Beiträge von Gontscharow

    Schaun wir mal:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich (5)
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte, (6)
    ....


    Und so zähle ich:


    In einem Hain, der einer Wildnis glich(5)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x ´x
    Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte(5)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x ´x x
    Ging Phanias mit seinem Gram und sich (5)
    Allein umher; der Abendwind durchstrich (5)
    Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzte; (5)
    Verdrossenheit und Trübsinn malte sich (4)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x x
    In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich; (4)
    x ´x x ´x x ´x x ´x x x
    Und was ihm noch zum Timon fehlt', ergänzte (5)
    Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt (5)
    Und ausgenützt, daß es Verdacht erweckte, (5)
    Er hätte den, der einst den Krates deckte, (5)
    Vom Aldermann der Cyniker geerbt. (4)
    ......
    So geht es weiter. Also meist 5 Hebungen, manchmal 4 (dann sind Daktylen oder Trochäen unter die Jamben gemischt - aber will/kann/soll man das -[i]lich
    in sichtbarlich betonen?) Der letzte Vers: Vom Aldermann… hat eigentlich sogar nur 3 Hebungen!

    Zitat von Giesbert Damaschke<br>« am: Gestern um 22:43 »

    Eindeutig fünfhebig wären die für mich nur, wenn das letzte e fehlen würde..


    Warum das denn, das sind weibliche/klingende(weil unbetonte) Kadenzen. Und nicht die sechste Hebung…


    Zitat von Giesbert Damaschke<br>« am: Gestern um 22:43 »

    Nan kann natürilch "begrentzte", "umkräntzte", "Blicken", "Rücken" etc mit nur einer Hebung lesen, aber dann fehlt zumindest für mein Ohr ein wenig Halt im Vers. Nicht das man sie..


    Man kann nicht nur, man muss! Wie willst du in „ begrenzte“ zwei Hebungen unterbringen? Und wie in den Zweisilbern Blicken etc.? Zweisilbige Wörter haben im Deutschen nie zwei Hebungen.


    Zitat von Giesbert Damaschke« am: Gestern um 22:43 »

    Später gibt es auch völlig eindeutige Sechsheber:
    Die Wollust – schön, er fühlt's! – doch nicht mehr schön für ihn –[/]


    Der Vers hat tatsächlich 6 Hebungen und sogar die typische Zäsur des Alexandriners. Wie gesagt, das Madrigal ist tolerant - warum sollte es nicht auch den einen oder anderen Alexandriner verkraften? :zwinker:

    Im Madrigalvers, ein jambischer Vers, der über keine feste Anzahl von Hebungen verfügt ( bei Wieland ist er meist vier-oder fünfhebig) und kein festes Reimschema aufweist. Der Madrigalvers ist variabler als andere Versformen und eignet sich deshalb gut für Verserzählungen. :winken:

    Zitat von Gronauer« am: Heute um 09:14 »

    Wie seltsam mutet dieser Konsens zwischen dem eingezogenen Melancholiker und dem Propheten der Tyrannis des abgehobenen Übermenschen an. Oder, ins bedeutend allgemeine: könnte es wohl sein, dass die zartesten und die gewalttätigsten Gemüter sich in der Indolenz ihres Autismus die Hand reichen?


    Interessanter Gedanke! Nur dass Nietzsche eben auch zart und verletzlich sein kann (seine Kraftmeierei ist eigentlich nur Kompensierung seiner Verletzlichkeit) und der eingezogene Melancholiker Pessoa im Buch der Unruhe eben auch rassistische, gewalttätige Töne anschlägt …

    Seltsam larmoyanter Thread


    Was soll das denn, Sir Thomas, du bist doch sonst nicht so?
    Lass dich durch diesen Einwurf bitte nicht davon abhalten, Karamzin, weiterhin deine Gedanken und Erfahrungen hier zu posten! Wie Dostojewskij u. andere finde ich sie hoch interessant, anregend und überaus bedenkenswert! Im Allgemeinen und im Besonderen! Bislang habe ich (noch) nicht meinen Senf dazugegeben, weil ich wie Steffi eher Literatur liebe, in der gesellschaftliche bzw. persönliche Abgründe offen gelegt werden, weil ich wie dostojewskij Widersprüche für die genuinen Antriebe der Schriftstellerei halte und mit Anita die paradoxe Empfindung teile:... obwohl sie (Herta Müller) im Grunde Trostlosigkeit aufdeckt, habe ich mich weich gebettet gefühlt. Nichts deprimiert mich heilloser als Heile-Welt-Literatur, nichts ist trostloser als Trost- spenden- wollende Lebenshilfe-Literatur … Aber ich weiß, nach billigem literarischem Trost suchst du nicht…


    Im Besonderen: Ja, deine Einschätzung von Tellkamps Turm (etwas hast du ja in einem deiner Posts schon angedeutet) würde mich auch interessieren. Von einer älteren, literarisch sehr versierten ehemaligen DDRlerin hörte ich ebenfalls etwas eher Negatives, andere aber, bes. die Person, deren Exemplar hier noch immer ungelesen herumsteht und der ich es nicht so wieder zurückzugeben wage, waren enthusiasmiert!


    Was ist denn so katastrophal an der Tatsache, dass der "große DDR-Roman" nicht geschrieben wurde oder nicht geschrieben werden wird?

    :breitgrins:


    Das frage ich mich allerdings auch. Vielleicht ist es ja besser so. Na gut, wir haben in Doderers Dämonen den großen Ostmark-Roman( kleiner ironischer Seitenhieb), aber gibt es den großen BRD- Roman oder müsste es ihn geben? Ich finde die DDR- Literatur so reichhaltig, - das Konzert dieser Stimmen (einige hast du genannnt) ist für mich der große DDR-Roman! Ist Stadt der Engel lesenswert ? Was hältst du von Thomas Brasch und Heiner Müller?


    Du hattest Zweifel? Ts ;-)


    Aber nein. Das würde ich mich doch niemals unterstehen. :zwinker: Zumal Raabe, wie ich jetzt gesehen habe, in einer autobiographischen Skizze kurz vor seinem Tod diese Qualitäts- Einteilung seines Werkes selbst vorgenommen hat:
    "Die Chronik der Sperlingsgasse ( ... ) hilft mir heute noch neben dem Hungerpastor im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben. Denn für die Schriften meiner ersten Schaffensperiode, die bis zu letzterwähntem Buche reicht, habe ich 'Leser' gefunden, für den Rest nur 'Liebhaber', aber mit denen ( ... ) das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzuweisen weiß."


    Pfisters Mühle, diesen unlarmoyanten, kritisch- melancholischen Abgesang auf landschaftliche Idyllik und vorindustrielle Intaktheit, habe ich jetzt gelesen und kann mich mit den lobenden Stimmen im Raabe-thread nur wundern über das zeitgenössische Unverständnis für die Brisanz dieses Romans sowie für Raabes Werk allgemein, das bis heute andauert. Grotesk unterschätzt ( Zitat Giesbert) trifft es zweifellos(!) ganz gut!

    Die Erzählung Zum wilden Mann, die ich als letztes gelesen habe, hat das nochmal bestätigt. Raabe bringt es mit unfassbarem erzählerischen Geschick fertig, Kolonialismus und industrielle Moderne mit archaischer Vergangenheit in Beziehung zu setzen, so daß sich dem Leser geheime Verbindungslinien zwischen… verkürzt gesagt… altem Scharfrichterbrauchtum und Liebigs Fleischextrakt auftun… Aber darüber sollte ich vielleicht weiter im Raabe-thread schreiben ; das sprengt nun wirklich den Rahmen der Stopfkuchen- Leserunde.


    Apropos Leserunde: Bist Du mittlerweile zu einem Schluss gekommen, @ Montaigne? Hat sich Dir die Sinnhaftigkeit des Romans mit einem „lügenhaften“ Schaumann erschlossen?
    Und wie ist es mit dir, @ Anna-Magdalena? Gib doch mal 'nen Ton ab. :zwinker:

    Es grüßt
    Gontscharow

    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 22:40

    Bitte runterscrollen auf die dritte (= die zweite beschriebene) Seite und da findest du den Hinweis, dass Raabe auf einen Brief vom 31.12.1890 von Edmund Sträter bestätigt hat, dass Stopfkuchen Schliemann ist.


    Genau das habe ich getan, besagten Hinweis aber nicht gefunden!! Es ist aber auch egal. Sicher hat Schaumann was von Schliemann, vieles, wie gesagt, aber auch nicht! Vielleicht wollte Raabe davon ablenken, dass mit mindestens derselben Berechtigung gesagt werden könnte: Schaumann ist Raabe. :zwinker: Außerdem würde die Schliemann- Parallele kein Hinweis darauf sein, dass er ihn (Stopf) als lügenhaft hinstellen wollte. Wissen wir wie Raabe Schliemann sah? Ja, von Gegnern und Neidern wurde Schl. als Hochstapler diffamiert, bei Raabe ist das tertium comparationis aber wohl eher nicht die Neigung zu lügen, sondern, wenn überhaupt, das archäologische Selfmademan-tum.


    Wenn „das mit dem Mörder“ nicht stimmt, wäre auch das über Seiten sich erstreckende von Stopf wiedergegebene minutiöse Geständnis Störzers, seine Lebens- und Leidensgeschichte, erstunken und erlogen. Was sollte das? Es macht ja gerade den Reiz der Erzählung aus, dass wir es mit einem Gebilde ineinander verwobener und sich gegenseitig tragender Geschichten zu tun haben. Sticht man in eine hinein, fällt das Ganze in sich zusammen.


    Die Erzählung endet mit einer Frage:
    Vader, wat hebt gij uns mitgebracht uit het Vaderland, aus dem Deutschland? Ja, was hat er mitgebracht? Einen Vater, für den sich in der Heimat einiges zurechtgerückt hat, der um einige Erkenntnisse über sich, seine Vergangenheit, seine Mitmenschen und das Leben allgemein reicher ist, und natürlich seine auf der Schiffspassage gemachten Aufzeichnungen, in denen er nach anfänglicher Erschütterung allmählich die Fassung wiedergewonnen und sich Rechenschaft über alles abgelegt hat. Für seine doppelschlächtige deutsch-holländische Brut sicher kein Mitbringsel, das sie zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Später vielleicht… Das ganze funktioniert aber nur, wenn Stopfkuchen Störzer, Eduard Stopfkuchen und der Leser Eduard glaubt. :zwinker:


    Ich komme mal zum Fazit: Stopfkuchen ist ein wunderbar erzählter tief- und hintergründiger Roman. Mit gesellschaftskritischen Seitenhieben auf das wilhelminische Deutschland und seinen Fortschrittsglauben und abgefasst in einer Sprache, die für mich ein Glied in der Traditonskette Jean Paul… Arno Schmidt, Vigoleis Thelen ist mit ihren ironischen Wortspielen, Verballhornungen, in ihrer Schnurrigkeit und (nur) vordergründigen Behäbig- und Behaglichkeit. Ich glaube zu wissen, warum der Roman sich seit einiger Zeit wieder steigender Beliebtheit erfreut. Es ist nicht (nur) die modern anmutende raffinierte Erzählstruktur, es ist auch dieses Loblied auf die Stille, die Langsamkeit, die Ruhe, inkarniert in der Person Stopfkuchens. Nicht der dynamische Schlanke voller Unternehmungsgeist mit seinem zusammengerafften Rittergut im Affenland trägt den Sieg im "Vergleich der Systeme" davon, sondern der dicke Nestling, der vor Ort das Vorhandene in Ordnung bringt. Für mich hat der Roman fast ein bisschen was Anarchistisches : die fast autarke Existenz Stopfkuchens, die Tatsache, dass er es trotz Versagens im staatlichen Bildungspferch zu Bildung, Ansehen usw. bringt , dass er die staatliche Gerechtigkeit warten lässt , alles seinem Tempo unterordnet…


    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 22:40

    Die Frage, die sich mir stellt, ist das Raabe passiert, was ich zuerst annahm, oder hat das Raabe bewusst so gestaltet, wovon ich inzwischen ausgehe – dann ist aber für mich noch offen, warum hat er das so gestaltet?


    Man darf also gespannt sein.


    ________________
    Übrigens, die anfängliche Aussage, Raabe sei Neuland für mich, war nicht ganz richtig. Ich hatte schon auf der Nonnenschule im tiefen Niedersachsen die Novelle Die Schwarze Galeere gelesen, eine, wie ich nach Wiederlektüre jetzt feststellen musste, ziemliche Historienschnulze, in der es um diabolische Südländer, kernige Niederländer und ein blondes Mädchen als Siegestrophäe geht… Außerdem war Holunderblüte in meinem Besitz, eine Geschichte die im Prager Ghetto spielt. Das schön gestaltete Buch aus dem Vitalis-Verlag hatte ich mir mal zusammen mit anderen Pragensien wie Meyerinks Golem in Prag gekauft. Eine etwas sentimentale , aber doch lesenswerte Geschichte - deren Handlung (bewusst) in das Jahr 1819 (Hep-Hep- Unruhen) gelegt ist und die zeitgenössische Judenfeindlichkeit verurteilt. Für diese Novelle unterbrach Raabe seinen Roman Hungerpastor, sein bekanntestes und beliebtestes Buch, das ihm aber auch den Vorwurf des Antisemitismus einbrachte.
    Nachdem ich unseren Leserunden- Roman beendet hatte, habe ich die Sperlingsgasse, den ersten Roman Raabes gelesen. Interessante Erzählstruktur, aber ein bisschen betulich und rührselig, ein bisschen Eugene Sue, ein bisschen Lindenstraße. Aber auch sehr schöne Passagen, wie z. B. die Erzählung der Alten aus den Befreiungskriegen! Dann den Hungerpastor, ein linear und auktorial erzählter, nicht unproblematischer, aber auf jeden Fall spannender und zeitgeschichtlich interessanter Roman. Und endlich: Else von der Tanne. Die deutscheste der Novellen. Einerseits Wahrwerden meiner Klein-Mädchen-Tagträume: Hütte im Wald, Waldeinsamkeit, zahmes Reh(!), andrerseits grausamer Realismus in Form von 30jährigem Krieg, Massenhysterie und Lynch-Justiz. Übrigens zusammen mit der SchwarzenGaleere antiquarisch als DDR-Kinderbuch(!) erworben. Pfisters Mühle, der Roman der jenseits der von Giesbert gezogenen Grenze liegt (an Deiner Einteilung ist was dran, Giesbert!) erinnert im Ton an Stopfkuchen und man merkt schon auf den ersten Seiten einen qualitativen Unterschied zu den früheren Erzählungen Raabes. Viel weiter bin ich noch nicht!
    Wie man sieht, bin ich ziemlich weit eingetaucht in den Raabeschen Kosmos, was, so glaube und hoffe ich, das Verständnis von Stopfkuchen befördert hat.

    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 23:36 »

    …den das wusste er in diesem Augenblick noch nicht, der Erdenumrunder war noch völlig unverdächtigt, erst als er die Schaufel nicht annimmt macht er sich ja verdächtigt. –


    Vielleicht war es Intuition oder er meinte allgemein irgend einen aus der Menge der Trauergäste, vor allem aber mag der von seinem Gewissen geplagte Störzer es so herausgehört haben, worauf er sein bedeppertes Gesicht machte und zurückwich.


    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 23:36 »

    ... soll Raabe geantwortet haben: „Heinrich Schaumann ist Heinrich Schliemann“ und wenn man das erst mal weiß finden sich ja viele weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden.


    Für mich ein Widerspruch. Quelle? Ansonsten interessante Parallele, nur etwas, auf dem im Roman ein Hauptakzent liegt, nämlich die Nesthockerei Stopfkuchens, dass er in Heimaterde in die Tiefe geht und fündig wird, hat nun gar keine Entsprechung in Schliemanns Buddelei in der fernen Türkei. Das entspricht eher Eduard. Und was etwaige Fälschungen betrifft, denk mal an das archäologische „Museum“, das Schaumann in seinem Haus eingerichtet hat und das E. beeindruckt. Die vielen Exponate hätte er dann auch alle gefälscht?
    Nach wie vor halte ich die Version des lügnerischen Stopf, der lediglich eine Schau abzieht (Der Name würde freilich passen! :zwinker:) für höchst unwahrscheinlich bzw. von Raabe nicht intendiert, da wie ausgeführt, Eduard, der Haupterzähler, Stopf.s Erzählungen nirgendwo in Zweifel zieht und auch sonst eine etwaige dahinterliegende Wahrheit nirgends aufblitzt.
    Aber vielleicht ist es im Grunde egal. Hauptsache, der Erzähler glaubt das ihm Erzählte und von ihm Erfahrene und die Quintessenz der Geschichte rundet sich für ihn zu Weisheiten und Erkenntnissen wie :
    Ja, im Grunde läuft es doch auf ein und dasselbe hinaus, ob man unter der Hecke liegenbleibt und das Abenteuer der Welt an sich herankommen lässt oder ob man sich….hinausschicken lässt, um es draußen auf den Wassern und in den Wüsten aufzusuchen!
    oder:
    ….die Menschheit hatte immer noch die Macht, sich aus dem Fett, der Ruhe, der Stille heraus dem sehnigsten hageren, fahrigen Konquistadorentum gegenüber zur Geltung zu bringen.
    Oder schließlich die in einem vorangegangenen Post bereits zitierte Schopenhauer- Schlüsselstelle vom hinreichenden Grund

    Nur, wenn die Erfahrungen, die diesen Erkenntnissen und Weisheiten zugrundeliegen, auf Lug, Trug und Täuschung beruhen sollten, werden diese selbst auch hohl und ergeben keinen Sinn für den Leser. Oder? Kann das sein?


    Die Frage die vorab zu klären wäre, ob der Erdenumrunder determiniert handelt?


    Och nö :rollen:, was soll das denn? Ob determiniert oder nicht, der Umstand, dass Störzer dem Toten die versöhnliche Geste vorenthält, ist schlicht und einfach kein Beweis dafür, dass Störzer nicht der Mörder sein kann (wie du es siehst), sondern lässt eher den gegenteiligen Schluss zu! Für Stopfkuchen kommt verdachtverschärfend hinzu, dass er im Moment der (missglückten) Schaufelübergabe in ein merkwürdiges Gesicht schaut! Es wird nicht spezifiziert, was Störzer für ein Gesicht macht. Aber man kann es sich vorstellen, wenn man sich vergegenwärtigt, was vorausgegangen ist: Stopf.. tat die drei Würfe. Und nun weiß ich wirklich nicht, liebster Eduard, wie es kam, dass ich bei dem dritten so für mich hinmurmelte: Für Kienbaums Mörder. Tja, was will er oder sein Unbewußtes damit sagen? Dass mit seinem Schwiegervater ein Mörder begraben wird? Dass die Frage nach dem Mörder endlich ruhen und mitbegraben werden soll? Oder dass er die Schaufel nun an den Mörder weiterreicht? Fragen, die sich vielleicht auch der neben ihm stehende Störzer gestellt hat und die ihn verwirrt und bestörzt haben zurückweichen lassen. (Wenn er zunächst in der ersten Reihe neben Schaumann am Grab stand, hatte er wohl ursprünglich vor, wie alle die versöhnliche Geste zu tun.) Sehr „raffiniert“ unterbricht Stopf seine Erzählung just bei den Worten „ Für Kienbaums Mörder“ und schneidet sie von der folgenden Schaufelübergabe ab, weshalb vielleicht der Leser dieses Detail überliest.
    Stopf macht Störzer aber auch hier noch nicht auf Grund seines Verhaltens an dieser Stelle als Täter fest , sondern er zermürbt ihn in der Folgezeit durch Bemerkungen, die seinen Verdacht durchblicken lassen und bringt ihn schließlich dazu, ihm die wahren Vorgänge endlich zu erzählen. Aber auch nach dem Geständnis lässt er sich Zeit…

    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 22:55 »

    Bitte nochmal nachlesen: Der Pfarrer sagt, der soll die Hand von der Schaufel lassen, der nach wie vor Andreas Quakatz für den Mörder hält.


    Ja. So in etwa.


    Zitat von Autor: montaigne« am: Gestern um 22:55 »

    Wenn nun der Erdenumrunder quasi in einer Art Gottesurteil die Schaufeln verweigert, dann müsste eigentlich jedem aufmerksamen Leser klar sein, dass Störzer nicht der Mörder sein kann, indem er nämlich die Schaufeln verweigert sagt er ja, nach den Worten des Pfarrers, ich halte Quakatz nach für vor für den Mörder – und das wäre natürlich Unsinn, wenn er selbst der Täter wäre.


    Oder logisch. Denn wer würde sagen wollen, dass Quakatz der Täter ist? Jemand, der das wirklich meint, oder ... der Täter selbst.

    Zitat von Autor: Steffi« am: Heute um 09:43 »

    ...


    Ja, ist mir bekannt, dass du dich beim Naturalismus langweilst - ich halt nicht !


    Ich auch nicht. Jedenfalls nicht unbedingt und generell. Le ventre de Paris und Au bonheur des dames z. B. sind doch sehr unterhaltsam zu lesen und vielleicht weniger platt, als es das Naturalismus-Vorurteil wahr haben will. Das Werk kenne ich nicht. Du hast es gelesen, Steffi, findest du es besser als Zolas bekanntere Romane?

    Zitat von Autor: montaigne<br>« am: Heute um 00:14

    Wir haben die zwei Protagonisten Eduard und Heinrich, die sich fortwährend ihrer Schulfreundschaft versichern, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache.


    Was für Fakten? Alles, was wir wissen und erfahren, wissen wir von Eduard bzw.aus Heinrichs Erzählungen, die von E. wiedergegeben werden. Ja, und Heinrich beklagt und Eduard gibt zu, dass er damals „mit den Wölfen geheult“ und zu den „Jägern“ Stopfkuchens gehört habe! Trotzdem sprechen beide (auch Valentine) von Freundschaft. Ich habe oder hatte ähnliche Freundschaften (als Täterin und als Opferin). Es sind die schlechtesten nicht. Übrigens, dass er und seine „wirklichen“ Freunde Heinrich unterschätzt haben, weiß E. schon seit dem Erlebnis des Abschiednehmens von Valentine Quakatz als angehende Studenten: Und diesen Menschen hatten wir nicht nur für den Dicksten, Faulsten und Gefräßigsten unter uns, sondern auch nicht nur für den Dümmsten unter uns, sondern auch überhaupt für einen Dummkopf gehalten, o wir Esel!
    A propos Valentine Quakatz: Dieses spillerige, verwilderte, seltsame Wesen inmitten ihrer Hundemeute, nicht Kind und nicht Jungfrau, das auch auf E. eine gewisse Anziehungskraft ausübt, kam mir irgendwie bekannt vor. Jetzt weiß ich, an wen sie mich erinnert: an Tulla Pokriefke, die in mindestens drei Grass- Romanen bzw. -erzählungen vorkommt: Katz und Maus, Hundejahre (da wohnt sie drei Tage in der Hundehütte) Im Krebsgang. Günther, wenn du hier mitliest, gib zu, du hast die Anregung zu dieser Figur von Raabe!


    Zitat von Autor: montaigne<br>« am: Heute um 00:14

    Auch hier sprechen die Fakten eine andere Sprache: Heinrich ist der faule Bursche von früher geblieben…
    Aus dem fetten, faulen Heinrich macht er den fleißigen Bauern, aus der Köchin Tine die glückliche Ehefrau, die auch nimmer die Mördertochter ist…


    Interessante Sichtweise! Was mich abhält, sie zu übernehmen, ist der Umstand, dass die Beobachtungen Eduards und die Erzählungen Heinrichs aus der Feder Eduards stammen und dieser nirgendwo an den eigenen Wahrnehmungen und der Aufrichtigkeit Stopfkuchens zweifelt. Wenn Raabe einen unwahrhaftigen Stopfkuchen hätte schildern wollen, hätte er doch seinen Erzähler wenigstens zweifeln lassen, wenn er nicht gar die „Wahrheit“ in der einen oder anderen Form hätte offenbar werden lassen. - Außerdem ist damit die Sinnhaftigkeit des Ganzen hinfällig.


    Zitat von Autor: montaigne<br>« am: Heute um 00:14

    @Anna: Bist du schon weiter gekommen und wenn ja: immer noch begeistert?


    Oder leidest Du auch an einer Klassikerblockade , wie sie jetzt im Forum grassiert? :breitgrins:


    ... Keine gibt sich mit Kinder, Kirche, Küche zufrieden, im Gegensatz zu Tine und der werden sogar noch die ersten zwei „K“ vorenthalten, sie muss sich ausschließlich mit der Küche begnügen.
    ...
    Nein, Heinrich ist kein guter Ehemann, das gute Eheleben wird nur dem ehemaligen Schulfreund? vorgespielt, der Eroberer der roten Schanze hat lediglich eine Köchin miterobert....


    Danke, montaigne, dass du den Frauenstandpunkt verteidigst und hochhältst, aber ich fürchte, das führt uns auf interpretatorische Holzwege. Ja, Stopfkuchen spielt den behaglichen Spießer und Biedermann und frotzelt des öfteren über Tines Küchenrolle, aber Stopfkuchen und Tine bilden, wie Raabe nahelegt,...

    Zitat von Gontscharow

    ...eine verschworene Gemeinschaft gegen die Gesellschaft,... Sie haben sich gegenseitig gerettet, erlöst. Ihre Beziehung ist getragen von gegenseitiger Liebe und Solidarität und Dankbarkeit, denn beide waren Ausgestoßene und ähnlich bedürftig und haben zu gleichen Teilen zur gemeinsamen Existenz beigetragen. Eduard sagt dann auch zu Valentine :
    Daß ihr zwei das glücklichste Ehepaar seid, das sich je zueinander gefunden und ineinander hineingelebt hat!


    Dafür, dass das alles nur vorgespielt ist und Eduard hier einer Täuschung unterliegt, gibt es mMn keine Hinweise.


    Zitat von Autor: montaigne« am: 1. November 2012

    Und wieso schützt er sie, wenn sie zu Hause bleiben muss, schützen könnte er sie nur, wenn sie bei ihm wäre


    Einmal, als Stopkuchen schon ahnt oder weiß, wer den Mord begangen hat, aber nicht weiß, wie er damit umgehen soll, findet er Tine weinend in der Küche:


    Zitat von Raabe: Stopfkuchen

    Und so ging ich und stellte mich zu dem Tinchen und sagte ihr:“ Nu hör auf Herz!“ Sagt sie:“ Es ist ja auch nur noch zur Erleichterung, Heinrich, und ich bin ja in Sicherheit und Ruhe hier bei dir auf der Roten Schanze; und es ist jetzt ja alles so einerlei, wer Kienbaum totgeschlagen und dem Vater das Leben verbittert hat. Ach, wenn mir doch nur keiner mehr davon spräche!“- Da war es denn die Erleuchtung … Da sie wieder selber sagt, dass du der rechte Mann für sie gewesen bist, so bleibe das ferner. Verdirb ihr die Sicherheit und Ruhe nicht, laß ihr die guten Tage…


    Das ist es dann auch, als er mit Eduard in die Stadt will, um ihm und der Öffentlichkeit den Täter "zu präsentieren". Mindestens auf 2 Seiten sind die treuherzigen Motive wie oben verstreut, warum er Tine nicht dabei haben will. Ich kann nicht alles zitieren!


    Bevor meine Leseeindrücke völlig verblassen, möchte ich nun doch noch ein paar Bemerkungen loswerden.
    Wie gesagt, Stopfkuchen ist ein Kleinod der Erzählkunst. Eigentlich ein simpler und nicht besonders origineller Plot: Ein Mann, der im fernen Ausland sein Glück gemacht zu haben glaubt, kommt in seine Heimatstadt zurück und muss feststellen, dass man vielleicht so weit gar nicht wegziehen muss, um besagtes Glück zu machen. O wie schön ist Panama...Man kennt das auch aus der Werbung: Die beiden ehemaligen Schulfreunde, die abwechselnd Photos wie Skattrümpfe auf den Tisch knallen: Mein Auto, mein Haus, meine Frau … Hier geht das Sich-Messen viel subtiler vor sich. Eduard, der Schulfreund des Außenseiters und Schulversagers Stopfkuchen trifft zu seinem Erstaunen auf einen selbstbewußten, gesellschaftlich anerkannten, wohlhabenden und glücklich verheirateten Mann, der außerdem zu einem Privatgelehrten geworden ist, der auf seinem Grund und Boden Geschichtsforschung und Paläonotologie betreibt.


    Zitat von Giesbert Damaschke

    ...wobei wir Schaumanns Ich nur in der Brechung der Erzählung Eduards kennen lernen, und zwar als das für Eduard schlechthin Inkomensurable.


    Hm, das schlechthin Inkommensurable ist mir ein bisschen zu hoch gegriffen. Mir scheint Stopfkuchen eher so etwas wie ein invertiertes Spiegelbild zu sein, in das Eduard erstaunt blickt. Eduard und Stopf haben alles ganz anders gemacht: E. ist gegangen, S. ist geblieben. E. flieht die engen heimischen Verhältnisse, S. stellt sich ihnen und verändert sie, E. nimmt eine „Fremde“ zur Frau, S. eine von Kindesbeinen an Bekannte, E. sucht das Weite, S. in der Tiefe. E. im Raum, S. in der Zeit(Geschichte). Sie machen alles mit entgegengesetzter Richtung ( ähnlich wird auch erzählt)
    und kommen doch zu ähnlichem Ziel. Dass Eduard vielleicht mehr, als ihm lieb ist, in die alten provinziellen Geschichten verstrickt ist und sein Schicksal mit dem Stopfkuchens auf geheimnisvoll verschlungenen Wegen verbunden ist, wird durch die Geschichte des Landbriefriefträgers Störzer offenbar. Die Schlüsselstelle dazu:


    Zitat von Raabe:Stopfkuchen


    Und mehr und mehr kam mir (Eduard) wieder zu vollem Bewusstsein der alte ganz richtige Satz vom zureichenden Grunde, wie ihn der alte Wolff hat: Nihil est sine ratione, cur potius sit quam non sit. Nichts ist ohne Grund, warum es sey.“ - Wie mich Le Vaillant, übersetzt von Johann Reinhold Forster, in der Bibliothek des Landbriefträgers Forster, in der Bibliothek des Landbriefträgers Störzer zu den Buren in Prätoria gebracht hatte,, so hatte der Steinwurf aus Störzers Hand nach Kienbaums Kopfe den Freund zu Tinchen Quakatz geführt und ihn zum Herrn der Roten Schanze gemacht. und so, wenn Kienbaum nicht Kienbaum, wenn Störzer nicht Störzer….. so wäre auch ich nicht ich gewesen…



    Ausgerechnet Eduards Vorbild für Pflichterfüllung, der Held seiner Kindheit, der ihm "Levalljang" und damit die Liebe zur Welterkundung und zu Afrika nahegebracht hat, ist der Mörder Kienbaums. In Störzers Geschichte wird noch einmal die von Stopf und Tine gespiegelt und... variiert. Denn während es diesen gelingt, sich mit ihrer Umwelt und ihren ehemaligen Peinigern zu versöhnen, tötet Störzer den seinen im Affekt. Wunderbar finde ich auch die leitmotivisch wiederkehrende Erwähnung des (Lebens)-Weges, den der unglückliche Landbriefträger zurückgelegt hat, eine Strecke von 5 mal um die Welt, die aber eigentlich nur immer um den Tatort und den Ort seines schlechten Gewissens , die Rote Schanze, herumgeführt hat; die dritte verschlungene Linie auf dem Schnittmusterbogen der Erzählung.


    Zitat von Autor: montaigne« am: 1. November 2012

    Diese Stelle zeigt, dass Heinrich mit gespaltener Zunge redet (er ist kein Freund der Wahrheit, was wir bei unserer folgenden Diskussion über die Mordgeschichte berücksichtigen sollten).


    Nun bin ich gespannt auf deine Version der Mordgeschichte. :breitgrins:

    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 19:39 »

    Auf Frisch und Bernhard könnte ich auch verzichten, aber nicht auf die „Strudlhofstiege“ von Doderer (im Gegensatz zu den „Dämonen“, die ich für erheblich schwächer halte).


    Schade, dass du bei der Dämonen- Leserunde nicht dabei warst. (Hattest du das nicht ursprünglich vor?) Ich muss gestehen, dass meine Dämonen-Enttäuschung etwas abgefärbt hat auf mein Urteil über die viel früher mit Begeisterung gelesene Strudlhofstiege, denn einiges, was mir schon damals missfiel, fand ich in den „Dämonen“ vergrößert wieder. Doderer schöpft aus dieser ganzen wunderbaren östereichischen Erzähltradition eines Hoffmannsthal, Schnitzler, Musil…, bei der man wegschmilzt. Mittlerweile denke ich, dass er sie fleddert…. Nicht Chronist, sondern Anachronist und selbst Angehöriger dieser wirklich schlimm gebeutelten Zwischen-Kriegs-Generation, ist für mich sein Werk selbst der Ausdruck eines Menschen, der nichts mehr auf die Reihe bekommt...


    Zitat von Autor: Anna Magdalena« am: Gestern um 19:39 »

    Die „Deutschstunde“ von Lenz habe ich ganz gern gelesen, die „Blechtrommel“ ging so, beide Romane würde ich genauso wenig wie die Werke von Walser in meinen persönlichen Kanon aufnehmen.


    Ich auch nicht in meinen. Da wären dann noch drin: Bollwieser von Oskar Maria Graf, Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath und vielleicht Arc de triomphe von Erich Maria Remarque. Diese Werke werde ich hier natürlich nicht vorschlagen, denn es dürfen ja nur 10 werden.

    Zitat von Autor: montaigne« am: Heute um 01:48 »


    Ja, auf Berlin. Alexanderplatz sollten wir nicht verzichten und zwar nicht (nur) weil er schon seit eh und je als die deutsche Antwort auf Ulisses, als der moderne deutschsprachige Großstadtroman gehandelt wird und in keinem Romankanon fehlen darf, sondern weil, wenn man sich davon nicht abschrecken lässt und ihn liest, er sich als ein ganz wunderbarer Roman erweist.


    Zitat von Autor: montaigne« am: Heute um 01:48 »


    Danke, Giesbert, ……….was du zu Unrat & Untertan schreibst ist sicher richtig.


    Geht es denn um richtig oder falsch? Nicht vielmehr um Meinungen, Geschmack, literarische Vorlieben? Untertan & Unrat sind satirische Literatur. Satire übertreibt, ist parteiisch und tendenziös; um sie zu schreiben bedarf es einer Gesinnung. Was ist verwerflich daran? Wenn das mit guter Literatur nicht vereinbar ist, würde so einiges an Weltliteratur durchs Raster fallen. Don Quijote z. B. Du magst solche Literatur nicht. Mir geht es ganz anders. Ich finde Unrat und Untertan köstlich, sie sind ganz herrliche Literatur und ich zähle sie, um mit Deinen Worten, Giesbert, zu reden, zu den" wichtigsten, wuchtigsten und überhaupt deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunerts." :zwinker:


    Da wir gerade dabei sind: Was ist mit Joseph Roth? Sein Radetzkymarsch gehört für mich unbedingt in den Kanon!


    Für Professor Unrat und Radetzkymarsch könnte ich gut auf Doderer, Frisch oder Thomas Bernhard verzichten.

    Der „Taugenichts“ ist kein Roman, es gibt dazu auch keine Leserunde etc. und warum sollten wir in einem Romankanon die Lyrik mit drin haben?


    Mit dem Hinweis auf die Lyrik bezog ich mich auf einen meiner Vorredner. Dass der Vorschlag des Taugenichts nicht so ganz ernst gemeint war, ist am smilie unschwer zu erkennen.
    Auf meinen sehr wohl ernst gemeinten Vorschlag Die Nachtwachen des Bonaventura gehst du nicht ein. Nota bene - als Werk der Romantik und Ersatz für die Elixiere.



    Soll ich den „Stopfkuchen“ für den „Hyperion“ rauswerfen?


    Stellst du die Frage im Ernst? Wärst du dazu bereit? Wenn ja, musst du das aber erstmal in der Raabe-Leserunde begründen! :breitgrins:

    Was für ein Un-Wort aus der Marketingsprache (seufz) ...


    Ja :zwinker:, das schien mir s-tilistisch angemessen beim Feilschen um die besten Plätze.


    Zitat von author=Sir Thomas link=topic=4672.msg51705#msg51705 date=1351148018

    Wollen wir die Kirche nicht lieber im Dorf lassen?


    Und was ist das für ein Es-war-schon-immer-so- und- soll- auch- so- bleiben- Spruch aus der gutsherrlichen Mottenkiste (aufstöhn)?


    Ich fürchte, dazu kann ich nichts beitragen. Die Lektüre von Stine liegt zu weit zurück, als dass ich in Details gehen könnte. Zudem scheint mir ein Vergleich schwierig, weil die beiden Frauen sich in völlig unterschiedlichen Situationen befinden. In der Beziehung der kleinbürgerlich/proletarischen Stine mit dem Grafen Soundso geht der Riss der Gesellschaft, wie gern bei Fontane, mitten durch die Beziehung, warum sie dann ja auch letztlich scheitert. Während die ehemaligen underdogsTine und ihr Stopf eine ver-und eingeschworene Gemeinschaft gegen die (Dorf)gesellschaft bilden, der sie auf wunderbare Weise Achtung abgeringen und an der sie schließlich teilhaben können, so daß sie sich nicht länger im schützenden "Kasten"der Arche verschanzen müssen. Sie haben sich gegenseitig gerettet, erlöst. Die Beziehung der ehemaligen „Wildkatze“ und des "dicken Nestlings" ist getragen von gegenseitiger Liebe, Solidarität und Dankbarkeit, denn beide waren ähnlich bedürftig und haben zu gleichen Teilen das Ihre zur gemeinsamen Existenz beigetragen. Eduard sagt dann ja auch zu Valentine :


    Zitat von Raabe

    Daß ihr zwei das glücklichste Ehepaar seid, das sich je zueinander gefunden und ineinander hineingelebt hat!


    Ineinander hineingelebt ist es nicht wieder schön gesagt? Schaumann unterdrückt seine Frau nicht. Höchstens durch zuviel Fürsorge. Bei der Stelle , die du zitierst, geht es darum, dass er verhindern möchte, dass seine Frau mit in die Stadt kommt, weil er sie schützen will. Sie weiß, er hat gute Gründe, und gibt nach. Er hat nämlich vor, jetzt nachdem Störzer gestorben ist, dessen Geständnis seinem Freund Eduard mitzuteilen und gleichzeitig öffentlich zu machen. Und das tut er, mit Takt und Menschlichkeit. Die ganze Passage zeigt, aus welch gutem Holz Stopfkuchen geschnitzt ist und dass er den Täter nicht nur aus Gründen des suspense solange nicht genannt hat.

    Hm, das ist sicher ein nettes kleines Büchelchen, aber unverzichtbar soll es sein? Warum?


    Weil der Roman ein Meisterwerk ist, das es mit Fontanes und Th.Manns Romanen aufnehmen kann und daher einfach unter die top ten des 2o. Jahrhunderts gehört! Mit dem Prädikat “nettes kleines Büchelchen“ signalisierst du, dass du es gelesen und dir ein Urteil gebildet hast. Ich erspare mir daher jedwede Überzeugungsarbeit und resigniere mit Goethe: Wer’s nicht fühlt, der wird es nicht erjagen. :zwinker:


    Aber vielleicht überzeugt dich ja die Rezension aus der Zeit anlässlich der Neuauflage des Romans, die ich gerade ergoogelt habe. Die letzten Sätze passen einfach wunderbar zu deinem „netten kleinen Büchelchen“ und deiner Frage, warum es für den Kanon un-ver-zicht-bar ist:


    Zitat von Zeit- Rezension: Der ist ja besser als Fontane

    Von wegen Impressionismus, von wegen Fin de Siècle. Wir müssen den Kanon neu justieren. Wer solche Wellen schlug, war ein Riese.