Thank you, спасибо, danke, riff-raff für den link und dass du dir die Mühe gemacht hast, den Artikel (scheint ein Vorlesungsmanuskript zu sein) für uns zusammenzufassen!
Ich habe ihn jetzt erstmal nur überflogen; die handschriftlichen Anmerkungen vermag ich nicht zu lesen. Interessant, wie Arendt die “strange similarity” von Pjotr Stepanowitsch Werchowenski mit Stalin, die unter anderem Dostojewski den Ruf eingebracht haben soll,„a gift of foresight bordering on the demonic“ zu besitzen, zu erklären versucht: "As far as Stalin is concerned – remarkable- if it were not for Nekhaev’s catechism wich Stalin certainly knew on wich he probably modelled himself.. " Also, D. hat die literarische Figur Pjotrs nach dem historischen Netschajew "modelliert“. Und Stalin sich selbst nach dem Vorbild des historischen Netschajew und seinem „Katechismus des Revolutionärs“. Jetzt müssten wir Netschajew lesen …laut Reemtsma auch eine Lektüre der RAF…
Beiträge von Gontscharow
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Das ist traurig.
Ich habe von ihm "Erklärt Pereira" und "Tristano stirbt" gelesen, ersteres war ein Lesevergnügen, zweiteres eher weniger.Gruß, Lauterbach
Ja, sehr traurig!
Wie du habe ich Erklärt Pereira sehr gerne gelesen, aber auch Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro hat mir gut gefallen, ein Roman, der im portugiesischen Porto spielt, bei dem ich mich aber nach Neapel versetzt fühlte. Piazza d'Italia möchte ich von ihm noch lesen. Kennt das jemand? -
Ja, Liputin: er geht genauso neben Pjotr auf dem Trottoir, wie dieser vorher neben Stawrogin: verachtet und immer wieder gezwungen in den Straßenmatsch zu treten.
Das ist wieder so eine Stelle, die Dostojewski als „Propheten des 20. Jahrhunderts“ (Camus) alle Ehre macht! Was ist das für ein Phänomen, das Liputin und die anderen wider besseres Wissen Pjotr Stepanowitsch folgen lässt? Schockstarre, Feigheit, Lust an der Unfreiheit, an der Unterordnung, Angst vor der eigenen Verantwortung, die Lust am Untergang? Fragen, die nach und während der Katastrophen des 20.Jahrhunderts immer wieder gestellt wurden, z. B. von Wilhelm Reich "bereits" 1933 in „Massenpsychologie des Faschismus“. Das in einem Roman des 19. Jahrhunderts zu lesen, ist schon erstaunlich! Lenin hat Dostojewskis Dämonen als schmutziges, durch und durch reaktionäres Machwerk abgelehnt. Kein Wunder, er fühlte sich wohl in letzter Konsequenz durchschaut. Was wäre wohl geschehen, wenn die Russen zur Zeit der ‚stalinistischen Säuberungen’ diese Zeilen hätten lesen dürfen:
[quote= Dostojewski, Dämonen, III.Teil, Kap.IV,2]Dass Schatow sie verraten würde, glaubten die Unsrigen sämtlich; daran aber, dass Pjotr Stepanowitsch mit ihnen spiele wie mit Schachfiguren – glaubten sie ebenfalls. Und doch wussten sie, dass sie trotzdem am nächsten Tag alle vollzählig zur Stelle sein würden und dass Schatows Schicksal eine beschlossene Sache war.
Sie hatten das Gefühl, als wären sie plötzlich wie Fliegen in das Netz einer riesigen Spinne geraten, ärgerten sich darüber, aber zitterten vor Furcht.[/quote]Im Internet soll ein Essay von Hannah Arendt über die Dämonen zugänglich sein. Was diese Kennerin des politischen Totalitarismus über den Roman zu sagen hat, würde mich schon sehr interessieren. Weiß jemand mehr?
Auch ich werde in Kürze den Roman beendet haben. Euren Kommentaren kann ich übrigens nur voll und ganz zustimmen. -
Schatow bezeichnet in seinem Gespräch mit Stawrogin die Russen als "Gottesträgervolk" (2. Teil,I,7) und begründet dies damit, dass es "allein berufen und fähig ist, alle anderen mit seiner Wahrheit zu erwecken und zu erlösen".Ja, und sein Gesprächspartner bemängelt unter anderem daran, "dass Sie Gott zu einem bloßen Attribut der Nationalität herabwürdigen“. Tja, wer ist nun Dostojewski?
Wie schon an anderer Stelle gesagt, die Gegenargumente sind zu gut und Schatow, der mit „Schaum vor dem Mund“ die Idee des „Gottesträgervolkes“ verficht, zu exaltiert, als dass ich glauben kann, dass Dostojewski aus ihm spricht.
Wie finsbury finde ich den Umgang mit dem Thema Slawophilie in den Dämonen „dezent“. Ja, von Slawophilie ist die Rede, aber wie von anderen zeittypischen Geisteshaltungen auch, nirgends wird sie unwidersprochen propagiert oder gar als Botschaft an den Leser gebracht.Zitat von finsbury« am: Heute um 18:12 »… dann kann man ihn (den Roman) überraschend aktuell finden.
In der Tat. Interessant z. B. welche Parallelen Jan Phlipp Reemtsma in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt zieht :
… Mir geht es darum, an einem Beispiel zu zeigen, wie Literatur dazu beitragen kann, Gesellschaft zu verstehen. Der bedeutendste Soziologe der Macht war William Shakespeare. Autoren gelingt es immer wieder, für bestimmte Vorgänge Modelle zu entwerfen, die im Grunde dem entsprechen, was Max Weber Idealtypen nannte. Im Fall von Dostojewski war es so, dass er die Presseberichte über einen Prozess gegen einen russischen Anarchisten namens Netschajew genau verfolgt hat. Der Mann war angeklagt, ein anderes Mitglied seiner Gruppe ermordet zu haben. Ein Mord, der - so Dostojewskis Interpretation - dazu diente, den Zusammenhalt der Gruppe durch ein gemeinsames Verbrechen zu festigen. Dostojewski hat das, was er über das Funktionieren einer solchen Terrorgruppe in diesem Prozess gelernt hat, in den Roman "Die Dämonen" eingebaut. Und das ist ihm so gültig gelungen, dass man als Leser bei bestimmten Szenen das Gefühl hat, ins Berlin der frühen 70er-Jahre versetzt zu sein …mehr -
Das Wort fiel im Roman, es müsste aus Stepans Munde gekommen sein, bin mir aber nicht mehr sicher. Vielleicht aber auch im Streit zwischen Peter und seinem Vater, aber auf Stepan gemünzt.
Missverständnis. Ich fragte, wo und inwiefern Dostojewskis Slawophilie und Glauben an Russland (was nicht unbedingt dasselbe ist) in den Dämonen sichtbar oder spürbar wird und zwar so, dass es wie für Lisbeth störend ist.
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Diese "Slawophilie" kann ich gar nicht verstehen, was meint er damit?Erste Informationen hier
Wo in den Dämonen hast du Hinweise auf Dostojewskis Slawophilie gefunden? -
Zitat von riff-raff« am: Heute um 11:53 »
Kirillow plant ja, sich umzubringen, aber die Gründe, die er diesbezüglich anführt, erschliessen sich mir nur teilweise, weshalb ich sie mal aufführe ...
Danke für die Auflistung, sie macht einiges klar und auch wieder nicht. So zwingend logisch und folgerichtig sich die Gründe für den Selbstmord im Kopf von Kirillow ausnehmen, so ist er doch Anflügen von Lebensfreude ausgesetzt, es “gurkt“ ihn an ( wie du so schön sagst), sich umzubringen, er hat einen Ball, mit dem er sich fit hält … Danke Dostojewski und riff-raff für dieses kleine brennglasartige Detail! Und bezeichnenderweise lässt sich Pjotr Stepanowitsch diesen Ball- warum ist wohl klar - nach seinem Besuch aushändigen, auch so ein vielsagendes kleines Detail!
Mir fiel bei K.s ambivalenter Haltung Schillers schöner Satz ein: Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen…Ich kann mich bei Kirillows Gedankengebäude des Eindrucks nicht erwehren , dass seine eiskalte Logik, die er durch einen Selbstmord krönen will, (ob er es tut, weiß ich noch nicht), von pubertärer Radikalität und im Grunde pseudologisch ist. Denn wenn die höchste Freiheit darin besteht, dass es egal = gleich ist zu leben oder nicht zu leben, dann könnte er dieses genausogut durch „grundloses“ Weiterleben beweisen wie durch einen „grundlosen“ Suizid. Und wenn alles egal ist, müsste auch der Umstand, dass alles egal ist, egal sein und müsste nicht bewiesen werden! Gerade seine „Beweisführung“ würde das Gegenteil beweisen! :zwinker:
Zitat von Anita« am: Heute um 12:05Jetzt, da ich das Buch lese, finde ich die ganze Idee von Coetzee - Biographisches mit diesem Roman zu koppeln - brillant.
Vielleicht hast du recht. Ich hatte mir schon vorgenommen, nach der Dostojewski-Lektüre das Buch von Coetzee nochmal in die Hand zu nehmen...
Aber dass dieser „weitergesponnene Roman“ im Moment nicht unbedingt zum Verständnis der Dämonen beiträgt, das siehst du doch auch so, oder? -
Zitat von Anita<br>« am: Heute um 11:54 »
Kommt denn der Studentenmord nicht vor, die große Anspielung auf die Netschajew-Affäre?
Dass die Ermordung Schatows durch Pjotr Stepanowitsch einem authentischen Fall nachgebildet ist, dieser Information kann man kaum entgehen, sie steht in jedem Klappentext und jedem Nachwort. :zwinker: Bei der Ermordung Sch.s bin ich aber auch noch nicht. Sicher wird aber nicht auf den historischen Fall direkt angespielt oder gar der Name Netschajew genannt werden, wie Dostojewski überhaupt nie allzu historisch konkret wird in seinem Roman, auch bei den "historischen politischen Ideologien" nicht, um die es in meinem posting ging.
Das Buch von Coetzee habe ich auch gelesen, halte es aber für das Verständnis der Dämonen für wenig hilfreich. Es ist eine fiktive Geschichte um Dostojewski, der quasi zur Romanfigur seines eigenen Romans wird, eher verwirrend als erhellend! Oder erinnere ich mich falsch? Von Coetzee ( bes. von seinem Roman Schande) halte ich ansonsten viel!
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Die Diskussion hier im Forum ist meist auf einem solch hohen Niveau, dass es mich regelrecht einschüchtert.Dabei bist doch gerade du mit deinen Beiträgen für das „hohe Niveau“ hier mitverantwortlich. :zwinker: Fishing for compliments?
@all: Bitte haltet eure Beobachtungen nicht aus falscher Scham zurück. Ich tu's ja auch nicht. Dabei bin ich bei diesem vielschichtigen Werk auch manchmal ratlos und daher für jede Anregung dankbar!Greift nur hinein ins volle Dämonenleben
und wo ihrs packt,
da ist es interessant!
(frei nach Goethe)Zitat von finsbury« am: 18. März 2012Richtig, dass Kapitel "Unter uns" hat auch viel Komisches und ist andererseits in Bezug auf die späteren Entwicklungen in Russland prophetisch und eher bedrückend.
Was ich nur so schaurig finde, ist, wie sich alle einspannen lassen, bereit sind, einen politischen Mord zu akzeptieren, ohne eigentlich genau zu wissen, was sie wollen. Werchovenskij vertritt ja wohl die Idee, dass das Land erstmal durch eine Phase der anarchischen Gewalt durchmuss, wenn diese Phase nicht sogar sein eigentliches Ziel ist.
Leider bin ich in Bezug auf historische politische Ideologien sehr unbeschlagen, aber irgendwas klingelt bei dieser Phase der Gewalt. War das nicht sogar auch eine Idee Nietzsches?Wohl eher Bakunins oder seines Jüngers Netschajew? Ich finde aber, es ist gar nicht nötig genau zu wissen (wenn das überhaupt möglich ist), welche „historischen politischen Ideologien“ hier genau zugrunde liegen. Dostojewski lässt das ja auch bewusst im Dunkeln, kein Name fällt, weder Bakunin noch Netschajew, noch Marx, noch Kropotkin. Die Romanpersonen reißen politische Theorien allenfalls an. Das einzige "Ideengebäude", das entwickelt und referiert wird, ist das der fiktiven Person Schigalew. Und dieser „Schigalewismus“ ist derart haarsträubend, dass ich ihn für eine kompilierende Parodie aller sozialistischen, sozialutopistischen, anarchistischen Theorien halte, die in den 70ern des 19.Jahrhunderts in Europa im Schwange waren, inklusive dessen, was bei ihrer Umsetzung herauszukommen droht!
Anarchistische und sozialistische Theorien bilden sozusagen nur das Hintergrundrauschen des Romans. Im Vordergrund stehen Pjotr und Nicolai, die „entwurzelten“ (Zieh-)Söhne des verantwortungscheuen Freidenkers und Ästheten Trofimowitsch, für die „alles möglich und erlaubt ist“ die an nichts gebunden sind und deren inneres Vakuum die „bösen Geister“ ihrer Triebe und fixen Ideen besetzt halten. So ähnlich geht es ihren Jüngern und Trabanten und den infizierten Kleinstadtbürgern, sie folgen blind und lassen sich "einspannen". Ja, sie wollen es gar nicht so genau wissen, wohin sie folgen, wohin die Reise geht. Typisch folgende Stelle aus dem III. Teil, Kap1, in der ein Redner am Weiterreden gehindert wird und daran, überhaupt etwas Zusammenhängendes zu äußern:[quote= Dostojewski, III.Teil, 1.Kap.]„…Fünfzehn Jahre der Reformen! Und dabei ist Russland noch niemals, selbst in den lächerlichsten Epochen seiner Unvernunft nicht so weit gekommen wie…“ Das Beifallsgeheul der Menge machte seine letzten Worte unverständlich. Die Begeisterung kannte keine Grenzen: man johlte, klatschte in die Hände, und einige Damen riefen sogar:“Aufhören! Etwas Besseres kann nicht mehr gesagt werden!“ Alle waren wie trunken…
[/quote]Zitat von JMaria« am: Heute um 09:43Andererseits hat er auch das Erbe seinen Sohnes im Wert verringert. Vielleicht kann man das auch auf die damalige politische und gesellschaftliche Situation übertragen; instabil und für die junge Generation schürt sie Unzufriedenheit und Rebellion.
Auf jeden Fall! :eis:
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Zitat von Autor: klaus<br>« am: Heute um 15:02 »
… schreib ich gerne über Details und Kleinigkeiten, die mir so auffallen…
Das mach bitte weiter so! Besonders wenn es sich um solch signifikante Details wie die von dir beschriebenen handelt, die ein Schlaglicht auf das Ganze werfen oder, wie du treffend formulierst, „... wie in einem Brennglas … viel bündeln, mehr als durch langatmige Beschreibungen ausgedrückt werden könnte.."
Zitat von Autor: klaus<br>« am: Heute um 15:02 »Was das weltanschaulich-nihilistisch-religiöse "Gequassel" betrifft (wie es Finsbury nennt): hier würde ich unterscheiden. Der nihilistische oder sozialistische Teil ist gar nicht uninteressant dargestellt, teils Satire, teils Prophetie (vor allem im Kapitel "Bei den Unsrigen": hier fühlte ich die Millionen Toten des Stalinismus und anderer -ismen vorhergesehen).
Ja, darüber kann man nur staunen und Camus recht geben:“ Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20.Jahrhunderts gehalten. Heute (etwa 1955 Anmrkg. von mir) weiß man, dass, was er prophezeite, auf sich warten lässt. Und wir erkennen, dass Dostojewski der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgsehen…“
Das Kapitel Bei den Unsrigen ist ein Feuerwerk an Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung! Allein schon die Auseinandersetzung der Studentin mit dem Major über die „Frauenfrage“ ist köstlich, da im Prinzip noch heute so denkbar. Das beiläufige Inkaufnehmen von Millionen Toten dieser angehenden Weltverbesserer bzw. ihr diesbezügliches gedankliches Jonglieren wird satirisch aufs Korn genommen:
„Hundert Millionen Köpfe abzuschlagen ist ebenso schwer zu verwirklichen wie die Umwälzung einer ganzen Welt durch Propaganda allein. Vielleicht ist das sogar noch schwerer , besonders, wenn es in Russland geschehen soll“, wagte sich wieder Liputin hervor. „Aber auf Russland hofft man jetzt allgemein“, bemerkte ein Offizier. „Das haben wir auch gehört, dass auf uns alle Hoffnungen gesetzt werden“, fiel der Lahme ein. Es ist uns bekannt, dass auf unser herrliches Vaterland ein geheimer Index hinweist als auf den Staat, der zur Erfüllung der großen Aufgabe am meisten befähigt ist….“(II.Teil,Kap 7)
Bleibt einem da nicht das Lachen im Halse stecken?Was die Figur des Pjotr Stepanowitsch angeht, so finde ich erstaunlich, dass ihm klar ist und er auch offen zugibt, dass er nicht die Welt verbessern will und das Verbrechen und die Unmenschlichkeit nicht Mittel zum Zweck, notwendiges Übel o.ä. ist, um hehre Ziele durchzusetzen, sondern dass er ein Verbrecher um des Verbrechens willen ist. Damit transzendiert er irgendwie seine Rolle, wird (was ich nicht negativ sehe) zur unrealistischen unhistorischen Person, denn welcher Machtmensch oder (angehende) Despot hätte das je sich oder anderen eingestanden?
Zitat von Klaus 10.März 2012
Das hatte ich auch noch von früher in Erinnerung. Aber bisher fand ich es nur während ca. 10 Seiten des Gesprächs zwischen Stawrogin und Schatow (Kapitel "Nacht") nervend. Vielleicht muß man hier auch einfach die Zeit- und Situationsgebundenheit des Romans berücksichtigen. Wirklich stören würde mich sowas erst, wenn der Autor auf diese Weise seine eigene Weltanschauung zum besten geben würde, aber nicht wenn er einfach nur darstellt, wie zu seiner Zeit (auch) gedacht wurde.Das sehe ich genauso! Stawrogin kontert zudem Schatows religös gefärbten Nationalismus derart witzig, logisch und entwaffnend, dass ich kaum glaube, dass Schatow, wie gelegentlich behauptet wird, das Sprachrohr Dostojewskis ist. Das berüchtigte angebliche Dostojewski-Zitat, das Goebbels seiner Dissertation voranstellte und Dostojewski in die Nähe des Faschismus brachte, ist zum Glück ein Ausspruch Schatows: „Vernunft und Wissen haben im Leben der Völker stets nur eine …untergeordnete Rolle gespielt - und das wird ewig so bleiben! Von einer ganz anderen Kraft werden die Völker gestaltet und auf ihrem Weg vorwärts getrieben….(I. Teil, Kap.1 und 2)
Der Roman lässt viele verschiedene, teils kontroverse Stimmen zu Wort kommen. Allenfalls in dieser Vielstimmigkeit spricht sich mMn. Dostojewski aus.Ich bin jetzt mit dem zweiten Teil fertig und muss sagen, dass ich das Lesen „beschwerlich“ finde. Dostojewskis Spannungstechnik, dieses Verwirrspiel und Vorenthalten von Information finde ich anstrengend. Deshalb mag ich auch Kriminalromane nicht so. Innere Spannung interessiert mich mehr. Aufgrund von sparsamen Informationen und Andeutungen auch noch auf das äußere Geschehen, die Handlung schließen und äußere Zusammenhänge herstellen zu müssen, finde ich bei diesem ohnehin schon vielfältigen mehrschichtigen Werk mit seiner enormen Personenfülle zuviel des Guten.
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Außer den schon Genannten, wären da noch – im Bereich Lyrik: Paul Valery, Paul Eluard, Guillaume Appolinaire, Boris Vian, Jaques Prevert. Dramatik: Alfred Jarry, Jean Giraudoux, Jean Anouilh, Samuel Becket, Eugene Ionesco. Epik: Raymond Queneau, Andre Malraux, Simone de Beauvoir, Jean Genet, Claude Simon, Georges Bernanos, Francois Mauriac, Maguerite Duras und sicher noch viele andere .
Meine Empfehlung: die Romane von Mauriac: Therese Desqueyroux z. B. und natürlich Marguerite Duras! -
Ja, danke riff-raff für die Nabokov-Zitate! So sehr ich Nabokov als Romancier schätze, so wenig gebe ich ehrlich gesagt auf seine literaturkritischen Äußerungen. An den Romanen seines Zeitgenossen Th.Mann z.B. ließ er kein gutes Haar! Fast bin ich geneigt, Reich Ranickis Diktum: "Dichter verstehen von Dichtung so viel wie Vögel von Ornithologie" bei Nabokov bestätigt zu sehen. Obwohl er natürlich mit einigem recht hat.
Was die „dunklen und gescheiterten“ Existenzen angeht, MadameLou, so wundert es mich offen gestanden angesichts von Dostojewskis Vita und seiner Zeit, wie versöhnlich und positiv er im Endeffekt mit dem, was er schildert, doch noch umgeht. Allein schon die Tatsache, dass man über die geschilderten Typen lachen (hier in der Leserunde fiel das Wort vom "Humoristen" D.) und sich in ihnen wiederfinden kann, hat etwas Positives! Das uferlose manische Gerede zieht mich irgendwie in seinen Bann, ich habe immer den Eindruck, die Person wisse schon, was mit ihr nicht stimmt, sie berührt ja auch immer den Knackepunkt (Stepan z.B.), aber dann hakt’s wieder und sie macht weiter wie bisher. Das ist doch sehr menschlich. „Erbarmen mit der Menschheit“, das finde ich nun gerade bei Dostojewski. :zwinker:Da hier in der Leserunde die „Theaterhaftigkeit“der dostojewski’schen Romane erwähnt wurde: Vor einer Woche etwa sah ich in der Volksbühne Berlin den „Spieler“ nach Dostojewski in der Inszenierung von Frank Castorf. Ich mag eigentlich keine dramatisierten Romane. Hier passte es - dank der enormen Spiel- und nicht enden wollenden Sprechfreude der Schauspieler (das Stück dauerte fünf Stunden) und einer sich auf dem Roulettetisch wälzenden Erbtante. Dostojewski hoch zehn!
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Nun soll also unser guter Stepan Trofimowitsch Werchowenski Darja heiraten, die von Nikolai Stawrogin geschändet und schwanger ist. Aber das großzügige Angebot von Warwara Petrowna Stawrogina, Nikolais Mutter, kann er nicht ablehnen und wird wohl diese Ehe eingehen, obwohl er Warwara liebt.:breitgrins:. Das möchte er jetzt, da Warwara das eigentlich nicht ganz abwegige Ansinnen an ihn stellt, Marja zu heiraten, um die „Sünden“ ihres Sohnes Nicolai „zu decken“, sich selbst und seine Umwelt glauben machen! Stepan ist ein Parasit, der auf Kosten Warwaras lebt, die dafür „sklavische Ergebenheit“(I, KapI,3) verlangt. Über die Art ihrer „Freundschaft“ lässt sich der Ich-Erzähler in herrlich ironischer Art in I,Kap1,3 aus: „Es gibt seltsame Freundschaften….“ Was aber wohl - jedenfalls von Seiten Stepans - nie im Spiel war, ist Liebe. Denn nie ist er zurückhaltender als zu dem Zeitpunkt, als er Grund zu der Annahme hat, Warwara wolle mehr … (nachzulesen in I,Kap 1,4).
Kein Wunder, dass der Erzähler, dem Stepan diese „traumatischen Erlebnisse“ Jahrzehnte später anvertraut, sich nun ein Lachen kaum verkneifen kann:[quote= dostojewski, I,Kap3,10] ...Vingt ans! Und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden, oh, das ist grausam! Und glaubt sie denn wirklich, dass ich aus Angst, aus Not heirate? O Schmach ! Tante, Tante ich tue es nur deinetwegen…oh mag sie es erfahren, diese Tante, dass sie die einzige Frau ist , die ich zwanzig Jahre lang vergöttert habe. Sie muss das erfahren, es geht nicht anders , sonst wird man mich nur mit Gewalt zu dem schleppen, ce qu’on appelle Traualtar!“
Zum ersten Mal hörte ich von ihm ein solches dazu so energisches Bekenntnis. Ich will nicht verhehlen, dass ich die größte Lust hatte, in Gelächter auszubrechen…[/quote]Stepan ist ein Meister im Verdrängen, Umdeuten, Rechtfertigen, Aufstellen von Schutzbehauptungen etc. Er ist ein Heuchler, der zu echten Gefühlen gar nicht fähig ist, höchstens zeitversetzt in Form von Schuldgefühlen und Reue, wie bei seinem Sohn, den er bei alten Tanten irgendwo in Russland aufwachsen lässt. Dostojewski ist mit diesem (modernen) Tartuffe eine unglaublich gute Charakterstudie gelungen …
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Jetzt würde mich mal interessieren: Wenn Turgenjev praktisch in der Rolle des Karmasinov steckt, befindet sich dann auch eine bestimmte Person in der des Trofimovitch, oder meint Dostojewski damit niemand bestimmten? Weiß das jemand?Stepan Trofimowitsch hat ,glaube ich, keine 1:1 –Entsprechung in der Realität wie wohl der Roman auch kein Schlüsselroman ist. Es spiegelt aber die gesellschaftlichen Zustände der Zeit zwischen 1865 und 1875 ziemlich genau, vielleicht etwas satirisch überzeichnet, wider. Für Stepan werden wohl verschiedene Zeitgenossen und ,wie ich vermute, auch ein bisschen Dostojewskij selbst Pate gestanden haben.
Wie finsbury bin ich erstaunt, wie witzig und ironisch Dostojewskij in diesem Roman ist. Die Beziehung zwischen Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch und dessen schriftstellerische und wissenschaftliche Bestrebungen bedenkt er mit geradezu ätzender Ironie. Das Versteckspiel mit dem Ich-Erzähler gefällt mir weniger. Ich bin ebenfalls im 3. Kapitel, er wurde bereits mehrmals Personen im Roman vorgestellt. Warum nicht dem Leser? Wir erfahren nur, dass er ein Vertrauter Stepan Trofimowitschs und jünger als dieser ist, und den Anfangs-und Endbuchstaben seines Nachnamens. Dabei ist der Ich-Erzähler mehr und mehr in die Handlung involviert und als Erzähler seltsam unhomogen. Während er zu Anfang mit quasi barocker Attitüde distanziert und souverän die Dinge vor dem Leser ausbreitet, nehmen wir ihn im Laufe der Erzählung immer mehr als Romanfigur wahr, die ähnlich nervös überdreht sich verhält wie die übrigen. Ich hoffe, wir werden noch über seine Identität aufgeklärt und das Im-Dunkeln-lassen ist kein „Trick“, um Spannung künstlich zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. -
....eine donquijoteske … Verteidigung romantischer Bürgerlichkeit....
Klingt mir ein bisschen nach schamvollem Verharmlosungsversuch, durchaus verständlich übrigens... -
Hallo Sir Thomas!
Das hatte ich befürchtet, dass auf das Reizwort "pazifistisch"unweigerlich "Gutmenschentum" und "naiv" folgen würde.
Heinrichs Antikriegs- Haltung war alles andere als naiv, eher von Weitblick geprägt, leider im bürgerlichen Lager die Ausnahme, während Thomas mit seiner kriegsrechtfertigenden Haltung im mainstream mitschwamm. Heinrich war ihm im Denken voraus, insofern als Thomas ja schon wenige Jahre später von seinen in den Betrachtungen geäußerten Positionen abrückte und auf Heinrichs umschwenkte … Im Kampf gegen den aufkommenden und real existierenden Nationalsozialismus waren die friedliebenden Brüder dann auf ihre Art doch recht wehrhaft.
der überwiegend angelsächsische Pazifismus der 30er Jahre hat Hitler ...Pazifismus ist, glaube ich, nicht gleichzusetzen mit Appeasement-Politik.
Zitat von Sir Thomas link=topic=1235.msg49281#msg49281 date=1327409899Langfristig "siegt" jedoch der Skeptizist/Pessimist Thomas, denn ...
Thomas liegt auf dem Kilchberger Friedhof in der Schweiz, Heinrich auf dem Dorotheenstädtischen in (Ost-)Berlin. Wer nun im Endeffekt "jesiecht" hat … schwer zu sagen. Aber interessant sind sie, diese beiden so verschiedenen deutschen Brüder.
Zitat von Sir Thomas link=topic=1235.msg49281#msg49281 date=1327409899Ob sich deshalb die "Betrachtungen ..." lohnen? Mich interessiert eher, in welche Tradition Thomas Mann sein Schaffen einreiht. Einiges habe ich bereits in den autobiografischen Schriften erfahren. Meine Lust, die "Betrachtungen ..." unter diesem Aspekt zu lesen, steigt.
Was die Betrachtungen unter diesem Aspekt hergeben, habe ich leider vergessen, weil die Lektüre schon sehr lange her ist. Vielleicht berichtest du? Es würde mich auch interessieren.
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Das letzte mir unbekannte Großwerk Thomas Manns sind die 1918 erschienenen "Betrachtungen eines Unpolitischen". Lohnt das Buch?Es ist auf jeden Fall interessant, um zu sehen, wo Th. Mann politisch herkommt und welche Entwicklung er als homo politicus bis zu seinen Rundfunk- Reden „Deutsche Hörer“(BBC- Reden1941-45) genommen hat! Die Betrachtungen sind eine Auseinandersetzung mit seinem pazifistischen Bruder Heinrich und zeigen, wie weit voraus ihm sein Bruder ( man vergleiche mit dessen 1915 erschienenen Essay Emile Zola ) damals war.
Kein "Großwerk" und kein Ruhmesbblatt... :winken: -
Ich kann dazu nicht sachkundig Quellen angeben, aber Gemeindearme waren eine verbreitete Gegebenheit bevor (!) es den Sozialstaat gab. Ich der Vergangenheit wurde gewöhnlich Armut innerhalb der Familie abgefedert, im bäuerlichen auch auf den Höfen (altes Dienstpersonal zum Beispiel). Gab es aber keinen Gruppenrückhalt, so musste die Kirche, eine Stiftung oder auch die Gemeinde für eine notdürftige Versorgung die Verantwortung übernehmen. Der Begriff des Armenhauses dürfte damit zusammenhängen.Nachzulesen u.a. in dem leider wenig bekannten Roman "Das Gemeindekind" von Marie von Ebner-Eschenbach.
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Hier der Link zum MRR-Spiegelinterview.
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(Sagst) Fragst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt?
Die Idee kam mir schon vor einiger Zeit beim Lesen deiner Beiträge, ganz von allein. :zwinker:
Wenn du es bist, freue ich mich sehr, dass du wieder mitmachst und bedaure, dass fee verte den Weg zurück zum Klassikerforum noch nicht gefunden hat...oder?