Beiträge von Gontscharow

    Arnims "Kronenwächter" oder Brentanos "Godwi" -- aber die habe ich nur noch sehr, sehr schwache Erinnerungen. Keine unangenehmen, aber auch keine sonderlich postiven, scheinen mich nicht weiter beeindruckt zu haben.


    Warum nicht die Nachtwachen des Bonaventura als romantisches Werk? Ohnehin mein Favorit. Oder den Taugenichts ;dann hätten wir auch gleich die Lyrik mit drin. . . :wegrenn:

    Wow! Klingt verlockend. Das Rezept für den Wiener Stopfkuchen werde ich vielleicht mal ausprobieren. Natürlich meinte ich nicht, dass meine Version für den Spitznamen Pate gestanden hat; ich wollte nur meine negativen Assoziationen schildern, die der Titel bei mir als Kind/ Jugendliche ausgelöst hat. Bin völlig mit dir einer Meinung, dass Raabe auf den Teil des Kuchens anspielt, in den die überschüssigen Zutaten gestopft werden. Das passt ja einfach herrlich: Der eher pejorative Name für etwas, was sich als bestes Stück herausstellt. Wie bei Schaumann, dessen „innere Werte“ zunächst nicht erkannt werden und der dann seine Umwelt in Staunen versetzt…

    Ach ja, anna, schön, Deine Ausführungen zum Stopfkuchen. Wie wir das von dir gewohnt sind: treffend, fundiert , aber mit leichter Feder!


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    ….erst nach mehrmaligen Lesen ganz durchschaubare(n) Erzählstruktur…


    Wenn du die ersten hundert Seiten gelesen hast, und du ja wahrscheinlich auch, montaigne, greife ich nicht vor, wenn ich folgende selbstreferentielle Äußerung Eduards zitiere:


    Zitat von Raabe: Stopfkuchen

    Da sitzt ein sonderbarer Herr auf dem guten Schiff „Hagebucher“ und sonderbar ist’s von ihm im hohen Grade, grade auf dem hohen Meer den Versuch zu wiederholen, das Leben mit einem Fingerhut ausschöpfen zu wollen!...


    Das umreißt ziemlich genau die Erzählsituation: Eduard versucht auf seiner Heimreise nach Südafrika das aufzuschreiben und zu verstehen, was er bei seinem Besuch in seiner Heimatstadt erlebt und erfahren hat, um zu Hause, wie er an anderer Stelle sagt, in Ruhe weiter darüber nachdenken zu können. In erster Linie ist es natürlich das, was er im Laufe eines Tages beim Schulkameraden Stopfkuchen erlebt und was dieser von sich, seiner Frau, seinem Schwiegervater und der roten Schanze etc erzählt hat, wobei dem Leser allmählich schwant, welche Bedeutung das ganze für ihn, den Ich-Erzähler, hat und was es ihm über das Leben allgemein sagt, denn nicht ohne Grund kommt Eduard das Niederschreiben des Erlebten wie ein erneutes „Leben- ausschöpfen- wollen“ vor.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    … dass der Roman zwei Erzähler hat…


    Wenn schon die erzählenden Personen innerhalb der Ich-Erzählung als Erzähler mitgezählt werden :zwinker:, dann sind es vier und nicht zwei, denn neben Stopfkuchen kommt auch seine Frau zu Wort und erzählt aus ihrer Sicht und später noch ein vierter wichtiger Beteiligter an der Geschichte, dessen ausführliche Erzählung allerdings wiederum von Stopfkuchen referiert wird (also eine Erzählung in der Erzählung in der Erzählung). Diese in einander verschachtelten Erzählungen werden von der Rahmenerzählung (Heimreise Eduards nach Südafrika) wie von einer Nussschale umschlossen. Es wird quasi gleichzeitig in zwei Richtungen erzählt: In der Rahmenerzählung vom zentralen Geschehen und seinem Ort weg, wenn auch im Reiseverlauf immer wieder Entsprechungen (ein Brand, ein Unwetter etc ) Verbindung zur eigentlichen Erzählung herstellen, und in der Binnenerzählung wird quasi in konzentrischen Kreisen zum Kern hin erzählt… Im ganzen eine wunderbar mit dem Inhalt harmonierende in sich geschlossene Form.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    …der humane Blick auf die Welt und der Humor erinnern mich an Fontane, nur scheint mir Raabes Ironie etwas schärfer zu sein….


    Ja, Raabes Ironie und Humor gefallen mir auch sehr. Sein „humaner Blick auf die Welt“ drückt sich mMn besonders darin aus, dass der ehemals ausgegrenzte, tolpatschige Schulversager sich als umsichtig, selbstbewußt und tatkräftig entpuppt und an seinem Wirkungsort an Fähigkeiten dem Erfolgsmenschen Eduard, der sich in der weiten Welt bewährt und ein Vermögen erworben hat, zu dessen großer Verwunderung in nichts nachsteht…. So ähnlich wie die Verwandlung, die sein Aschenputtel Valentine durchgemacht hat …


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    „Stopfkuchen“ funktioniert auch als Kriminalroman


    Wobei Raabe auch hier souverän und ironisch mit dem Genre spielt, indem er suspense nicht durch krampfhafte pseudowahrscheinliche Zufälle herstellt, die die Auflösung verzögern, sondern indem er Stopfkuchen, als er gedrängt wird, nun endlich mit dem Täter rauszurücken, ganz direkt mehrere Male sinngemäß sagen lässt: Lasst uns erstmal mit der Idylle fortfahren! Was er dann auch tut.


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 01:18 »

    Den Begriff "Stopfkuchen" kenne ich gar nicht, aber natürlich den Blechkuchen.


    Neige inzwischen zu der Ansicht, dass das doch eher ein familienspezifischer Begriff ist. Bin zwar im tiefsten Niedersachsen aufgewachsen, aber der soundtrack meiner Kinheit und frühen Jugend war durchsetzt vom ostpreußischen bzw. Danziger Idiom meiner Großmutter und meiner Eltern. Es kann gut sein, dass das ein osteuropäischer Ausdruck für besagten Kuchen ist. Oder aber es hat mit Raabe zu tun und war ein Scherzwort meiner Eltern. Meine Schwester hab ich mal ganz unvoreingenommen nach ihren Assoziationen befragt. Ihr fiel auch gleich der Backblechkuchen ein. An das Buch konnte sie sich nicht erinnern. Sie meinte aber auch, es sei ein nur in unserer Familie gängiger Begriff. :elch:


    Ich habe eben .... und ärgere mich, dass ich Raabe erst jetzt kennengelernt habe.


    So geht es mir auch.



    ...an den Schulen ist sein Name nicht mal erwähnt worden, jedenfalls nicht zu meiner Zeit, . Ich habe immer geglaubt, dass er ein verzopfter niedersächsischer Heimatdichter sei, so etwas wie der Heidedichter Hermann Löns.


    Ja, so in etwa war es auch bei mir. "Stopfkuchen" stand als dünnes farbloses rororo- Bändchen in der Bibliothek meines Vaters (wo ist es jetzt?) und machte so gar nicht Lust aufs Lesen. Allein der Titel! Bei uns war Stopfkuchen der schmuck-und geschmacklose Blechkuchen, mit dem die Mäuler allzu vieler Gäste und Mitesser gestopft wurden, auch "Beerdigungskuchen"genannt. Und so ungefähr stellte ich mir auch den Genuss bei der Raabe-Lektüre vor.
    Wie der schlichte Blechkuchen heute mein Gefallen findet, so hat auch die Lektüre von Stopfkuchen natürlich alle negativen Erwartungen von damals zerstreut.
    Ich sage es lieber gleich: Ich habe den Roman schon zuende gelesen. Er ist ja man kurz(nordd.) und war einfach zu spannend. Ich verrate glaube ich nichts, wenn ich darauf hinweise, dass es im Stopfkuchen auch um einen Kriminalfall geht. Warum habe ich mich zwischendurch nicht mit einem Statement gemeldet? Ich hätte nur widerkäuen können, was Gisbert schon so unvergleichlich elegant formuliert und sandhofer angedeutet hat. Nämlich dass hier ein scheinbar mühelos, aber raffiniert konstruierter mit verschiedenen Perspektiven spielender Text vorliegt, dass hier ein Ich-Erzähler schreibend um Verstehen ringt... Vielleicht sollte über Dinge, die andere an einem Text noch entdecken wollen, doch nicht so detailliert und dezidiert im vorhinein geschrieben werden.
    Um nicht in denselben Fehler zu verfallen, halte ich mich erstmal mit weiteren Äußerungen zurück. Nur einiges wenige, das ich mir nicht verkneifen kann: Da gleich zu Anfang das Stichwort 'Naturalismus' fiel: Ich finde, im Stopfkuchen gibt es märchen- bzw. parabelhafte Züge...Und: Ich bin begeistert von der Sprache, von der Skurrilität, dem Humor, dem Satirischen (z. B. wenn Schule als „Bildungspferch“bezeichnet wird) ...

    Hallo anna, hallo montaigne!


    Würde mich gern der Leserunde noch anschließen. Wie für Anna ist Raabe völliges Neuland für mich. Es wird Zeit, diese unverzeihliche Bildungslücke zu schließen.
    :winken:

    Danke, Steffi, dass du dir die Mühe gemacht hast. Allerdings kann ich auf S.54 beim besten Willen keinen Hinweis auf ein Liebesbekenntnis G.s und eine Abfuhr durch Clara entdecken. Es werden nur bruchstückhafte Erinnerungen an eine schöne, aber überhebliche und dumme Claire Neudegg/ Charagiel wiedergegeben in ähnlicher Form wie an vielen anderen Stellen im Roman. Inwiefern sie so ist (das war meine Frage) und was an der Gartenpforte passiert ist, erfährt der Leser hier und, wie ich meine, an anderer Stelle nicht. „Es handelt sich hier nur und ausschließlich um Geld…von irgendwelchen seelischen oder geistigen Schwierigkeiten, die etwa zwischen mir und Kajetan bestehen, darf überhaupt kein Wort gesprochen werden(S.64)… gibt Camy die Devise heraus, einer unter vielen Hinweisen , dass es bei ihrer Trennung um Geld am allerwenigsten geht.


    Aber die „offenen Fragen“ sind, wie hoffentlich deutlich geworden ist, eigentlich der geringste Grund meines Unbehagens an dem Roman.


    Übrigens gibt es hier im Forum eine [url=http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,911.msg28017.html#msg28017]Einschätzung [/url] der Dämonen von Gantenbeinin, die ich nur unterschreiben kann!


    Allen Leserundenteilnehmern Dank für die anregende Mitwirkung! :winken:

    Zitat von Autor: Steffi« am: Gestern um 09:07 »


    …gerade die offene Handlung, dass also nicht alles erklärt wird und der Leser mitunter weniger weiß als der Erzähler, gefiel mir besonders, für mich ist das ein Hinweis, dass Doderer es ernst meint mit der Beschreibung eines kleinen Teils einer Gesellschaft, die man doch nur von außen und nur in Einzelteilen begreifen kann.


    Da hast du natürlich recht. Was mich stört, ist dieser Gestus der Bedeutsamkeit mit dem Sachen vorgetragen werden, die sich bei näherer Betrachtung als belanglos oder mangels Informationen als für den Leser unergründlich herausstellen. Wenn in besagter Passage im Feuer-Kapitel , die Dr. Kröger und Eulenfeld im Gespräch zeigt, - übrigens wirklich exzellent geschildert, wie der jüngere faschistische Aktivist Kröger den Weltkriegsveteranen Eulenfeld in den Suff begleitet und sich Gedanken darüber macht, wie dessen Frontkämpfertum für die "Bewegung" zu nutzen sei, dabei aber nicht vergißt, ihn schon jetzt auszunützen, indem er seinen Kaffee auf die Rechnung des Eingesäuselten setzen lässt - wenn der Erzähler/ Chronist oder wer auch immer hier also in der Lage ist, die Gedanken der Personen wiederzugeben und Andeutungen über Zufkünftiges zu machen, warum nicht über ihre Involviertheit in die gegenwärtigen Ereignisse?...


    Zitat von Autor: finsbury« am: Gestern um 18:15 »


    Dennoch kann ich mich diesem Roman nicht entziehen. Das Atmosphärische nimmt mich gefangen. …..ich fühle mich immer mittendrin, auch wenn es in die Natur und Landschaft geht ... ein Roman Wiens...


    Auch hier kann ich nur zustimmen. Doderer ist ein Sprachmagier. Aber gerade damit überdeckt er mMn so einiges an Trivialität und Inhaltslosigkeit, vielleicht auch die Weigerung oder Scheu, gewisse Dinge auf den Punkt zu bringen. Für mich hat der Roman etwas Verdruckstes und Verlogenes.


    Zitat von Autor: Steffi« am: 17. September 2012


    Je mehr man bei ihm über einzelne Dinge nachdenkt, je größer wird die Tiefe des Romans ...


    Mir geht es umgekehrt, leider! Je mehr ich über einzelnes nachdenke und quasi die Sprachmagie abziehe, desto hohler kommt es mir vor. Geyrenhoff sagt im Feuer-Kapitel : Es gibt bei und nach solchen Anlässen immer Leute, die dem schrecklich blickenden Leben Sand in die Augen streuen wollen. Um nicht in diese schauen zu müssen, verbreiten sie lieber Geschichterln.


    Ich finde , genau das tut Doderer in seinem Roman.

    Mit Interesse lese ich, was Ihr in meiner Abwesenheit an interessanten Beobachtungen und Fragen zusammengetragen habt. Euren Posts entneme ich, dass Ihr den Roman in seiner Gesamtheit recht positiv seht. Nun kann ich mit meiner Meinung wohl nicht mehr hinter dem Berg halten :zwinker:: Äh… bei mir ist es umgekehrt. Ja, einzelnes ist schön, poetisch und meisterhaft geschrieben, aber der Roman als Ganzes ging mir zunehmend auf den Geist. Einmal das exzessive Wiederholen von Motiven und Formulierungen. Den strichweisen oder strichfeinen Kampferduft konnte ich zum Schluss nicht mehr riechen genausowenig wie die inflationären Jenseits im Diesseits und zweiten Wirklichkeiten, mit denen der Leser ständig konfrontiert wird. Immer wieder verschleißt der schwarze Samt der Nacht und gibt einzelne Dinge preis… Das schöne Motiv der schweigenden Vöglein bzw. Murmeltiere bei Sonnenaufgang, das mich zu Anfang (nach etwa dreimaliger Wiederholung) noch erfreut hat, kommt dann zumTeil in identischem Wortlaut noch mindestens drei weitere Male vor. Und ewig grüßt das Murmeltier… . Die Funktion für das Ganze erschließt sich (mir) nicht. Oder ist das einfach nur Manierismus, l’art pour l’art, erübrigt sich die Frage nach dem Sinn bzw. der Funktion?
    Finsbury hat einige Fragen gestellt, z. B nach der Rolle von Eulenfeld und Dr. Kröger bei den politischen Aktionen. Darauf gibt der Roman keine Antwort. Es wird nur alles Mögliche angedeutet. Natürlich wissen es Kröger und Eulenfeld und zumindest noch der Chronist, nur der Leser nicht. Die Liste solch (künstlich) offen bleibender Fragen ließe sich verlängern. Was hat eigentlich Schlaggenberg und seine Camey entzweit? Worüber streiten sich Stangeler und Grete ständig? Was ist so wichtig daran, dass Renata die spazierengehende Gruppe der Unsrigen „ durchkreuzt“, dass es des öfteren erwähnt wird? Was ist daran so bedeutungsvoll, dass Schlaggenberg bei seiner Wiederkehr( letztes Kapitel) darauf Bezug nimmt? Ihm sei nun endlich klar, dass es Renata gewesen sei. Ja und ? Worin besteht das Trauma, das der fünzehnjährige Geyrenhoff durch Clara, Quapps Mutter, erlitten hat? Was hat sie um Gottes willen mit ihm gemacht? Warum erfahren wir das nicht , hören aber ständig davon läuten? Was befähigt Frau Ruthmayr, diese mysteriöse Verletzung im Handumdrehen zu heilen? Was ist überhaupt so „böse“ an Clara? Ihr Standesbewusstsein, ihr Dünkel, dass sie den alten Ruthmeier nicht wollte? So schlimm ist das ja nun auch nicht.
    Die aufdringliche Fahnensymbolik durch die vergossene Milch und das Blut der einfachen Frau aus dem Volke im Kapitel Das Feuer finde ich kitschig. Die Farbsymbolik kommt übrigens noch mal um einiges schwülstiger beim Tod von Leonhards Freund, dem Polizisten Zeitler, vor: Als schlüge jemand einen roten Mantel auseinander, innen atlasgefüttert mit jetzt aufglänzendem Weiß… (S.1311) Irgendwie ist dieser Patriotismus, diese Apotheose der Nationalfarben wenig glaubwürdig bei jemandem, der kurz vorher für sein Land noch die Rolle des Anhängsels als „Ostmark“ begrüßt hatte. Kitschig,schwülstig und geradezu peinlich ist auch die "Ehrenrettung" die Gyurkicz in diesem Kapitel zuteil wird. Schon was ihn zur zwielichtigen Figur machte - seine Hochstapelei, seine verleugnete (jüdische) Abkunft ( Er ist ein Friedmann, na sowas!), seine „Drückebergerei“ - war schwer nachzuvollziehen. Nun wird er „geadelt „ und avanciert zum Freund Geyrenhoffs dadurch, dass er rumballert und sich abknallen lässt. Unsäglicher Unsinn!
    Ich will Euch nicht weiter langweilen mit meinen negativen Wertungen, die ich noch endlos fortsetzen könnte. Nur noch so viel: Ich finde nicht, dass der Roman ein Panorama der Gesellschaft der zwanziger Jahre abgibt. Die Figuren sind weder typisch noch repräsentativ. Die niederen Stände sind genrehaft, die „Unterwelt“ kolportagehaft geschildert, die oberen mit Ausnahme von Gürtzner-Gontard und Levielle sämtlich kleine Doderers mit Macken, Ticks, obskuren Theorien und verklemmter Sexualität - letzteres wäre noch ein Kapitel für sich. Die beiden Lichtgestalten Leonhard und der deus ex machina Gach übrigens peinlich in ihrer Positivität und Konstruiertheit.


    Eine Stelle - nicht die einzige- die mir gut gefallen hat:
    Leonhard schlüpfte durch den geöffneten Spalt, warf sich vor Mary nieder und küßte ihre beiden Füße. Auch den unechten.(S.1322)

    Liebe Mitleser!


    Doderers Dämonen sind ausgelesen! Ich möchte nichts vorwegnehmen und/oder euch eventuell die Lust am Endspurt vermiesen; deshalb warte ich mit einem "Schlusswort". Es ist nur so, dass ich ab morgen drei Wochen weg bin. Also wünsche ich mir, dass Ihr Euch noch viel Zeit lasst und, wenn ich zurückkomme, hier noch eifrig diskutiert und kommentiert wird. :zwinker:

    Euch schon mal herzlichen Dank für die anregende Leserunde und weiterhin viel Spaß beim Lesen!
    :winken:


    ich bin in seiner Biographie auf den Hinweis gestoßen, dass Doderer tatsächlich eine Annonce aufgab um Dicke Damen in seiner Wohnung zu überprüfen. Trotz Weltwirtschaftskrise meldeten sich soviele Damen, dass er das üppig anfallende Material allein nicht mehr bewältigen konnte. Sein Neffe Dr. Kurt Meyer half ihm bei dem Forschungsprojekt. Sein Neffe ging im Roman dann als Dr. Körger ein.


    Ja. Der Unterschied zur Schlaggenberg'schen Annonce: Der Zusatz israelitische.... Damen... Das wurde im Roman der Fuffziger geflissentlich weggelassen. Nichtsdestotrotz sind die "Prüfungsobjekte" durchweg jüdische( Vgl. Kap Topfenkuchen, Ein entzückendes Konzil etc)


    ...mich verwirrt nun nach knapp 1100 Seiten nun doch sehr die "zweite Wirklichkeit". Wie würdet ihr diese erklären?


    Der Einfachheit halber zitiere ich aus der von dir :zwinker: empfohlenen Spiegel-Rezension:


    Schlaggenbergs "Dicke-Damen-Theorie" figuriert in den "Dämonen" ausdrücklich als Beispiel für das, was Doderer die "zweite Wirklichkeit" nennt. Unter der "zweiten Wirklichkeit" versteht Doderer alle Systeme, Ideologien oder Weltanschauungen, die den Anspruch erheben, für alle Menschen - oder mindestens eine Gruppe von Menschen - verbindlich zu sein. Darunter fallen sowohl die idealistischen - also etwa das von dem griechischen Philosophen Platon entworfene Idealbild eines Staates -, wie die sozialistischen Ideologien, also etwa der Marxismus.
    Solche "zweiten Wirklichkeiten" aber, meint der enragierte Individualist Doderer, verstellen dem Menschen den Blick auf die nur für ihn geltende - und für jeden Menschen anders geartete - persönliche Lebensordnung.
    Jene "zweiten Wirklichkeiten" müssen platzen "wie Wursthäute", wenn ein Mensch, wenn eine Romanfigur vor Doderer bestehen soll. Die "zweite Wirklichkeit" ist die Landschaft, in der die "Dämonen" hausen. Die Überwindung solcher "zweiten Wirklichkeiten" ist das zentrale Problem in Doderers Hauptwerk "Die Dämonen", sie ist der kategorische Imperativ, ist das Credo des Schriftstellers Heimito von Doderer.
    Jeglicher Versuch, Probleme im Kollektiv zu lösen, wird, laut Doderer, mit dem Verlust der Fähigkeit bezahlt, "den eigentlichen gordischen Knoten der Zeit in der eigenen Brust zu lösen, was an keinem anderen Orte und auch nie im Vereine mit anderen geschehen kann".

    Ich meine, im Roman wird irgendwo angedeutet, dass ebenso die Nazi-Ideologie wie auch Herzkas Sadismus-Phantasien unter den Begriff "zweite Wirklichkeit" zu rechnen sind…

    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 20:40 »

    Vielleicht kannst du mir auch noch erklären warum es dann nicht „Borsigen seine“ heißt, also warum Schwarzkoppen seine, aber Borsig seine?


    Ich wusste, dass du das fragen würdest. :breitgrins:


    Zitat von Zitat von: Gontscharow am 13. August 2012

    Im Berliner Dialekt wird den Familiennamen gerne ein -en angehängt.


    Eben: Gerne , muss aber nicht! Die Doppelung wäre unschön und würde den Sprachfluss hemmen.
    Sehr informativ zu diesem Thema: [url=http://www.xlibris.de/Aufsatz/Autor/Fontane/Berolinismen%20in%20Fontanes%20Roman%20Irrungen,%20Wirrungen]Berolinismen in Fontanes Roman Irrungen und Wirrungen[/url] . Da steht auch etwas über Namen wie Lenen und Leneken statt Lene.
    Aber wenn selbst Holofernesssen dich nicht überzeugen konnte….


    Kopp als Dialektwort für Kopf kennt man nicht nur in Berlin, sondern u.a. auch im Südwesten Deutschlands. Wenn die „alte Lierschen“ Schwarzkopp gesagt hätte, hätte ich keinen Zweifel, dass sie Schwarzkopf meint, aber sie sagt „-koppen“ und koppen für Kopf kenne ich nicht und deshalb habe ich in Erwägung gezogen, dass sie mit koppen ev. nicht Kopf sondern koppen meint...


    Das hält man ja im Kopp nicht aus! :breitgrins: Bitte verzeiht, wenn ich mich einmische. Im Berliner Dialekt wird den Familiennamen gerne ein -en angehängt, besonders wenn sie im Dativ oder Akkusativ stehen. Also Schwarzkoppen seine statt die Arbeiter von Schwar(t)zkopff. So spricht die alte Lierschen schon in ihrer ersten Tirade von der Witwe Pittelkow als von der Pittelkow’n: Was der Pittelkow’n wieder einfällt… Selbst Holofernes (der von Judith und Holfernes) ist davor nicht sicher. Im zehnten Kapitel sagt die Pittelkow:…..als… Wanda Holofernessen köppte(köpfte)…. Das ist für mich bester Fontane -Sound…

    Die stauende Wirkung derartig gesammelte Aufschübe erzeugt dann die sogenannte Wucht der der geschichtlichen Tatsachen, und was man vorher nicht im Kopf haben wollte, kriegt man hintnach als eine Tracht Wissen auf den Hintern, der aber kein fruchtbares Feld für solchen Anbau sein kann, sondern nur dumm weh tut.(dtv , S. 889)


    Ob Doderer damit auch sich selbst meint? Klingt jedenfalls ein wenig wie selbst erfahren.


    Schöne Stelle, die du da zitierst. Ich glaube schon, dass Doderer sich in den Kreis derer, die vor bestimmten Dingen die Augen verschlossen und dann durch die Geschichte eines besseren belehrt wurden, mit einbezieht. Aber doch scheint mir das halbherzig und wehleidig dahergesagt... Denn die Tracht Wissen, die ihm hintnach verabreicht wurde, scheint so schmerzhaft nicht ausgefallen zu sein, wenn er quasi unbelehrt in den 50ern Lust verspürte bzw. keine Hemmungen hatte, sein antisemitisches Romanprojekt mit dem gleichen Personal wieder aufzunehmen und zu vollenden ...

    Zitat von Autor: finsbury« am: Heute um 15:21 »

    Auf S. 879 hat das Hütchen (Solé) in der dtv -Ausgabe aber einen ganz korrekten accent aigu


    Das wurde auch nie in Abrede gestellt, auch für Marys Kopfbedeckung nicht... :zwinker: Ich sagte nur, dass ich mit meiner Tastatur keinen accent hinbekomme.


    Zitat von Autor: finsbury« am: Heute um 15:21 »

    Für mich passt der Plattfisch auch immer noch besser als der geerdete Stoff.


    Ich musste schmunzeln bei der Stelle. Kann mir genau vorstellen, was für einen Hut du meinst; Kate Middleton trägt so etwas gern, schräg aufgesetzt. Aber (wie gesagt), die Scholle heißt la sole - ohne Akzent. Und Quapps Hut wird als Toque bezeichnet - eher eine topfartige als platte Hutform. Je regrette…


    Bin in III,7 :lesen:


    vielleicht hat er sich mit dem Akzent vertan ?
    in der Strudlhofstiege spricht Doderer zweimal von einer solennen Wiener Jause (S. 217 / S. 726) . Keine Ahnung was das bedeutet und ob es einen Zusammenhang zur solé gibt. Wollte es dennoch erwähnen.


    Vielen Dank für deine Mühe. :zwinker: Dass er sich mit dem Akzent vertan hat, ist eher unwahrscheinlich, weil das ja nochmal so vorkommt: Quapp ersteht eine ähnliche (oder gleiche) Kopfbedeckung aus nämlichem Filz und zwar zu einem Zeitpunkt als auch sie triumphiert und sich aus allen möglichen Abghängigkeiten löst. Wie bei Mary ist der extravagante Hut das I-Tüpfelchen auf ihrem Triumph und ihrem (neuen) Selbstbewusstsein.
    Mittlerweile bin ich der Ansicht, besagtes Wort ist ein Attribut zu Filz, ein P.P.P. zu dem Verb soler, das es leider auch nicht zu geben scheint. Es gibt desoler, assoler, isoler, insoler - aber soler alleine nicht. Ich glaube, es hat mit le sol - Boden( ähnlich wie du, Maria, vermutet hast) zu tun... geerdeter Filz? besohlt, vielleicht gefüttert? solid?
    Das ganze ist natürlich eine Marginalie. Aber ich will es eben immer ganz genau wissen. Zumal wenn es leitmotivisch daherkommt. :zwinker:

    Zitat von Autor: finsbury« am: Gestern um 12:34 »

    Stecke mitten in dem künstlich-frühneuhochdeutschen Kapitel "Dort unten". Das ist schon ziemlich manieriert….Ruodlieb erzählt die Episode des privaten "Hexenprozesses" außerordentlich breit, man merkt, wie verliebt Doderer nicht nur in das Lateinische, sondern auch in andere semantische Akrobatik ist.


    Ja, künstlich, manieriert und verliebt in die eigenen Sprachkünste. Dieses selbstfabrizierte Frühneuhochdeutsch scheint sich wie im Dr. Faustus von Mann als Sprache des Bösen aus den Kavernen der Psyche bestens zu eignen, irgendwie naiv, rustikal und realistisch-vertraut, wenngleich historisierend und verfremdet.

    Zitat von Autor: finsbury« am: Gestern um 12:34 »

    Was das Ganze soll, ist mir noch nicht so recht klar: Ich nehme an, es soll die sadistischen Neigungen Herzkas bedienen und inwieweit sie ins Lächerliche ziehen, kommt darauf an, wie weit die Folter geht


    Herzka wurde durch die Gespräche über Hexenprozesse auf dem Tischtennis-Fünf-Uhr-Tee bei Siebenscheins auf seine sadistischen Obsessionen hin getriggert. Diese scheint er, wie Steffi das auch sieht, mit oder an Magdalene Güllich konkret in nicht sublimierter Form ausgelebt zu haben, etwas was er in den Tiefen seiner Erinnerung vergraben hat. Nun hat er ein neues Objekt, Agnes. Die Erbschaftangelegenheiten und die Erforschung der Kavernen kommen (zum Glück) dazwischen. Was sie dort finden, stellt sich als vergleichsweise harmlos heraus. Die Folterungen sind fingiert. Alles ist inszeniert zum Lustgewinn des Hausherrn und der Folterknechte . Der Sex ist schließlich sogar einvernehmlich. Ich glaube, das ganze dient der Entlastung und ist ein Schritt auf dem Weg zur Integration dieser sexuellen Neigung ins normale Leben - sowohl Herzkas als wohl auch des Autors (sicher sind euch die Samtpeitschchen bei seiner 2.? etwas spießigen Ehefrau nicht entgangen). Herzka als neuer Hausherr lässt Licht und Heizung in den Kavernen installieren, quasi ein Symbol für die Domestizierung des Trieblebens. Heute gibt es Bondage- Seminare…


    Bei Marys Hütchen tappe ich noch immer im Dunkeln. Auch wenn ihr ein Plattfisch sicher gut stehen würde, die sole hat ja keinen Akzent.


    Jetzt erst sehe ich dein letztes Posting, finsbury. Ja, "burleske Abenteuer" - das sehe ich genauso!


    Eine Frage: Auf S. 717 f wird Levielle mit Sieghart verglichen: Ich meine mich zu erinnern, dass dieser eine Titelfigur in einem romantischen Roman oder Ähnlichem ist, komme aber durch Googeln nicht auf das Werk. Wisst ihr hier Bescheid?


    Dazu Robert Schediwy (in: Doderer-Gesellschaft):



    Zu diesem Sieghart gibt es auch einen Wikipedia-Artikel.


    dann tauchte Rahel doch im Kapitel auf? Das muß ich übersehen haben. Ich wunderte mich bereits, dass das Kapitel so heißt und dann der Name nicht auftaucht.


    Ja, ich zitiere mal:
    Freilich sah die Emmy Dobril, dass diese Frau schön war, ja eine Rahel, eine Rebecca - aber das Hütchen und wie sie es trug, das war noch mehr...(dtv.,S.639)



    Oh ja, das war mir entgangen. Sehr schön auch die Wortspiele rund ums Bein!


    Wo sind denn die alttestamentarischen Anspielungen?


    Soweit ich mich erinnere, wird Mary in diesem Kapitel anfangs mit Rahel und Rebecca, später mit Judith und Ruth verglichen, alles starke und attraktive Frauen der Alten Testaments.
    Deine Interpretation - Frau Ruthmayr als „ ältere Schwester“, die von Rahel-Mary bei Leonhard abgelöst wird - finde ich einleuchtend. Vielleicht bezieht sich der "Triumph Rahels" auch auf das Verhältnis Dwight - Dobrila , quasi in Umkehrung ihrer eigentlichen Funktion, denn trotz Dwights Schwärmerei für Mary wird seine Beziehung zur Dobrila durch ihre Präsenz letztlich bestätigt und gefestigt.
    Mary triumphiert in dem Kapitel ja auf ganzer Linie. Alle, selbst Eulenberg, müssen vor ihr und ihrer Schönheit kapitulieren. Und sie triumphiert über ihre Behinderung.



    Was ich allerdings auch nicht ganz verstehe, ist, warum Mary sofort anfängt, mit Leonhard Latein zu lernen: Das Motiv dafür kann ich nicht erkennen, außer, dass sie dadurch Leonhard Möglichkeiten verschaffen will, ihr allein oder im kleinen Kreis der Familie zu begegnen. Aber dafür einfach mal so eine so komplexe Sprache erlernen?


    Latein ist eine Marotte Doderers, die er gern auf seine Romanpersonen überträgt, auch wenn er sie zu Sprachgenies mutieren lassen muss.


    Ganz entzückend fand ich am Anfang des Kapitels die Beschreibung von Marys Hut - ein schwarzer kleiner Filz (sole) mit einer Reiherfeder - quasi ein ironisches Statement. Quapp kauft sich später im Roman auch so einen, das ist sicher nicht ohne Bedeutung. Ich hab mal „recherchiert“ was sole (auf dem e fehlt ein accent aigu, kann ich mit meiner Tastatur nicht setzen) bedeutet, habe aber nichts gefunden. Weiß einer von euch, was das bedeutet?


    Ich befinde mich bereits im 7. Kapitel des dritten Buches, will aber nicht vorgreifen, warte erstmal ab und bin gespannt auf eure Kommentare.