausfindig zu machen zu können [...]
    Ein leichtes Spiel bietet ihnen aber besonders der dunke, vieldeutige und verstiegne prophetische Jargon, dem seine Urheber nie einen klaren Sinn geben, damit die Nachwelt den ihr jeweils passenden hineinlegen könne.
    [S. 27]


    Bis auf den heutigen Tag verstehen das viele Menschen nicht, was der Erfolg diverser hanebücherner Entschlüsselungsbücher (Bibelcode und Co.) hinreichend belegt. Hübsch auch, dass Montaigne bereits mit Statistik argumentiert, die heute noch bei der Entlarvung esoterischen Unsinns große Dienste leistet. Er bringt ein Beispiel aus der Antike:


    Zitat

    Als Diagoras, den sie den Atheisten nannten, auf der Insel Samothrake weilte, zeigte ihm im Tempel einer die zahlreichen Bilder und Votivtafeln, und fragte ihn: "Du meinst also, daß die Götter sich nicht um menschliche Angelegenheit kümmern? Was aber sagst du nun dazu, daß so viele Menschen durch ihre Gnade gerettet wurden?" "Der Eindruck täuscht", antwortet er, "denn die Ertrunknen, deren weit mehr waren, sind ja nicht mitgemalt!"
    [S. 27]


    CK

    Hallo!


    Zitat von "sandhofer"


    Wobei aber die "Vernunftreligion" eine andere, eigene ist. Die mittelalterlichen Gottesgelehrten aber waren der Ansicht, dass der gewachsene katholische Glaube logisch und von daher problemlos vermittelbar sei (inkl. Dreieinigkeit!)).


    Bin mir trotzdem nicht sicher, ob Montaigne das unterschreiben würde. Er agumentiert ja ausschließlich ex negativo. Man kann nichts Sicheres wissen, daher ist es am besten man hält sich an Gott. Ohne Gott wäre man epistemologisch hilflos.


    Er schreibt ja auch, dass des Menschen Verständnisvermögen für einfache Dinge nicht ausreicht. Das schließt IMO mit ein, dass es für "Gottesfragen" bei weitem nicht ausreichen kann. Er macht sich über dieses naive Gottesverständnis ja auch lustig.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "sandhofer"

    Ich muss übrigens meine Aussage betr. der Modernität von Montaigne wieder zurücknehmen bzw. relativieren. Gerade das grosse Kapitel über Sebond zeigt in gewissem Sinn einen mittelalterlichen Montaigne. Genau wie die grossen Scholastiker (auf die er übrigens in diesm Kapitel nur ganz kurz Bezug nimmt - er hat sie offenbar auch nie gelesen) geht er davon aus, dass der katholische Glaube logisch zu sichern sein.


    So streng sehe ich das nicht. Einerseits war dieser Glaube einer logischen Begründbarkeit ja bis in die Aufklärung verbreitet. Der Deismus "glaubt" ja auch an eine Vernunftreligion.


    Auf der anderen Seite ist die Art wie er argumentiert schon sehr modern. Dieser radikale Skeptizismus steht doch den Scholastikern ziemlich fern. Radikaler Skeptizismus ist doch fast schon per definitionem anti-mittelalterlich.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "Bärbel"


    ich suche irgendwelche, die mir quellen sagen können, welche sich auf kritik über thomas mann beziehen. am allerbesten wäre es, wenn die kritik negativ wäre...


    Robert Musil hat sich Zeit seines Lebens immer wieder (und ungerechterweise) negativ über Thomas Mann geäußert. Mann war für Musil einer der "Großschriftsteller", die er u.a. im "Mann ohne Eigenschaften" verspottet hat.


    CK

    Hallo!


    Ich las nun die lange "Apologie für Raymond Sebond" zu Ende. Tatsächlich hat das meinen Eindruck, dass Montaigne ein "Aufklärer" ist, deutlich modifiziert. Besser: Mir die Widersprüchlichkeit seiner Weltanschauung drastisch vor Augen geführt.


    Während sein Menschen- und Gesellschaftsbild (Erziehung, Justiz etc.) in vielen seiner "Essais" extrem vorurteilsfrei ist, und es wohl nur wenige Menschen seiner Zeit gab, die sich und ihre Zeit so von "objektiv" von außen betrachten konnten, wie Montaigne, schreibt er hier eine rhetorische sehr gelungene Apologie des Katholizismus. Wortreich versucht er zu belegen, dass Wissen so gut wie unmöglich ist, indem er lange kontradiktorische Positionen zu einzelnen Fragen aufzählt. Damit positioniert er sich meiner Meinung nach als einer der wortgewandsten Skeptiker der Philosophiegeschichte.


    Freilich kann man logisch nicht von "Es gibt kein zuverlässiges Wissen" zu "Deshalb muss man sich an Gott halten" kommen. Das wird zwar als einzige "vernünftige" Alternative präsentiert, ist es aber natürlich nicht.


    Ich werde jetzt eine kleine Montaigne-Lesepause einlegen (maximal zwei Wochen).


    CK

    Hallo!


    Zitat von "siscous"

    Hallo,
    ich will im Unterricht das Thema Gefühle durchnehmen und benötige klassische Musik zu Freude, Trauer, Angst und Wut. Wer hat Ideen? Vielen Dank für eure Mühe


    Trauer:


    Schubert: Winterreise


    Freude:


    Beethoven: Symphonie Nr. 9 letzter Satz


    Angst/Wut:


    Mahler: Symphonie Nr. 6
    Wagner: Walküre / Alberich


    CK

    Hallo!


    Zitat von "finsbury"


    verschmähen würden, gäbe es bald keine Buchhandlungen mehr: Also seien wir froh, dass die Geschmäcker der Publikümer so verschieden sind.


    Das Wort zum Ostersonntag? :breitgrins:


    CK

    Hallo!


    Zitat von "klassikfreund"


    Thomas B zählt m.E. heute schon zu den modernen Klassikern und von daher ist dieser Autor eine risikolose Wahl.


    In 100 oder 200 Jahren werden vielleicht fünf deutschsprachige Autoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Literaturfreunden bekannt sein, Spezialisten mal ausgenommen. Man braucht sich ja nur ansehen, wie viele Autoren zwischen 1850 und 1900 wirklich noch gelesen werden.
    Würde nicht darauf wetten, dass Thomas Bernhard hier dabei ist, hoffe es aber.


    Zitat von "klassikfreund"


    Möglicherweise entdeckt man im Laufe seines Lebens nur ein einziges solches Buch, aber das ist es mir wert, auch Modernes zu lesen.


    Viele hundert Bücher lesen für einen einzigen Treffer halte ich angesichts beschränkter Lebens=Lesezeit doch für ein sehr gewagtes Unterfangen.


    Zitat von "klassikfreund"


    Der erste Leser eines Meisterwerks wie "Die Blechtrommel" zu sein, das ist etwas Besonderes, v.a. wenn man sich frei von allen Rezensionen etc. ein Urteil bilden darf. Ein solches Buch hat für mich etwas Unberührtes.


    In dieser Situation war ich schon öfter: Druckfahnen als Rezensionsexemplar oder während meines Lektoratspraktikum bei Carl Hanser. Wobei ich hier keine Meisterwerke, sondern nur normale Bücher vorher lesen konnte.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "klassikfreund"

    Ich möchte hier ein neues Argument bringen, was mich immer wieder zu moderner Literatur greifen lässt: Es gibt für mich eine gewisse Faszination, einen zukünftigen Klassiker heute schon zu entdecken und somit zu den allerersten zu gehören, die ihn als solchen erkannt haben.


    Das ist aber mehr ein theoretisches Argument, da man ja nie weiß, ob man mit solchen Vermutungen richtig liegt. Ich bin mir beispielsweise ziemlich sicher, dass Thomas Bernhard ein Klassiker werden wird.


    CK

    Zitat von "giesbert"


    Der größte Teil der Gegenwartsliteratur fällt ästhetisch hinter Fontane zurück.


    Ich stimme zu. Lustig ist allerdings, dass der deutschsprachigen Literatur ja regelmäßig von allen das Gegenteil vorgeworfen wird.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "Dostoevskij"

    Es lohnt sich doch aber nur, die Großen zu lesen. Wir reden doch nur über sie, oder. Nur für den Fall, daß wir uns mißverstehen. :zwinker:


    Hat hier gerade jemand HESSE gesagt? :breitgrins:


    CK

    Hallo!


    Zitat von "sandhofer"


    Ganz so empfinde ich es nicht. Immerhin hatten wir vor Montaigne schon z.B. Erasmus (den ich bisher noch nicht erwähnt gefunden habe bei Montaigne) oder Machiavelli (den er, glaube ich, erwähnt hat). Beide empfinde ich als ähnlich "aufgeklärte" Autoren.


    Erasmus' "Das Lob der Torheit" beispielsweise wirkt auf mich aber deutlich "älter" als die Essais. Wollte hier Montaigne aber auch kein Alleinstellungsmerkmal zuerkennen. Was den Katholizismus angeht, gebe ich dir recht, obwohl viele Aufklärer auch religiös waren.


    Vielleicht liegt es auch an der (modernen) Übersetzung, dass sich dieser Eindruck bei mir einstellt.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "sandhofer"

    Historiker, die Entwicklung des Toleranzgedankens u.ä. Das Ganze sehr locker. Und wie Montaigne leide ich darunter, dass ich, was ich nicht schriftlich fixiert habe, sehr schnell wieder vergesse :redface: .


    Kenne ich. Ich schreibe meine Leseeindrücke nur nicht in die Bücher wie Montaigne, sondern in meine "Notizen" :zwinker:


    CK

    Hallo!


    Zitat von "sandhofer"

    Ich bin nun mit Buch 2 zu ca. 3/4 durch. Wie in einem Tryptichon ein ungeheuer grosser Essai in der Mitte des Werks - alles dem Thema Glauben gewidmet.


    Damit hast du mich überholt. Ich fing heute gerade mit "Raymond Sebond" an. Ich frage mich die ganze Zeit, was Montaigne von einem Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert unterscheidet, und kann kaum etwas finden. Er scheint mir, irgendwie aus der Zeit herausgefallen zu sein. Etwa wenn er die Ähnlichkeit von Tieren und Menschen betont (ist eigentlich schon "postdarwinistisch") oder seine Ausführungen zu Grausamkeit und Folter.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "Friedrich-Arthur"


    Das ist zwar ein nettes Zitat, subjektiv angewendet wäre dann aber potenziell jedes Buch ein Klassiker und die Unterscheidung zwischen Klassikern und anderer Belletristik wäre ad absurdum geführt.
    Sogar brandaktuelle Sachbücher könnte man danach als "Klassiker" qualifizieren.


    Ich denke, dass der Sprachgebrauch von "Klassiker" relativ gefestigt ist, und Bücher, die nur ein paar Jahre alt sind, definitiv nicht dazu gehören.


    Die Danziger Trilogie auf der anderen Seite ist sicher ein "Klassiker" :zwinker:


    "Im Krebsgang" halte ich für Grass' bestes Buch seit dem "Butt". "Ein weites Feld" wiederum halte ich unoriginellerweise auch für misslungen, wenn auch auf eine interessante Art.


    CK

    Hallo!


    Zitat von "Friedrich-Arthur"

    Mal sehen, ob es noch mehr Leute gibt, die Interesse haben.


    "Im Krebsgang" ist aber definitiv kein Klassiker :zwinker:


    Wäre das nicht besser im Schwesterforum aufgehoben?


    CK