Etwas irritiert bin ich, wenn sich Leonhard an die Pforte zum Wald erinnert (S. 610 Beck). Wurde das schon mal näher beschrieben oder sind das immer nur Erinnerungsfetzen ?
Ja, die Pforte zum Wald wurde schon erwähnt, mMn mindestens zweimal: Erster Teil Ende Kap.5,S.162 (dtv)und zweiter Teil, Kap.3, S. 593
Die Urszene: Leonhard ist in einem Arbeiter-Ferienheim in den Bergen. Er entfernt sich von den Kollegen und vor allem den beinzeigenden Kolleginnen durch eine Gartenpforte, die in den hinter dem parkähnlichen Garten liegenden Wald führt . Nach Durchgang durch die Pforte befindet er sich in der freien Natur , in einer anderen Welt. Er erlebt einen Moment der Stille und der absoluten Losgelöstheit.
Szene auf Seite 593: Seine Wirtin gibt ihm einen lateinischen Satz zum Übersetzen, den ihr sein Vorgänger verehrt hat: Eripe me domine, e necessitatibus meis. Leonhard übersetzt mühelos: Reiße mich heraus, Herr, aus dem, was mich nötigt - und merkt, dass er Latein kann! Der Satz sagt ihm viel, im Gegensatz zu seiner Wirtin, die damit nichts anfangen kann. Er hat ein flash-back und sieht sich mit Niki auf dem Motorrad über die burgenländische Landschaft fliegen und dabei das Drei-Mädeldreieck, das ihn so beschäftigt und eingeengt hat, in „Scherben gehen“. „Das kann ich doch nicht selbst,“ denkt er (Wahrscheinlich:…mich selbst herausreißen) aber als „Gegenbeweis“ kommt ihm die Erinnerung an den Sommernachmittag, die Gartentür, an das Aus- der- Welt- sein, die plötzlich eintretende Stille. Wie oben übrigens die Assoziation: Die Vöglein schweigen im Walde
Und nun die Szene, die sich an die durchzechte und ziemlich trostlose Nacht anschließt, die Kajetan und die Gräven zusammen verbracht haben.( S. 610/11) Man erinnert sich…, setzt der Erzähler voraus. Wer soll sich da erinnern? Der Leser? Nun aber wird derselbe Morgen, der in der Stadt über Anne, die gleich den Mord entdecken wird und Kajetan, der einsam und verloren auf der Straße zurückbleibt, trüb und grau dämmert, an anderem Ort beschrieben, nämlich im Hochgebirge, an Leonhards Erinnerungsort. Welch ein Kontrast! Der Tagesanbruch in den Bergen mit dem Pfeifen der Murmeltiere, ein strahlender Sonnenaufgang begleitet von einem Moment absoluter Stille. Wegen solcher Passagen mag ich den Roman und verzeihe D. so manches an Trivialität und ideologischen Fehlgriffen. Das ist sprachlich unglaublich brillant und gekonnt „komponiert“! Nach dem Durchschreiten menschlicher Niederungen erlebt der Leser ein paar erhebende kosmische Momente.