Beiträge von Kaspar

    Zum Leiden passt vielleicht ganz gut dieses Gedicht aus Robert Burton, Anatomie der Melancholie:



    (künstlerisch) schöpferische Leiden?


    Gefragt war nach schöpferischem Leiden; das "künstlerisch" habe ich wohl überlesen. Und da sehe ich die Wüstenheiligen schon in dieser Richtung: sie wollten ja ihr Heil erreichen, also gewissermaßen sich selbst erschaffen. Und sie wurden mit der Errichtung des Mönchtums auch schöperfisch tätig. Ich sehe es noch stärker bei Leuten wie Seuse, die ihr selbstzugefügtes Leid als Durchgang betrachteten und daraus ihre mystische Lehre bezogen.


    Bei Wittgenstein ist es etwas schwieriger. Als Lehrer in Oberösterreich hat er sich halb bewusst selbst-kasteit, was die Schüler durch eigenes Leid auch spüren durften. Inwieweit er das für sich als schöpferische Phase gesehen hat? (Für die Kinder wohl schon, denn er wollte ihnen Kultur beibringen.) Wohl eher nicht, sondern als Abwehr seines Leidens, stand er doch in dieser Zeit kurz vor dem Selbstmord, wie er in einem Brief schreibt. Ähnlich sehe ich Nietzsche. Der wollte seinem Leid entfliehen nach Italien, weg von seinem Ekel an der Kultur, hin zu den schönen Jungs und in die Einsamkeit. Ich glaube nicht, dass N. leiden wollte, vielmehr hat er sich immer wieder über seine Kopfschmerzen usw. beklagt.


    Was Sade betrifft: da sehe ich eine klare künstlerische Orientierung, die sich aus seiner sexuellen Orientierung zwanglos ergibt.


    Die anderen "Leidenden" wie Goethe, Mann usw... hmm. Sicher hat Leiden einen subjektiven Faktor, wie scardanelli schreibt. Aber darf man wirklich einen Hypochonder mit einem Menschen auf der Folterbank vergleichen?


    Eine Roman-Leidende fällt mir ein, die ihr Leiden für ihre Kunst für notwendig hält: Jene Mrs. Price aus Maughams On Human Bondage.


    Ich habe in der Schule vier Jahre lang Altgriechisch gelernt.


    Ist doch super, damit schlägst du meine Altgriechischkenntnisse immerhin um den Faktor aleph-0.


    Zitat

    Nun ja, ich bin mir nicht sicher, wie leserundentauglich das Symposion ist


    Da ich so etwas noch nicht mitgemacht habe, weiß ich das auch nicht. Wird sich zeigen. Mehr als missglücken kann es nicht.


    Zitat

    Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Die Schleiermacher'sche Übersetzung kann ich dann auch online mitlesen.


    Ganz sicher nicht. Textstellen wird man sowieso in der Stephanus-Paginierung zitieren. Nur würde ich gerne die Einteilung von Schleiermacher beibehalten, weil das sinnvolle Abschnitte sind. Im angegebenen Link sind diese "Kapitel" aufgeführt, manche werden zusammengefasst, so dass sich sinnvolle Interpretationseinheiten ergeben (z.B. Rahmenerzählung, Rede des Aristophanes usw.).


    Ich freue mich darauf!

    Mir fiele als Ur-Vieh des Leidens der Hl. Antonius ein, der sich freiwillig in die Wüste zurückzog, um dort den Herrn zu finden. Und damit das Leiden. Von ihm ausgehend die Säulenheiligen und alles, was in diese Richtung geht. Eigentlich müsste man bei den Leidensfreudigen noch weiter zurückgehen auf die Märtyrer, tja und im Grunde auf Jesus daselbst, der seine Kreuzigung mehr oder weniger freiwillig auf sich nahm.


    Ein anderer berühmte Leidender war Peregrinus, über dessen Scheinheiligkeit es eine berühmte Geschichte von Lukian gibt.


    Würde man Wittgenstein dazu zählen wollen, der sein gesamtes Erbe verschenkt und sich als Klostergärtner verdingt hat?


    Andere Leidende findet man bei den Geißlern; Mystiker wie Heinrich Seuse haben sich bis zur Selbstauslöschung freiwillig Leiden unterzogen, wohl in Nachahmung der alten Märtyrer und Wüstenväter.


    Und wenn ich dann ein bisschen frivol werden darf: Der Marquis de Sade hat sich ins Gefängnis sog. Godmichets bringen lassen von einem Umfang, die ihm kaum Lust, sondern nur noch Leid zugefügt haben. Auch wird berichtet, dass die Mauern seiner Gefängniszelle rot von Blut waren. Was mich natürlich sofort zu Leopold v. Sacher-Masoch führt...

    Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Ja, das ist ein Buchvorschlag für eine Leserunde. Ich hoffe, ich mache jetzt alles richtig, so dass dieser Beitrag es schafft, in diesem Unterforum zu verweilen.


    Mein Vorschlag geht auf Platos Gastmahl, ein Klassiker im wahrsten Sinne des Wortes: 1. geschrieben während der sogenannten klassischen Epoche des antiken Griechenlands, 2. älter geht's kaum und 3. Wurzel zahlloser epigonaler und nichtepigonaler Werke, die sich damit auseinandersetzen. Wahrscheinlich der erste Prosatext der Weltliteratur, der sich mit der Liebe und der Schönheit auseinandersetzt.


    Ich würde die Schleiermachersche Übersetzung zu Rate ziehen, die auch im Netz zu finden ist (http://www.textlog.de/platon-symposion.html). Ich selbst bin des Altgriechischen leider nicht mächtig, daher muss ich mich auf Übersetzungen stützen; hier finde ich bei kritischen Textstellen oftmals die englischen Übersetzungen hilfreich, die andere Lesarten darbieten. Falls es aber wirklich unentscheidbar wird, sollte man auf das Original zurückgehen (wobei selbst das manchmal nicht weiterhilft). Vielleicht gibt es ja einen hilfreichen Altphilologen im Forum?


    Die Einteilung des Textes, die Schleiermacher vorgeschlagen hat, würde ich als "Meilensteine" der Interpretation nehmen: A, B, C1, C2 usw. D.h. die Teilnehmer versuchen, den Textabschnitt bis zum nächsten "Meilenstein" zu interpretieren und erst dann weiterzugehen.


    Als Starttermin schlage ich den 1. 12. vor - passt der Text doch wunderbar zu Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Freude...


    Fehlt noch etwas an meinem Vorschlag? Wenn nicht, würde ich mich freuen, ein paar vom heiligen Eros getriebene Mitstreiter zu gewinnen ;)

    Die Antwort fällt mir einigermaßen schwer, da die meisten dieser Texte bei mir nur eine begrenzte Haltbarkeit hatten.


    In meiner Jugend war es zweifellos John Rechy, City of Night, in den/das ich aber auch heute noch gerne reinschaue. Und ich habe Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung verschlungen, auch wenn ich die Feinheiten dieses Werks mangels Vorkenntnisse gar nicht richtig einschätzen konnte.


    Dann hatte mir jemand Michael Endes Unendliche Geschichte geschenkt, die mir sehr gefiel, aus der ich allerdings keine "existenziellen" Schlüsse gezogen habe.


    Etwas später hat mich Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, umgehauen, und die produktive Auseinandersetzung damit hat mich zu Hegel, Wissenschaft der Logik, gebracht, die ich allerdings nur zu 2/3 gelesen habe und dann einigermaßen erschöpft war.


    Um die WdL wiederum genauer einschätzen zu können, habe ich mich eingehender mit den Platonischen Dialogen auseinandergesetzt, da sind vor allem das Gastmahl, Phaidros und Sophistes bedeutsam gewesen und sind es noch. Darüber hinaus mit Plotin und vor allem Proklos, dessen Gedankenwelt mit der von Hegel eng verwandt ist. Eng verwandt mit Platon hatte ich auch Stifters Nachsommer empfunden.


    Eine Zeitlang hat mich Poppers Auseinandersetzung mit Platon sehr beeindruckt (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde), daneben die Logik der Forschung. Platon und Popper erschienen mir immer als die eigentlichen Antipoden, und trotz des Einflusses von Hans Albert (Schüler von Popper, mein Uni-Lehrer) habe ich mich letztlich auf die Metaphysik eingeschworen als dasjenige Denk-Gebiet, das am Ende mehr zu sagen hat als Wissenschaft. Ich lehne mich da an Wittgensteins berühmten Satz 6.52 aus dem Tractatus an: "Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen. beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind." Ach ja, wenn ich gerade bei Wittgenstein bin, da gibt es einen Satz, den er kurz vor seinem Tod niedergeschrieben hat, der mich - vielleicht wohl bis heute - prägt, er ist aus "Über Gewissheit", §341: "D.h. die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen."


    Dagegen haben mich die Schriften von Nietzsche immer angeekelt, insofern hatten sie auch einen "existenziellen Eindruck" auf mich hinterlassen, nämlich dass ich nun wusste (genauer: zu wissen glaubte), was Leben und Denken gerade NICHT bedeutet. Überhaupt sind vielleicht gerade diejenigen Texte, die mich abgestoßen haben, die wichtigsten?


    Und heute? Was würde ich heute als ein "existenzielles Werk" bezeichnen, also eines, worüber ich nachdenke, das mir wirklich etwas "bringt"? Eigentlich keines bis auf jenen erwähnten Satz aus Über Gewissheit.


    (Ich sehe gerade: Aus der Belletristik ist wenig dabei.^^)


    Äh - eher nicht. Dunst, der Fäden spinnt? Ich weiß nicht. Entweder ist das eine Stilparodie oder es ist einfach: Kitsch.


    Nein, das ist keine Parodie. Was soll daran kitschig sein? Spricht man doch auch sonst von Dunstfäden.


    Gezeigt wird hier ein Vorgang, worin zwei Personen sich ganz in Musik vertiefen und selbst Musik werden. Langsam wird eine ungute Atmosphäre in diesem "Dunst" erzeugt, man merkt, dass hier etwas schief läuft zwischen den beiden.


    Der Kitsch, den du vermutest, ist der Kitsch der Gefühle der beiden Protagonisten Clarisse & Walter, deren Eheleben gewissermaßen nur noch am Dunstfaden ihrer Musik hängt.

    Wenn MoE von allen Lektoren abgelehnt wurde, dann spricht das eher für als gegen die Qualität der Lektorate.


    Oho! Hier wird ein großes Werk gelassen abgewatscht. Hast du denn den Mann ohne Eigenschaften überhaupt gelesen?


    Um einen Eindruck von Musils Sprachmagie zu geben, hier ein winziger Ausschnitt aus dem 1. Buch, wo eine Klavierstunde zu 4 Händen (Clarisse und Walter) beschrieben wird. Ich kann mir kaum noch eine dichtere Sprache vorstellen.


    Zitat

    Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.

    Zwar blieb Württemberg auch ab 1871 ein eigenes Staatsgebilde, war jedoch formell als Bundesstaat dem Deutschen Reich eingegliedert. D.h. die Frage hat 2 Antworten: Württemberg und auch dem Deutschen Reich, zumal das Militärwesen unter preußischem Oberbefehl stand.


    Hesse's Maulbronn-Zeit war um 1892, die Niederschrift des Romans war 1903, der Roman wurde 1906 veröffentlicht, d.h. noch vor WK I.


    Hallo! Willkommen!


    Wen stellt das Bildnis unter deinem Namen dar? Marquis de Sade?


    Super! :klatschen: Wie hast du das herausgefunden? Wohl durch intensive Lektüre! Juliette oder Justine waren, glaube ich, noch nicht in den Leserunden, das wäre durchaus eine Herausforderung. :breitgrins:


    Ich sehe eine gerade Linie von Leuten wie Lamettrie, Sade, Stirner (mit der Betonung auf letzterem), daher eben auch mein Nickname, und da passt der Marquis gut in die Reihe. Als Gegenpol meine verehrten Platon und Plotin. Tun sich da Widersprüche auf? Vielleicht. Doch keine, welche die Dialektik nicht in sich begreifen könnte...


    Wenn in den Bildern der PDFs Text steht, dann kannst du diesen mit einer OCR-Software extrahieren. Sprich kleinere PDFs erzeugen.


    Im Prinzip ja, wie Radio Eriwan sagt ;) Leider sind viele dieser Bücher in Fraktur und damit i.a. für OCR unbrauchbar. Selbst wo man ausnahmsweise keine Fraktur verwendet hat, wird die OCR, die google anbietet, teilweise doch recht eigen. Da liest man lieber das Original.


    Ich gebe mal ein Beispiel aus einem Buch über Gymnastik:


    Das kann man lesen, man kann es aber auch besser bleiben lassen... :smile:


    Und hat man schließlich Fraktur, dann wird's kriminell.


    hast Du Martin Walsers Verarbeitung dieses Stoffs gelesen ("Ein liebender Mann")?


    Nee, leider nicht. Von Walser kenne ich nur den "Augenblick der Liebe" wegen der Auseinandersetzung mit Lamettrie. Da mir der Text aber gar nicht zugesagt hat, habe ich ihn nach ein paar Seiten weggelegt. Vielleicht besorge ich mir den "Liebenden Mann" ja einmal? Allerdings hat mir ein Augenblick von Walsers Liebe erstmal gereicht :roll:

    Ich hatte mir vor ca. 1 Jahr den gen3 von bookeen zugelegt, und zwar aus einem einzigen Grund: Inzwischen gibt es bei books.google.com eine Menge alter, sonst nicht mehr oder kaum zugänglicher Bücher, dort kostenlos zum Download, falls älter als 70 Jahre. Dafür legte ich mir das eBook zu. Nun funktioniert es zwar i.a. super, das Schriftbild ist in der Tat hervorragend, leider leider kann es diese Riesen-PDFs, die ausschließlich aus Graphiken bestehen und eben nicht aus Text wie ein "normales" PDF, nicht verarbeiten: das System raucht klanglos ab. Können die anderen Geräte das erledigen? Oder kennt jemand einen workaround?


    Gerade für diesen Anwendungsbereich sehe ich ein eBook als ideal an: wo z.B. könnte ich das Werk über antikes Alltagsleben "Charikles" von 1854 sonst bekommen? Und am Rechner lesen finde ich ermüdend. Ansonsten ist es ganz lustig, ein Buch im rtf-Format oder pdf zu lesen, falls man es nicht in Papierform hat. Und da gibt es durchaus einiges im Netz via gutenberg oder sonstwo.

    Ich glaube, die Geschichte heißt "Der Kaufmann von Samarkand".


    Darin flieht der Kaufmann in die Umgebung und kehrt am Abend zurück, um dort den Tod am Stadttor anzutreffen. Also ein klein wenig anders als die Version von Leserin und Lost.

    Das ist ja wirklich sehr spannend und sagt - leider! - sehr viel über Literatur (oder nur über Verlage?) aus. Gibt es denn überhaupt Standards, um Literatur zu beurteilen?


    Würde etwa ein Roman wie Hyperion von Hölderlin, der doch als Klassiker gilt, heute noch verlegt werden?


    ...und damit nach wie vor offen für die weitere Diskussion.


    Hervorragend.


    Also möchte ich noch ein bisschen zu Wagner / Tadzio etwas schreiben, was eher die Inspiration des Autors betrifft als die textimmanente Interpretation. (Alle Infos entnehme ich der Mann-Biographie von Harpprecht.)


    Tatsächlich hatte Mann kurz vor dem Tod in Venedig eine "Goethe-Phase" und wollte der Wagner-Musik den Rücken kehren, so dass also Goethe und Wagner die beiden Taufpaten der Geschichte bilden. Goethe insoweit, als sich Mann über die Leidenschaft des Alten zur jugendlichen Ulrike von Levetzow aufregte und darin eine "Entwürdigung" sah. Mann war dabei der Meinung, dass Ulrike damals ein Kind gewesen war, in Wirklichkeit war sie 19, was Mann aber nicht wusste.


    Also wollte Mann daher ein Beinahe-Kind in der Gestalt des Tadzio zeichnen, doch s. die Ausdrücke "vormännlich", die nun nicht auf ein Kind, sondern einen männlichen Teenager verweisen. Mit demselben Ausdruck bedachte er übrigens auch seinen Sohn Klaus. Auch der Ausdruck "von der Geburt der Goetter", auf Tadzio gemünzt, verweist auf die griechische Mythologie, ich kenne ihn allerdings nur aus einem Aphorismus von Hegel (aus Hegels Wastebook, "...daß ein Gott neu geboren werden sollte").


    Der Tadzio hat nun auch tatsächlich existiert, in Gestalt des polnischen Barons Wladislaw Moes, der zu jener Zeit am Lido 13 Jahre alt war. Wikipedia hat allerdings dahingehend nicht recht, dass er erst durch den Visconti-Film (der 1971 gedreht wurde) auf seine literaturgeschichtliche Bedeutung aufmerksam wurde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/W%C5%82adys%C5%82aw_Moes), sondern bereits 1964, wie Harpprecht schreibt. Hier widerspricht sich wikipedia übrigens selbst, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Tod_in_Venedig#Tadzio .


    Aber solche biographische Details sind für eine textimmanente Interpretation eher nebensächlich.

    Ich weiß nicht, ob es ok ist, eine abgeschlossene (?) Leserunde mit einem Spätkommentar zu versehen, aber ich werde es schon merken.^^


    Was mir an den bisherigen Kommentaren auffällt - obwohl sie teilweise hervorragend sind, besonders die Bemerkungen zum "wagnerschen Tod" fand ich bemerkenswert -, ist doch ihre weitgehende Linearität oder Eindimensionalität. Ich meine damit, dass sich die Hauptlinie vor allem auf den Tod des Protagonisten bezieht, was ja schon aus dem Titel der Novelle hervorgeht.


    Zweifel kamen bei mir hoch, als ich den Einwand von Madeleine las, dass Venedig durchaus auch eine Stadt der Verliebten ist, nicht nur die Stadt der Fäulnis, des Absterbens, der Morbidität. Die Zweifel verstärken sich, wenn ich die leidenschaftlichen Bemerkungen zur jugendlichen Schönheit des Tadzio im Text lese:


    Zitat

    ...und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormaennlich hold und herb, mit triefenden Locken und schoen wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann: Dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie Dichterkunde von anfaenglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von der Geburt der Goetter.

    (und viele, viele Textstellen mehr)


    Diese Novelle handelt vom Tod, sicher, aber auch von der Schönheit, und zwar tritt mir hier das Platonische Symposium vor Augen, dort wird ja die Schönheit der Jungen als "Wegweiser" zur wahren, ewigen Schönheit, zur Idee der Schönheit selbst verehrt. Eine Vorstellung, die Mann durchaus nahe stand. Die Schönheit des Tadzio ist (wird!) deshalb unvergänglich und daher ewig ("vollkommen schön"), weil Aschenbach stirbt und daher T. nicht älter (und damit hässlicher) wird. Der Tod A's wäre in dieser Sichtweise das In-die-Welt-Setzen der wahren Schönheit, eine Art Geburt, wie doch auch Sokrates' Wirken als Geburtshilfe beschrieben wurde. In dieser Novelle kommt daher dem Tod eine weitaus größere Bedeutung zu als all die m.E. zu kurz greifenden Bemerkungen zum Alter, zu den quietschfidelen jungen Neffen und Nichten, zur Würde des Alters usw. vermuten lassen. Ich glaube nicht, dass man damit Manns Intention vollständig trifft.


    A. ist ein "Schaffer", ein Mann, der sich Schönheit mit Gewalt abringt. In T. nun sieht er etwas ganz anderes: Schönheit, die einfach da ist, die ohne Kraftaufwendung einfach existiert. Dagegen die zunehmend jämmerliche Figur des A.: wie der Greis im 3. Kap., der sich jugendlich schminkt, macht er sich nun selbst zunehmend lächerlich. Die gewaltsam abgerungene Schönheit dringt jetzt an die Oberfläche: als lächerliches Makeup und Würdelosigkeit. Sein Leistungsideal, die Schönheit durch "die geballte Faust" (1. Kap), eben durch Gewalt, zu erringen, ist es, was die Würdelosigkeit verursacht.


    Ich sehe durchaus die Spiegelung der beiden Charaktere, in höchstem Grad konzentriert in der Schlussszene. Die wahre Schönheit wird nach Platon erst dann errungen, wenn man über die Liebe zu den Jünglingen hinausgekommen ist mit dem Eros als Mittler und Führer (etwa wie der „Hermes Psychopompos“ bzw. „Hermes Psychagogos“) und zur mystischen Einheit mit dem Schönen selbst aufsteigt. Dies ist m.E. die Bedeutung des Schlusses. Der Tod wäre hier der Durchgang zur Idee des Schönen selbst. Er gibt A. damit auch die verlorene Würde zurück ("respektvoll erschütterte Welt"). Interessant auch die ähnliche Haltung von A. im Liegestuhl, die im 1. Kap. beschworen wurde, als Gegen-Mimik zur "geballten Faust" (Hand schlaff nach unten).


    Ein Gedicht von A. von Platen gibt es zu einer solchen Interpretation, Tristan (ich hoffe, das wurde noch nicht erwähnt):


    Zitat

    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
    Ist dem Tode schon anheimgegeben,
    Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
    Und doch wird er vor dem Tode beben,
    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!

    Danke für den Willkommensgruß.


    Na, so schwer oder schwermütig bin ich nicht, auch wenn es so klingt. Ich wollte vor allem ausdrücken, dass ich von Literatur nicht viel verstehe, nicht einmal, was sie überhaupt ist. Vielleicht lerne ich es hier?


    Positiv fällt mir der angenehme Umgangston auf: Man diskutiert und kritisiert, ohne andere "fertig zu machen", auch wenn sie nicht so firm in der Materie sind. Das ist nicht selbstverständlich: Eine Zeitlang habe ich mich auf einem Literaturforum herumgedrückt, auf dem das Fertigmachen zum "guten Ton" gehört und das mich nicht nur abgeschreckt, sondern auch angeekelt hat.


    Ob ich sehr viel zum Forum beisteuern kann, weiß ich nicht, ich muss erst noch einiges im Forum lesen. Jedenfalls finde ich das gemeinsame Lesen sehr interessant. Hier könnte ich mir etwa Musils Mann ohne Eigenschaften vorstellen, oder wurde das schon besprochen?


    LG
    Kaspar

    Ich stelle mich vor: Kaspar, mein Nickname. Kommt von Kaspar Schmidt. Nein, trotz Überschrift, habe ich nichts mit dem Kasperle zu tun, obwohl ich es sehr schätze.


    Das deutet auch schon darauf hin, dass Philosophie zu meinen Steckenpferden gehört, ein Hobbyphilosoph gewissermaßen. Literatur treibt sich oft an der Grenze zur Philosophie herum wie die Hure an den Friedhofsmauern. Daher verlasse ich gelegentlich mein Grab, stecke die Nase über die Grenze und ergötze mich an der künstlichen Lebendigkeit, welche die Hure Literatur den Menschen verkauft.


    Immer noch als einen der größten Schriftsteller-Philosophen sehe ich Arthur Schopenhauer an. Ein Genuss sei es, Schopenhauer zu lesen, hat ein Bekannter mal formuliert. Daneben und doch vor allem Platon. Kennt einer Plotin, der größte der spätantiken Philosophen? Zwar schreibt Schopenhauer über ihn, vieles von ihm sei langweilig, dennoch befinden sich darunter literarische Schmuckstücke. Ich bin überzeugt, dass die Götter zu ihm gekommen sind.


    Das ungefähr rundet mein literarisches Interesse ab.


    Die so genannte Literatur, das muss wohl etwas sein, was mit Buchstaben zu tun hat - wohl im Gegensatz zu anderen Gebieten, denen die Buchstaben selbst nur Mittel, nicht Zweck sind -, die so genannte Literatur also interessiert mich mal mehr, mal weniger. Belles lettres trifft wohl besser das Kriterium, worin sich die Literatur von den vielen anderen Beschäftigungen mit Buchstaben unterscheidet: schön sollen sie sein, die Buchstaben! Literatur dann als Kalligraphie? Wer wüsste aber nicht, dass Buchstaben auf Wörter, diese auf Sätze, diese wiederum auf Inhalte gehen, und dass am Ende die Literatur mit den Buchstaben gar nichts zu tun hat, sondern mit dem Leben, das sich gleich einer getrockneten Pflanze darin eindrückt?